Archiv für den Monat: Januar 2025

Bezaubernd

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Zeitlebens der Gunst der Herrscher auf Königs-, Kaiser- oder Zarenthronen erfreuen konnte sich der italienische Komponist Giovanni Piasiello, und so nimmt es nicht Wunder, dass die Uraufführung seiner opera buffa La finta amanta vor Katharina II. und Kaiser Joseph bei deren Treffen im heutigen Weißrussland stattfand. Den Herrschern gefiel das Werk, den anderen Zeitgenossen ebenfalls, aber bald fiel es dem Vergessenwerden anheim. Mit einem kleinen Orchester und nur drei Sängern hatte der Komponist, als Nachfolger von Traetta an den Zarenhof berufen, den Tross der Zarin begleitet, aus deren Petersburger Regierungssitz er sich nur durch die Lüge von der Unverträglichkeit des russischen Klimas für seine Gattin wieder ins heimische Neapel retten konnte, wo er mehrfache Regierungswechsel, darunter die von Napoleons Bruder Josef zu seinem General und Schwager Murat und schließlich zurück zu den Habsburgern  unbeschadet überstand, ihm sogar Napoleon I. die Hinwendung zu den Feinden verzieh, dem er dies mit der Komposition von Proserpina für Paris 1803 vergalt. Paisiellos Barbiere di Siviglia erfreute sich größter Beliebtheit, ehe der Rossinis ihn im Todesjahr des aus Taranto Stammenden  von den Opernbühnen verdrängte.

Es geht um eine Opernfreunden recht vertraute Handlung, um den Versuch eines reichen, aber alten Mannes der tieferen Stimmlage, die Gunst eines jungen, armen Mädchens, das von einem ebensolchen, Tenor singenden Mann geliebt wird, dessen Neigung sie erwidert. Mit allerlei Schabernack und nach Überwindung einiger Hindernisse gelingt es den jungen Leuten, den Alten zu überlisten und einander und dazu noch eine lukrative Stellung zu bekommen. Dass die Geliebte bei diesem Vorhaben erst einmal als Schwester ausgegeben wird, ist auch nicht besonders neu.

Die nun vorliegende CD stammt bereits aus dem Jahr 2019, also vor Beginn des Kriegs in der Ukraine, und die Zusammenarbeit zwischen Italienern und Russen beruht wohl auch auf der Tatsache, dass sich die Partitur im Archiv des Mariinski-Theaters in Petersburg befindet. Der sehr um die Aufführung bemühte Dirigent und Musikwissenschaftler Stefano Parisse, der auch die Rezitative am Cembalo begleitet, tut sein Mögliches und hat mit dem Estrin Orchestra auch Musiker zur Verfügung, die für Frische  und Schwung , aber weniger für Charme und Esprit, die der Partitur innewohnen, sorgen können.  Der russische Sopran Elena Tsvetkova verfügt über ein leicht elegisches, schön anzuhörendes Timbre, ist mit ihrer lyrischen Stimme aber eher eine ernsthafte Camilla als eine vom Komponisten vorgesehene Camilletta, d.h. ihr fehlt trotz beachtlicher Bemühungen das letzte Quäntchen von einem die Krallen ausfahrenden Kätzchen, am ehesten noch wahrnehmbar in „Quanti sciocchi amanti“ im zweiten Akt. Eine vorbildliche Textverständlichkeit zeichnet den Tenor Daniele De Prosperi aus, es fehlt aber jeder tenorale Schmelz, ein Charaktertenor müht sich redlich, erreicht auch die Höhen, aber auch diese können dem Ohr nicht schmeicheln. Über die notwendige Geläufigkeit für den Don Girone verfügt der Bariton Antoine Bernheim, weder verwandt noch verschwägert mit dem Tenor, die Stimme ist recht dunkel, stellenweise klingt sie auch nasal, und insgesamt vermisst man bei den vokalen Leistungen den funkelnden Humor, den die Oper durchaus zu bieten hat (Naxos 8.660563-64). Ingrid Wanja

Aus den Salons Balzacs und Montparnasse

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Der Titel liest sich einfach zu gut, als dass der Bariton Arnaud Marzorati und sein Gesangs- und Instrumentalensemble Les Lunaisiens darauf verzichten mochten: La Comédie Humaine. Chansons Balzaciennes (CD Alpha Classics 1105). Dabei handelt es sich schlichtweg um Lieder, die in der Epoche zwischen Ende der napoleonischen Ära und Proklamation des Zweiten Kaiserreichs entstanden und in den Salons der Kurtisanen oder einfältigen Emporkömmlinge in den Romanen Balzacs erklungen sein könnten. Die 16 Chansons sind alles andere als eine menschliche Komödie in Liedern, denn die Bezüge zu einzelnen Romanen und Figuren erscheinen mir doch sehr hergeholt. Aber das soll nicht stören. Mit Ausnahme des geschätzten Tenors Cyrille Dubois nähern sich die wenig bekannten Interpreten wie die Mezzosopranistin Lucile Richardot, der Bariton Arnaud Marzorati und der Bass Jérôme Varnier einem guten halben Dutzend noch weniger bekannter Komponisten. Einzig Daniel-Francois Esprit Auber ragt heraus. Sein Chanson „Amour et Folie“ singt Lucile Richardot mit herber, nicht unbedingt gefälliger Stimme und deftigem Zugriff, die auch „Madame Barbe-Bleue“ von Alexandre Pierre Joseph Doche (1801-49) und Joseph-Philippe Simons (1803-91) kennzeichnen. Umrahmt wird das Programm von zwei Liedern des Marc-Antoine-Madeleine Désaugiers (1772-1827); es handelt es sich um zwei hübsche Miniaturen, deren sprechende Titel eine hinreichende Beschreibung der idyllischen Szenen sind, wie sie durchaus bei Balzac vorkommen könnten: „Tableau de Paris à cinq heures du matin“ und „Tableau de Paris à cinq heures du soir“. Die vier Sänger haben die kurzen Strophen unter sich aufgeteilt, so dass die Bilder wie kleine Liederspiele wirken. Einige der Lieder sind für zwei oder mehr Stimmen konzipiert, darunter schlichte Reihengesänge von Pierre Dupont (1821-70) und Émile Debraux (1796-1831). Cyrille Dubois singt Duponts größten Erfolg „Les Louis d’Or“ und „Les quatre âges historique“ von Pierre-Jean de Béranger (1780-1857), stets mit dem hauchzart-süßen und geschmeidigen Ton, den man an ihm liebt. Vanier macht mit knorrigem Bass Bérangers „Le corps et l’ame“ zu einem kleinen Kabinettstück und widmet sich in „L’Or“, ebenfalls von Béranger, dem Stoff, den Balzac in seinen Pariser Romanen geradezu mythisch überhöht, denn „nach Golde drängt, am Golde hängt“ alles und alle. Soigniert singt Mazorati das schlicht „Chanson“ genannte Lied von Eugène-François Vidocq (1775-1857). Sehr apart das Stück für drei Männerstimmen „Ne poursuivons plus la gloire“ von Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826). Ausgesprochen ausdrucksstark die Begleitung durch Christian Laborie, Christophe Tellart, Patrick Wibart, Ètienne Galletier und Daniel Isoir.

Mit der nächsten Veröffentlichung französischer Chansons machen wir einen Sprung aus den Salons der Pariser Innenstadt hinauf in die Künstlerszene des Montparnasse, wo Kiki de Montparnasse als Sängerin und Schauspielerin, vor allem aber als Muse und Königin residierte; Königin von Montparnasse stand auch auf ihrem Grabstein. Kiki à Paris heißt das in Mons aufgenommene Programm (Cyprès 8623), mit dem die Mezzosopranistin Albane Carrère, die Geigerin Elsa de Lacerda und die Gitarristin Magali Rischette an Jane Birkin, Juliette und die Piaf, an France Gall, Dalida und Barbara erinnern. Dazwischen eingestreut – Kiki lebte von 1901 bis 1953 – Musik von Debussy (Trois chansons de Bilitis), Reynaldo Hahn, Poulenc und Lili Boulanger. Toll ist das Cover, das Rays berühmtes Foto mit Kikis Rückenansicht in Form eines Cellos zeigt: Le violon d‘Ingres: 1921 wurde Alice Ernestine Prin das bevorzugte Modell des amerikanischen Fotokünstlers und legte sich den Künstlernamen Kiki zu. Das Programm ist für irgendeine der Künstlerlokalitäten, die es auf dem Montparnasse noch geben muss, oder als Nachprogramm auf einem der Festivals, bei denen Carrère auftrat (2024 als Kate Pinkerton in Aix), sicherlich ganz hübsch ausgedacht, aber auf der CD haben der gleichförmige Ausdruck und das monoton damenhafte Timbre etwas durchaus Einlullendes. Die Chansons klingen zu einförmig, wenngleich Carrères Absicht zu spüren ist, den Liedern sowie den Arrangements von Jean-Luc Fafchamps etwas Eigenes einzuhauchen und ihre Opernerfahrung einzubringen, wie am dramatischen Affekt in Juliette Noureddins „Tueuses“ oder der keuschen Höhe in Piafs „Mon Dieu“ erkennbar ist. Die sanfte Reinheit der Stimme nehmen Dalidas „Mourir sur scène“ und Galls „Résiste“ viel von ihrem aufgeregten Pathos. Aufregend die Begleitung. Etwas für Liebhaber (18. 01. 24). Rolf Fath

Audiovisuelle Einsichten

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Wilhelm Furtwängler, einer der wichtigsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, starb am 30. November 1954 in Ebersteinburg (Baden-Baden). Trotz eines anhaltenden Interesses an seinen Interpretationen und Aufnahmen blieb sein 70. Todestag im öffentlichen Bewusstsein weitestgehend unbeachtet. Den bedeutenden künstlerischen Institutionen, mit denen Furtwängler gearbeitet hatte – allen voran die Berliner Philharmoniker, aber auch die Staatsoper Unter den Linden, das Gewandhausorchester Leipzig, die Wiener Philharmoniker, das Philharmonia Orchestra London oder die Salzburger Festspiele – war die Erinnerung an Furtwängler anlässlich seines 70. Todestags 2024 keine Erwähnung oder Würdigung wert. Sicher kann man darüber streiten, ob ausgerechnet der 70. Todestag ein besonderes „Jubiläum“ ist. Doch anderseits werden auch alle möglichen „krummen“ Geburts- oder Todestage von Musikern beachtet. Es lohnt sich jedenfalls der Frage nachzugehen, was uns Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tode noch zu sagen hat, warum seine Interpretationen immer noch und immer wieder faszinieren und sogar jüngere Hörer anziehen, wie zum Beispiel das Interesse des Publikums in Japan, Korea und sogar China zeigt.

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Aufmerksamen Beobachtern des Musiklebens dürfte nicht entgangen sein, dass es entgegen der vorherrschenden Tendenz doch einige Furtwängler-Würdigungen gab: Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte am 29. November, ein wenig versteckt, nicht in ihrer Printausgabe, sondern ausschließlich digital, einen lesenswerten Zweispalter von Wolfgang Schreiber. Der Geiger Daniel Hope erinnerte am 1. Dezember im WDR anderthalb Stunden lang in Wort und Ton an Furtwängler – auf eine Art, die auch Nicht-Experten diesen Ausnahmekünstler nahebringen konnte. Der Musikjournalist Kai Luehrs-Kaiser widmete sich in seiner Sendung „Meine Musik“ am 3. Dezember 2024 im rbb (radio 3) ausführlich Furtwängler – mit markanten Beispielen von dessen Interpretationskunst. Beide Sendungen sind noch eine Weile nachzuhören in der ARD Mediathek. Schließlich erinnerte der englische Musikjournalist Norman Lebrecht – der zwar immer wieder scharf Furtwänglers Haltung und Rolle während der NS-Zeit kritisiert hat, gleichzeitig aber keine Zweifel daran ließ, für wie bedeutend er den Dirigenten hält – auf seiner Website „Slipped Disc“ mit mehreren Beiträgen an Furtwängler (mit hilfreichen Links zu Texten oder Bild-Ton-Dokumenten). Und da erfuhr man denn auch, wie an Furtwängler in China erinnert wurde.

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Das Berliner Philharmonische Orchester unter Leitung seines Dirigenten, Dr. W. Furtwängler, bei einem Werkpausenkonzert in einer Halle der AEG Werke in Berlin, das von der sogenannten KdF („Kraft durch Freude“) im nationalsozialistischen Deutschland organisiert wurde. 26.2.1942 L 0607/504N. Bundesarchiv, Bild 183-L0607-504 / CC-BY-SA 3.0

Die verdienstvolle deutsche Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft (WFG), die das Ziel verfolgt, die künstlerische Leistung des Dirigenten, Komponisten und Schriftstellers Wilhelm Furtwängler lebendig zu erhalten, trug auf besondere Weise zur Erinnerung und Vergegenwärtigung des Künstlers bei. Der schon erwähnte Musikautor Wolfgang Schreiber hielt Mitte September in einer Matinee in der Berliner Universität der Künste einen Vortrag zur Bedeutung und Aktualität Furtwänglers: „Was können wir von Wilhelm Furtwängler 70 Jahre nach seinem Tod lernen?“ (nachzulesen hier).

Fast genau zum Todestag des Dirigenten erschien dann die vorliegende Box „Insight – Wilhelm Furtwängler in audiovisual documents“. Sie entstand in enger Zusammenarbeit zwischen musicas.de Hamburg und der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft. Die Anregung kam von Mitgliedern der WFG und japanischen Furtwängler-Freunden, die vorschlugen, das vorliegende bzw. zugängliche audiovisuelle Material über den berühmten Dirigenten zusammenzutragen und in möglichst besserer Form zu veröffentlichen.

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Die Alte Berliner Philharmonie in der Bernburger Straße, hier während eines Furtwängler-Konzertes (Rudolf Kessler Berlin Phil Media GmbH)

Die Box enthält drei Blu-Ray-Discs. Auf BD 1 finden sich Ausschnitte von Proben, Konzerten und Ereignissen aus den Jahren 1940 bis 1963. Das sind zum einen kurze bis kürzeste Videos: z. B. der Ausschnitt eines Konzerts, das die Berliner Philharmoniker im November 1940 im Deutschen Opernhaus in Prag gaben, Schlusstakte der Probe des Brahms’schen Violinkonzertes mit dem Solisten Yehudi Menuhin (Salzburg 1947) und, sehr temperamentvoll, die Probe des Endes von Brahms‘ Vierter Symphonie in London (1948) oder der Beginn einer Probe des „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss in Berlin (1950). Zum anderen gibt es Ausschnitte mittlerer Länge. Für Konzerte, die in den Jahren 1939 bis 1945 stattfanden und natürlich auch der Propaganda der Nazis dienten, betrieb man schon einen größeren Aufwand, bis hin zur effektvollen Inszenierung auch des Publikums. Das zeigt das „Werkpausenkonzert“ in der AEG-Fabrik in Berlin-Wedding im Februar 1942 mit der Ouvertüre zu Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg und die Aufführung von Beethovens Neunter in einem Festakt am Vorabend von Hitlers Geburtstag im April 1942 (an dessen Ende ein sichtlich indignierter Wilhelm Furtwängler dem Propagandaminister Joseph Goebbels die Hand reichen muß!). Vollständig sind allein die Aufführungen der Meistersinger-Ouvertüre und des Till Eulenspiegel. Weiteres filmisches Material war nicht aufzufinden und wird sich wohl auch nicht noch finden lassen.

BD 2 enthält Furtwängler-Erinnerungen von Zeitgenossen, die ihn selbst erlebt oder mit ihm gearbeitet haben – dem Dirigenten Claudio Abbado, einem seiner Nachfolger in Berlin (der Furtwängler in Wien erlebte und ihn für den bedeutenderen Dirigenten als seinen Landsmann Toscanini hielt!), dem auch komponierenden Philosophen und Soziologen Theodor Adorno (der als junger Mann schon überaus von Furtwängler begeistert war), dem Geiger Yehudi Menuhin (der von Furtwängler schwärmt und vor allem dessen Einfühlungs­vermögen und Kunst zu begleiten lobt), dem Komponisten und langjährigen Solo-Paukisten der Berliner Philharmoniker Werner Thärichen (der 1987 das sehr lesens- und bedenkenswerte Buch „Paukenschläge – Furtwängler oder Karajan?“ veröffentlichte) sowie anderen. Alle fremdsprachigen Beiträge sind deutsch untertitelt. 

Auf BD 3 ist eine Rarität veröffentlicht: die ungewöhnliche Filmdokumentation „Wilhelm Furtwängler“ vom Neffen des Dirigenten Florian Furtwängler aus dem Jahre 1968.

Das Bild- und Tonmaterial wurde aufwendig restauriert und auf den neuesten technischen Stand gebracht. Die Box ist für den internationalen Markt konzipiert. Deshalb kommt sie in Deutsch und Englisch heraus, für den japanischen Markt gibt es einen Einleger mit den Texten in japanischer Sprache.

Wilhelm Furtwängler auf Tournee/Archiv bphneu

Die Edition wurde möglich durch das Engagement der WFG und ihres Vorsitzenden Helge Grünewald. Der Musikpublizist hat dokumentarisches Material aus den Archiven der Furtwängler-Gesellschaft und der Berliner Philharmoniker, seiner umfangreichen eigenen Sammlung sowie privaten Quellen erschließen können. Er ist auch Autor und Redakteur des reichhaltigen, 123-seitigen, zweisprachigen Begleitbuchs. Der Textteil wird illustriert mit umfangreichem, teilweise auch neuem, bisher noch unveröffentlichtem Fotomaterial.

Statt eines Vorworts liest man kluge, bedenkenswerte und Furtwängler und seine interpretatorischen Eigenheiten sehr gut charakterisierende Bemerkungen von Daniel Barenboim unter dem Titel „Warum uns Furtwängler bis heute bewegt“, ursprünglich zu Furtwänglers 60. Todestag, dem 30. November 2014 verfasst. Barenboim hatte Furtwängler noch als Jugendlicher in Salzburg erlebt, er wurde ihm sogar vorgestellt. Furtwängler äußerte sich sehr positiv über das musikalische „Wunderkind“. Daniel Barenboim ist – wie der jüngere Christian Thielemann – einer der wenigen heurigen Dirigenten, die in ihren Interpretationen an Furtwängler anknüpfen.

Man wünscht dieser auch graphisch ansprechend gestalteten Veröffentlichung, eine große Verbreitung. Editionen wie diese wünscht man sich öfter, sie sind jedoch eine absolute Rarität auf dem Markt der Ton- und auch Bildtonträger. Musicas.de, die produzierende Firma und ihr rühriger Inhaber Markus Steffen, haben sich bereits mit ähnlichen Produkten einen Namen gemacht – zum Beispiel mit drei Otto-Klemperer-Editionen. Wenn man sich auf dem Markt umsieht, findet man zwar im immer wieder in dem doch als aussterbend bezeichneten CD-Bereich Sammeleditionen, die Solisten, Dirigenten, Orchestern gewidmet sind, häufig aber in liebloser „Konfektionierung“ und fragwürdigem Mastering erscheinen. Es geht dann zumeist um die x-te Wiederverwertung von vorhandenem (historischem) Material.

In Zusammenstellung, Aufmachung, Gestaltung ist die vorliegende Edition gewiss ein Ausnahmeprodukt. Sie bietet nicht nur den Blick auf den Interpreten Furtwängler, sondern auch Einblicke in sein Denken und Arbeiten. Nicht zuletzt erfährt man, dass Furtwängler zu seiner Zeit ein „Star“ war, aber ohne Star-Allüren auskam. Peter Heissler

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Insight – Wilhelm Furtwängler in historischen audiovisuellen Dokumenten (Box mit 3 Blu-Ray Discs, Begleitbuch, gebunden, 123 Seiten mit zahlreichen Abbildungen,; Texte Deutsch und Englisch; Musicas.de GmbH, Hamburg in Zusammenarbeit mit der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft, Berlin; Gesamtdauer 275 Minuten, Sound Format PCM Stereo; ISBN 4 260213 919209/ Abbildung oben: Ausschnitt aus dem ARD-Film Klassik unterm Hakenkreuz: Der Maestro und die Cellistin von Ausschwitz.

Jules Massenets „Hérodiade“

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Nach längerer Zeit gibt es zur Jahreswende 2024/25 eine Massenet-Renaissance, wie nun eine neue Hérodiade bei Naxos und eine Grisélidis beim Palazzetto Bru Zane (der dem Vernehmen nach ebenfalls eine Hérodiade plante, allerdings auch weiteres von Saint-Saens in der Pipeline hat). Angesichts der fabelhaften Grisélidis möchte man nicht murren, aber es gibt so viele andere unbekannte Werke des französischen Repertoires, dass man bei bekannten Titeln wie Hérodiade doch angesichts der CD-Konkurrenz etwas eingeschränkter urteilt, selbst wenn das Naxos-Ergebnis eine Berliner Sternstunde der Deutschen Oper festhält (in der Fassung von 1884, wie es dem Programmheft zu entnehmen war und nun auf der CD-Hülle zu lesen ist). Zu besagter Konkurrenz dann nachstehend mehr, auch zu den Fassungen, denn da herrscht Verwirrung, auch bei der Quellenlage. G. H.

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Massenets „Hérodiade“: Clementine Margaine in Berlin 2023/Foto Bettina Stöß

Nun also die neue Naxos-Aufnahme: Konzertante Opernaufführungen gehören zum Standardprogramm der Deutschen Oper Berlin, und zumeist zählen sie zu den Höhepunkten einer Saison. So auch am im Juni 2023, als das Publikum Jules Massenets  Hérodiade in einer Maßstab setzenden Wiedergabe unter Enrique Mazzola erleben konnte und frenetisch feierte und wie sie nun (eigens aufgenommen und ohne Beifall) bei Naxos auf der CD zu erleben ist. Der italienische Dirigent ist Spezialist für das ausgefallene Repertoire und damit regelmäßig zu Gast an der Deutschen Oper. Gespielt wurde die vieraktige Fassung Werkes „von 1884“, das 1881 in Brüssel seine Uraufführung erlebte. Mazzola breitet die vielfältige Musik in aller Pracht und mit der gebotenen schwülen Sinnlichkeit aus, scheut weder den großen schwelgerischen Rausch noch die exzessiven Klangblöcke. Das reiche Spektrum an Farben und Stimmungen kommt unter seiner Leitung zu faszinierender Wirkung – von den Préludes und Ballets bis zu den dramatischen Tableaus und packenden Finali. Der Chor und Extra-Chor der Deutschen Oper (Einstudierung: Jeremy Bines) haben mit differenziertem Gesang großen Anteil am fulminanten Gesamteindruck.

Hervorragend ist die Besetzung der fordernden Solopartien, angeführt von Clémentine Margaine in der Titelrolle mit einem Mezzo von dunkler Glut, satter Tiefe und umwerfendem Aplomb in den Spitzentönen. Furios in ihrem rasenden Zorn auf den Propheten Jean, von dem sie sich beleidigt glaubt, ist sie in der Szene „C’est sa tête que je réclame!“ im existentiellen Ausnahmezustand. Zudem wird sie gequält von der Eifersucht auf ihre Tochter Salomé, die sich in Jean verliebt hat, aber selbst von Hérode umschwärmt und begehrt wird. Die australische Nicole Car gibt der zweiten weiblichen Hauptrolle starke Kontur mit einer ausgeglichenen, perfekt geführten Stimme ohne Brüche und mit reichen Valeurs. Gleich in ihrem Auftritt kann sie bei „Il est doux, il est bon“ mit flirrenden Tönen ihre Zuneigung zu dem Propheten bekunden und am Ende des 1. Aktes im Duett mit ihm die gesteigerte Leidenschaft ausdrücken. Mit Matthew Polenzani steht eine zutiefst glaubwürdige Besetzung für die Tenorpartie zur Verfügung. Nach Mozart-Rollen und dem Belcanto-Repertoire hat sich der Amerikaner nun die Zwischenfach-Partien zu eigen gemacht. In den französischen ist er besonders erfolgreich, was auch diese Interpretation beweist, welche die derzeit auf Dokumenten erhältlichen stilistisch oft überragt. Mit exquisit geführter Stimme, dem Einsatz der kultivierten voix mixte und glanzvollen Spitzentönen erfüllt er alle Ansprüche der Partie in blendender Manier. Auch Etienne Dupuis ist ein renommierter Vertreter für das französische Fach. Sein Hérode ist prägnant differenziert zwischen dem schwärmerischen Verlangen nach Salomé („Reviens, je te veux“), der verzehrenden Leidenschaft für diese Frau („Oui, je n’aime que toi!“) und schließlich dem Hass auf sie, weil sie sich verweigert und ihre Liebe zu Jean offenbart („Je châtierai tes funestes amours!“). Glanzstück der Partie ist seine fiebrige Vision („Vision fugitive“), nachdem er den von einer jungen Babylonierin (Sua Jo mit apartem Sopran)  gereichten Liebestrank eingenommen hat. Der Kanadier kann sich hier von einer träumerischen Stimmung bis zur Ekstase steigern und bewältigt diese Herausforderung mit Glanz. Auch die anderen Partien sind kompetent besetzt. Der Bassbariton Marko Mimica gibt den Astrologen Phanuel mit Autorität und profunder Tiefe, Dean Murphy den römischen Prokonsul Vitellius mit resonanten Tönen und Kyle Miller den Grand prêtre mit jugendlicher, auffallend schöner Stimme. Bernd Hoppe

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Massenets „Hérodiade“/Illustration zur Brüsseler Aufführung in der italienischen Fassung 1881/BNF Gallica

Dazu doch ein Wort: Es drängt sich bei der Ankündigung Vieraktfassung von 1884“ doch ein fragendes Runzeln auf die Stirn, denn die lakonische Auskunft der Musikabteilung der Deutschen Oper zu ihrem Konzert machte stutzig: „Wir haben die einzige gängige, überlieferte Fassung verwendet: Das ist die 4-aktige von 1884.“ Aber es gibt keine Vierakt-Fassung von 1884 in Französisch! In Paris wurde in diesem Jahr Hérodiade als Erodiade in Italienisch aufgeführt! In der Scala-Originalfassung von 1882.

Und nun geht´s los. Die Oper wurde am 19. Dezember 1881 im Théâtre de la Monnaie (Brüssel) uraufgeführt (in einer 3-aktigen Version in italienischer!!! Sprache). Die endgültige Fassung gab es am 2. Oktober 1903 im Théâtre de la Gaîté-Lyrique (Paris), in Französisch nun endlich. Das ganze nach Hérodias von Gustave Flaubert.

Massenets „Hérodiade“: Foto der Aufführung 190? am Pariser Théâtre de la Gaiété/BNF Gallica

Der antike Stoff von Flauberts Geschichte, der tatsächliche religiöse Ereignisse in einen Rahmen orientalischer Anständigkeit stellte, lieferte Material, das sich ideal für die Komposition einer großen Oper eignete. Obwohl Salomé ihren berühmten Tanz der sieben Schleier nicht aufführt (wie später in Mariottes und Strauss‘ Opern), nimmt sie in dieser Oper eine zentrale Stellung ein. Sie ist leidenschaftlich in Jean-Baptiste verliebt und bereit, mit ihm zu sterben, während Hérode außer sich vor Eifersucht den Befehl gibt, den Propheten zu enthaupten.

Obwohl die Handlung kurz gefasst ist, wurde sie mehrfach überarbeitet, während das Werk gleichzeitig für die Pariser Oper (in französischer Sprache) und die Mailänder Scala (in italienischer Sprache) vorgesehen war. Angelo Zanardinis (ein bekannter italienischer Librettist, der auch für Verdi arbeitete ) ursprüngliche Handlung wurde von Claude Milliet (Paris) mit Unterstützung von dem Verleger Georges Hartmann überarbeitet, damit der Komponist das original italienische Libretto auf Französisch bearbeiten konnte. Massenet überwachte die dramatische Konsistenz des Werkes und stärkte seine Einheit durch die Verwendung häufig wiederkehrender Motive. Die klare Struktur der Partitur, die funkelnde, raffinierte Musik, die großartigen Chorszenen, die stimmlichen und dramatischen Anforderungen der vier Hauptrollen waren alles Elemente, die dem ursprünglichen Auftrag entsprachen. Obwohl Massenet mit diesem Werk den Höhepunkt seines Schaffens erreicht hatte, wurde es durch ein überarbeitetes Libretto untergraben, das der Titelrolle nach und nach die Substanz entzogen hatte.

Massenets „Hérodiade“: Emma Calvé als Salomé in Paris 1903/Wikipedia

Der Verlag Ricordi zog sein Angebot zurück (Hartmann übernahm es) und der Pariser Intendant Vaucorbeil lehnte das Werk in der vorliegenden Form ab, sodass Hérodiade als Erodiade statt in Mailand oder Paris in Brüssel uraufgeführt wurde. Massenet überarbeitete das Gesamtwerk viele Male. Die italienische Premiere am 23. Februar 1882 an der Mailänder Scala in italienisch („,I ballabili sono composti dal signor Cesare Coppini“) statt, die französische Premiere fand am 29. März 1883 in Nantes statt (in 3 Akten, so die Info vom Palazzetto Bru Zane) und die 4-Akt-Version (in italienisch!!!) dann am 1. Februar 1884 am Théâtre-Italien in Paris und (erneut in Italienisch) an der Scala 1886. Erst 1903 bzw. 1911 legte man (wer? Der Verlag? Massenet?) sich auf eine endgültige französische Vier-Akt-Version fest (die nun wohl als „gängige Fassung“ gilt).

Das ist ebenso überraschend wie kaum bekannt. Leider hat der Verlag Hartmann bislang nicht auf Fragen geantwortet, und da bleibt man eben bei der „gängigen Fassung“ in vier Akten und eben Französisch (mit Ausweitung der Akte zwei und drei auf einen vierten). Die ursprüngliche Struktur der Oper bestand aus drei Akten und fünf Tableaus, wobei die heutigen ersten Szenen des zweiten und dritten Aktes später hinzugefügt wurden. Die letzte Szene des zweiten Aktes war ursprünglich die letzte des ersten Aktes, wobei Salomés Arie in Akt 3, Szene 2 am Anfang von Akt 2 steht und der letzte Akt in beiden Versionen identisch aufgebaut ist. Diese zusätzlichen Szenen tragen nicht gerade zur Handlung bei, sondern erschweren eher das Verständnis, da in beiden Szenen eigentlich nichts passiert. Auch musikalisch bringen sie nicht viel, da die beste Musik in den ursprünglichen fünf Tableaus konzentriert ist.  Soweit die Sachlage.

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Kaum etwas erklingt zum ersten Male, und im Falle der Hérodiade schon gar nicht. Abgesehen von den unendlich vielen antiken und modernen Einzelstücken für Sopran, Mezzo und Bariton und den doch recht reichlichen Aufführungen namentlich im francophonen Raum (Liége, Lille, Lyon, Marseille etc.) gibt es auch einige CD-Dokumente von Rang. Die Standardaufnahme (von 1963) war jahrzehntelang der große Querschnitt bei Pathé-EMI/Warner mit Régine Crespin, Rita Gorr (brrrr), Albert Lance und Michel Dens unter Georges Prêtre, bis auf die zu placide Gorr top besetzt und kaum zu überbieten.

Aber es gibt weiteres. Vom Niederländischen Rundfunk kommt ein Mitschnitt bei Malibran mit der etwas stumpfen Andréa Guiot als Salomé, dazu sehr tapfer Mimi Arden als ihre Mutter (nur Wallonen werden jubeln), dazu recht marzialisch Guy Fouché als Jean und sonor Charles Cambon als etwas rauher Hérode  sowie Germain Ghislain (qui est?) als Phanuél (youtube hat manches von ihm, eine interessante Stimme), Jos Burcksen und Cornelius Kalkman. Albert Wolff dirigiert 1957. Der Sound ist gutes Radio-Mono (auch bei youtube)

Aus La douce France erklingt weiteres, denn trotz nicht ganz so glamouröser Technik ist der Radiomitschnitt (CQR Èditions) von 1963 unter Altmeister Pierre Delvaux mit der leuchtenden Suzanne Sarrocca, der auftrumpfenden Lucienne Delvaux und natürlich mit meiner All-Time-Liebe Robert Massard (zudem mit Paul Finel und Jacques Mars) ziemlich das Beste, was ich kenne. Gleich danach kommt die dto. Radio France-Übernahme von 1985/6 mit der grandiosen Nadine Denize in der Titelrolle, dazu Ernest Blanc und dem weniger bekannten, aber strammen Jean Brazzi. Die kurzfristig für Régine Crespin eingesprungene Muriel Channes ist eben keine Crespin, aber sie schlägt sich mehr als tapfer. Und über Diktion brauchen wir auch hier nicht reden. David Lloyd-Jones dirigiert machtvoll in gutem Stereo (bei vielen Firmen, von MRF-LP ehemals zu Rodolphe bis INA Opera). Ein Konzert der American Opera Society von 1963 in der New Yorker Carnegie Hall bei Opera Depot hält eine Hérodiade mit Regine Crespin, Rita Gorr und Guy Chauvet unter Alain Lombard fest. Die angebliche Drei-Akt-Fassung aus Marseille/Saint Etienne von 2018 bei youtube entpuppt sich als vieraktig.

Die folgende „offizielle“ CBS/Sony-Aufnahme kann da gar nicht mithalten, trotz des Breitwandsounds live aus San Francisco 1995 unter Valery Gergiev, denn weder Renée Fleming noch Placido Domingo haben irgendetwas mit dem Werk zu tun, auch wenn sie es auf den Bühnen der Welt gesungen haben (gruselig ist sein Wiener Abend 1995 mit Agnes Baltsa in Erinnerung, der bei RCA als Live-Erlebnis festgehalten wurde). Dolora Zajic verwechselt die Hérodiade mit Azucena, Thomas Hampsons Hérode macht zwar seine lüsternen Absichten auf Salomé kaum glauben, aber er hat seine maniriert-grüblerischen Momente, Juan Pons gibt einen gutgelaunten Phanuel ohne Profil. Touts pas trop francais. Auch bei der EMI/Warner-Aufnahme mit Cheryl Studer und Ben Heppner unter Michel Plasson kommt keine Freude auf, trotz José van Dam und Nadine Denize (1995 nicht mehr in so guter Form und vielleicht vom Mikro nicht begünstigt): Die beiden amerikanischen Kräfte torpedieren die francophonen. Irgendwie ist das wieder so eine Vertragsgeschichte, deren Teile nicht zusammen passen, trotz eben…

Gruselig wird´s dann bei Gala mit Grace Bumbry und Leona Mitchel in Nizza 1987, was Georges Prêtre verantwortet. Guilbert Py bölkt sich mal wieder durch den Jean, und Jacques Mars klingt desinteressiert (Nizza war berühmt für gute Gagen). Ach ja, diese Franzosen, spätestens ab den Achtzigern wurd´ es eben dünn mit großen einheimischen Stimmen. In andere Abgründe steigt man in Barcelona 1984, wo Montserrat Caballé Verführung vorgibt und Dunja Vejzovic sich hoffnungslos mit der Titelrolle  überfordert. „Monzis“ Fans wird´s nicht rühren, und José Carréras ist immer ein Listen-in wert, aber dies ist keine Tenoroper (Legato und andere).

Insofern ist die neue Aufnahme bei Naxos ein absoluter Gewinn, denn Etienne Dupuis (mir persönlich zu weich und zu hell für den Hérode) und die fulminante Clémentine Margaine in der Titelpartie garantieren neben den übrigen für einen weitgehend idiomatisch-französischen Abend der Extraklasse, auch wenn das Ballett mal wieder (bis auf eine kurze Nummer) fehlt (das findet sich auf einer Naxos Massenet-Opern-Ballett-CD 8.573123/ Foto oben Emma Calvé als Salomé) . Geerd Heinsen

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Und noch eine …

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Noch eine Bruckner-Sinfonie bei hänssler PROFIL – dynamische Klangsteigerungen in Sinfonie Nr. 3: Inzwischen dürfte sich herumgesprochen haben, dass Gerd Schaller ein ausgewiesener Bruckner-Spezialist ist. Die neueste Aufnahme der 3. Sinfonie von Anton Bruckner erklingt in einer Live-Aufnahme vom April 2024 aus dem Regentenbau Bad Kissingen. Die von Schaller gegründete Philharmonie Festiva lässt hier unter seiner souveränen Leitung ihre in allen Instrumentengruppen herausragenden Qualitäten hören. Dem umfassend informativen Aufsatz Schallers im Beiheft kann man entnehmen, dass Bruckner keine andere Sinfonie so stark wie die 4. Sinfonie bis zur Endfassung 1888/89 verändert hat. So stammt die heute meist gewählte und auf der CD zu hörende Fassung aus dem Jahr 1877, bei der im Vergleich zur Erstfassung 1873 sofort deutlich wird, dass sie erheblich kürzer ausfällt, nämlich um eine gute Viertelstunde.

In der gelungenen Einspielung gefallen die besonders in den Ecksätzen immer wieder ausgekosteten dynamischen Steigerungen ebenso wie die typischen abrupt gegeneinander gestellten Klangblöcke. Im Adagio, das jetzt mit Andante. Bewegt, feierlich, quasi Adagio bezeichnet wird, fallen die vielen langen Melodiebögen auf, deren Spannung jeweils bestens durchgehalten werden. Im Scherzo. Ziemlich schnell – Trio geht es für Bruckners Verhältnisse ausgesprochen munter zu. Dies alles deutet die vorzügliche Philharmonia festiva unter Gerd Schaller in wirklich hörenswerter Weise aus (CD PH2404).                 Gerhard Eckels

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Bruckner-Zyklen gibt es viele, darunter nicht wenige gute, und ihre Zahl hat sich zumal in letzter Zeit noch einmal gesteigert (Jubiläumsjahr). Und doch stechen einige besonders heraus. Die Akribie, mit der sich Gerd Schaller und „sein“ Label Profil/Hänssler der diskographischen Erschließung des sinfonischen Schaffens Anton Bruckners widmen, ist in seiner Breite ohne Frage bewundernswert. Oberflächlich mag man sich bei der jetzigen Neuerscheinung (PH23086) fragen: Schon wieder die Vierte? Gab es die nicht bereits? Und die Antwort lautet sowohl ja als auch nein. Zum einen ja, denn tatsächlich spielte Schaller mit der Philharmonie Festiva besagte Sinfonie Nr. 4 alias die Romantische, bis heute eine der beliebtesten und vermutlich auch die am häufigsten aufgeführte, schon mehrfach ein: Bereits 2007 in der gängigen Fassung von 1878/80/Edition Nowak (PH11028), sodann 2013 wiederum in dieser Fassung, allerdings mit dem sogenannten „Volksfest-Finale“ (PH13049), und zuletzt 2021 in der Erstfassung von 1874/Edition Nowak (PH22010). Allerdings auch nein, weil die jetzige Neuaufnahme die Letztfassung von 1888 enthält, editiert von Benjamin Korstvedt. Nichtbrucknerianer werden sich nun vielleicht denken: Braucht’s das? Und sogar manch ein Bruckner-Enthusiast mag darob insgeheim schmunzeln. Fakt ist allerdings schon, dass diese Korstvedt-Edition, die vor 20 Jahren entstand, bis heute relativ selten eingespielt wurde. Den Anfang machte 2005 der Japaner Akira Naito (Delta Classics), gefolgt von Osmo Vänskä (BIS, 2009), Franz Welser-Möst (Arthaus, 2012), Jakub Hrusa (Accentus, 2020), Remy Ballot (Gramola, 2021) und Markus Poschner (Capriccio, 2021). Wie man sieht, erst in jüngster Zeit eine gewisse Häufung. Und in der Tat, Gerd Schallers Lesart liefert neue Aspekte. Das liegt schon einmal an den vergleichsweise flotten Tempi. Mit 59 Minuten Gesamtspielzeit unterbietet er den bisherigen Rekordhalter Poschner noch einmal um zwei Minuten. Ballot benötigt, gleichsam „celibidachesk“, sage und schreibe über 19 Minuten mehr als Schaller. Gerade im langsamen Satz nimmt Schaller die Tempobezeichnung Andante genauer als alle anderen, denn es ist eben kein Bruckner-typisches Adagio. Ein frischer Zugang, der sich in den übrigen Sätzen nicht weniger widerspiegelt. Naturgemäß fällt der Tempounterschied im Scherzo zwischen den verschiedenen Interpretationen am geringsten aus, stets zwischen neun- und knapp zehnminütig; einzig Ballot kommt auch hier auf elf. Im Booklet (auf Deutsch und Englisch) einmal mehr ein informatives Interview mit dem Dirigenten. Keiner der vielen Fassungen will Schaller einen eindeutigen Vorzug geben. Da spricht der profunde Kenner. Die schon traditionell sehr gut eingefangenen Produktionen des Bayerischen Rundfunks – Studio Franken lassen klanglich kaum zu wünschen übrig, was auch am erwiesenermaßen adäquaten Aufnahmeort, der Klosterkirche Ebrach, liegt (Aufnahme: 20. August 2023). Die Philharmonie Festiva kann es in Sachen Bruckner-Exegese problemlos mit berühmteren Klangkörpern aufnehmen und brilliert in allen Gruppen. Kurzum: Empfehlung obligatorisch. Daniel Hauser