Wenige Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden derart als Vertreter der Avantgarde angesehen wie Michael Gielen, geboren am 20. Juli 1927 in Dresden. Kurz nach Kriegsausbruch, 1940, musste seine Familie emigrieren und ging nach Argentinien, war sein Vater Josef Gielen, ein bedeutender österreichischer Burgschauspieler und Theaterregisseur, doch mit einer jüdischen Schauspielerin, Rosa Steuermann, verheiratet. Im Exil wurde Gielens musikalische Ader stark gefördert; er verkehrte dort mit solch bedeutenden Persönlichkeiten wie den Dirigenten Fritz Busch und Erich Kleiber und wurde von der Zweiten Wiener Schule beeinflusst. Die lebenslange Liebe zur Musik von Schönberg, Webern und Berg wird nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein. In Buenos Aires traf Gielen später auch auf Wilhelm Furtwängler, der einen völlig anderen Dirigententypus, ganz dem späten 19. Jahrhundert verhaftet, repräsentierte. Nach seiner Rückkehr nach Europa im Jahre 1950 arbeitete er zunächst an der Wiener Staatsoper unter Krauss, Böhm und Karajan (erstes Dirigat an der Staatsoper 1954), bevor er ab 1960 vier Jahre lang als Chefdirigent der Königlichen Oper in Stockholm amtierte (Zusammenarbeit mit Ingmar Bergman). Zwischen 1969 und 1971 leitete Gielen das Orchestre National de Belgique in Brüssel und zwischen 1973 und 1975 die Niederländische Oper in Amsterdam. Als besonders bedeutend sollte sich die Zusammenarbeit Gielens mit dem Südfunk-Sinfonieorchester ab 1964, mit dem Sinfonieorchester des Saarländischen Rundfunks ab 1966 sowie mit dem Südwestfunk-Orchester ab 1967 erweisen. 1965 dirigierte er die Uraufführung der bis dato als unaufführbar gegoltenen Oper Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann. Gielens erste Schallplattenproduktion datiert bereits in das Jahr 1952. Hauptsächlich für verschiedene Rundfunkanstalten folgten zahllose weitere Einspielungen im Verlaufe der nächsten Jahrzehnte. Unter seiner Führung als Generalmusikdirektor (1977-1987) wurde die Oper Frankfurt zu einem der wichtigsten Opernhäuser in ganz Europa, die keine Berührungsängste zum sog. modernen Regietheater verspürte (Zusammenarbeit mit Operndirektor Klaus Zehelein und Regisseuren wie Ruth Berghaus und Hans Neuenfels). In seiner Frankfurter Zeit dirigierte er zudem die Museumskonzerte. Seinen internationalen Ruf festigte Gielen während seiner Chefdirigententätigkeit beim BBC Symphony Orchestra in London (1978-1981) sowie beim Cincinnati Symphony Orchestra in Ohio (1980-1986). Seine in der Rückschau wohl prägendste Amtszeit als Orchesterleiter absolvierte Gielen beim SWF-Sinfonieorchester in Baden-Baden, dem er ab 1986 als Chefdirigent vorstand und nach seinem Rücktritt 1999 noch bis 2014 als ständiger Gastdirigent verbunden war. 2002 ernannte ihn das seit 1996 als SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg firmierende Rundfunkorchester zu seinem Ehrendirigenten. Eine enge Verbindung pflegte er zudem zum Konzerthausorchester Berlin sowie zur Staatskapelle Berlin. Bei all diesen Klangkörpern versuchte er das Klangverständnis für die Musik des 20. Jahrhunderts zu befördern. Gielens Repertoire war mannigfaltig und umfasste vom Barock bis zur Moderne zahllose Strömungen. Neben der Neuen Wiener Schule waren es gerade die großen Sinfoniker Beethoven, Bruckner und Mahler, denen er sich mit Nachdruck widmete und von der Kritik mit Lob überhäufte Gesamtaufnahmen vorlegte. Überhaupt lag Gielen an der Verbindung des scheinbar Unvereinbaren (etwa die Kombination von Beethovens Neunter mit Schönbergs Überlebendem aus Warschau). Im Alter wurden seine früher flüssigen Tempi ungewohnt breit, seine Lesarten fast „klemperesk“. Diese Widersprüchlichkeit zeigte sich u. a. auch darin, dass Gielen bis zuletzt kurioserweise auf längst als überholt geltende spätromantische Orchesterretuschen bei Schumann setzte. Daneben betätigte er sich bereits seit 1946 als Komponist. Nach seinem gesundheitlich bedingten Rückzug vom Podium im Februar 2014 (letztes Dirigat beim NDR-Sinfonieorchester) wurde es ruhig um Gielen, der am 8. März 2019 im 92. Lebensjahr stehend in seinem Haus am Mondsee im Salzkammergut an den Folgen einer Lungenentzündung starb (Foto Wikipedia/Wikiwand). Daniel Hauser