Archiv für den Monat: April 2015

Die Libretti von Johann Strauss

 

Vor 141 Jahre betrat der slibowitzselige Gefängniswärter Frosch in der Fledermaus zum ersten Mal die Bühne. Für Johann Strauss Sohn war es nicht die erste Operette, die da am Theater an der Wien zur Aufführung kam. Schon drei Jahre vorher, 1871, hatte er am Theater an der Wien, wo auch Die Fledermaus herauskam, sein Debut als Operettenkomponist mit der Operette Indigo und die 40 Räuber gefeiert. Es war ein großes Ereignis gewesen, wie das Fremdenblatt am 12. Februar 1871 berichtete: „Denn gleich einer Seeschlange zog sich seit Jahren die Nachricht von der Aufführung des beliebten Walzerkomponisten durch die Blätter. Zahlreiche Texte wurden dem Genannten zur Verfügung gestellt; er hatte sie Alle verworfen … Selbst das endlich zur Benützung angenommene Textbuch hat eine ganze Leidensgeschichte für die Direktion, für den Kompositeur und – das ist das Bezeichnendste – für das Publikum … Das Haus bot an diesem Abend einen ganz eigenthümlichen Anblick. Die Schriftsteller und Journalisten Wiens, die bedeutendsten Kompositeure und Musiker, die unbeschäftigten Künstler aller Theater, sie hatten sich eingefunden und der Direktor des Hofoperntheaters, Herr Herbeck, der keinen Platz im Zuschauerraume gefunden hatte, folgte der Vorstellung auf einem improvisirten Sitze im Orchester.“

Erotischer Strauss: Marie Geistinger as Boccaccio, in Vienna/Orca/Roser

Erotischer Strauss: Marie Geistinger als Boccaccio in Wien/Orca/Roser

Nur eine Spalte weiter ist dann allerdings zu lesen, dass der Erfolg „meistentheils der Musik, der glänzenden Ausstattung, dem trefflichen szenischen Arrangement und der über alles Lob erhabenen Vorstellung galt.“ Darauf folgt – quasi als dramaturgisches Statement – eine etwas merkwürdige Einschätzung des Werts eines Operettenlibrettos: „Zum Glück ist der Text einer Operette nichts weiter als die Folie für die Gesangsnummern und der Text zu ‚Indigo‘ kann daher auch nur als eine hölzerne Nothbrücke aufgefasst werden, welche die fließenden und munter einherhüpfenden Gesangsstellen miteinander verbindet.“ So ganz auf die Waagschale legen darf man die Äußerungen des Rezensenten auch sonst nicht. „Seit Jahren“ kann sich die Entstehungsgeschichte von Indigo nicht durch die Blätter gezogen haben. Denn wenn man den Beginn der Wiener Operette mit dem Pensionat von Franz von Suppé 1860 ansetzt – auch wenn das noch keine ausgewachsene Operette war -, dann handelt es ich nur um ein knappes Dezennium, in dem sich die Wiener Operette von Einaktern, die im Spielplan mit Schauspielen gekoppelt wurden, über Zweiakter erst 1870 mit Suppés Jungfrau von Dragant zu einem allein einen Abend füllenden Dreiakter entwickelt hatte. Das initiale Pensionat Suppés war zwar kein einhelliger Presseerfolg gewesen, aber ein folgenschwerer Publikumserfolg, den auch Johann Strauss Sohn zur Kenntnis nehmen musste, als er Ende Oktober 1860 müde und erschöpft, wie Franz Mailer schreibt, von seinem Russland-Gastspiel nach Wien zurückgekehrt war. Seine aus Russland mitgebrachten Novitäten fanden weit weniger Interesse beim Publikum als die Neuschöpfung Suppés.

Ein alarmierender Anstoß für die Strauss-Familie, dem neuen Genre vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken, ebenso natürlich seinem französischen Anreger Offenbach, den Wien mit viel echtem künstlerischem Enthusiasmus und frechen illegalen Urheberrechtsbrüchen an die Brust genommen hatte. Die Wiener Presse dachte zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs daran, in Johann Strauss Sohn einen zukünftigen Operettenkomponisten zu sehen: Als Bäuerles Theaterzeitung darüber sinnierte, wer ein wienerisches Pendant zu Offenbach werden könnte, fiel der Name von Strauss nicht.

Erotischer Strauss: Cover der originalen Noten/Orca/Roser

Erotischer Strauss: Cover der Zeitschrift „Die Bombe“ mit einer Darstellung zur „Fledermaus“ 1847/Orca/Roser

Aber Johann Strauss wusste sich schon 1863 den Kontakt zu Jacques Offenbach zu sichern. Über den Kritiker Eduard Hanslick, der mit beiden befreundet war, bemühte er sich, den Offenbachschen Walzer Abendblätter für seinen Verlag zu sichern. Offenbach hatte diesen, so wie er seinen Walzer Morgenblätter op. 279, für denselben Concordia-Ball als Widmungswalzer komponiert. Beide Werke erschienen auch tatsächlich gemeinsam im Verlag C. A. Spina. In den Bereich der Legende verwies allerdings schon Franz Mailer die Mitteilung, Offenbach hätte 1864 bei einem Bankett Strauss den Rat erteilt, Operetten zu schreiben, auch wenn die Theaterzeitschrift Der Zwischenakt schon am Tag nach dem bewussten Concordia-Ball Johann Strauss bereits an einer einaktigen Operette arbeiten sah. Die Meldung entsprach den Intentionen von Jetty Strauss, der Ehefrau des Komponisten. Der Meister war jedoch absolut nicht dieser Meinung.

Strauss war in dieser Zeit mit Franz von Suppé enger befreundet und attestierte ihm zu Recht ein größeres Talent für Theatermusik. Denn seine musikalische Sozialisation hatte nicht, wie die Suppés, am Dirigentenpult eines Orchestergrabens und mit der Komposition von Bühnenmusik für diverse Schauspiele stattgefunden, sondern auf den Tanzböden mit der Komposition und Präsentation von Tanzmusik, die sich nicht um dramaturgische Bedürfnisse von Autoren kümmern musste, sondern allein der bis ins Rauschhafte gesteigerten erotischen Animation des tanzwütigen Publikums diente. Dieses erotische Bedürfnis zu befriedigen, strebte aber auch die junge Wiener Operette an, die sich in ihren Sujets zaghaft auf einen unverwechselbaren Stil hin bewegte. Man hatte dafür an den in den drei traditionellen Wiener Vorstadttheatern gespielten Volksstücken, Sittenbildern, Idyllen, Märchen und Possen angedockt, hatte musikalische Anregungen aus den am Kärntnertortheater aufgeführten Donizetti-Opern gezogen, was Franz von Suppé sogar den Vorwurf einbrachte, sich am „Donizettelkasten“ bedient zu haben, und man ließ sich in den Libretti auf die Frivolität der Offenbachschen Bühnenwerke ein. Deren hoch politische satirische Anspielungen konnte man wegen der zurückhaltenden Liberalität in der habsburgischen Monarchie nicht übernehmen, hatte vielleicht auch gar nicht die Absicht, weshalb man ihren erotischen Subtext zu intensivieren trachtete, selbst wenn dabei Offenbachs Eleganz und Charme verloren gingen.

Erotischer Strauss: Erzherzog Viktor Ludwig, nicknamed “Luzi Wuzi”/ORCA/Roser

Erotischer Strauss: Erzherzog Viktor Ludwig, bekannt als “Luzi Wuzi”/ ORCA/Roser

Das noch länger biedermeierlich verklemmte Wien nahm die erotischen Spielchen mit Freuden zur Kenntnis. Wo der Alltag bis ans Jahrhundertende Frauen noch vom Hals bis zu den Zehen modisch verpackte, steckte man sie auf der Bühne – durch dramaturgische Notwendigkeit vorgeblich bedingt – als Männer in Hosen und enthüllte damit ihre körperlichen Reize. Das aus barocken und vorklassischen Resten noch in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts herüberschwappende Cross Dressing feierte fröhliche Urstände. Selbstverständlich nur bei den Damen. Die traditionellen Kittelrollen der Metamelodrammen der frühen opera buffa-Geschichte, für die man in den Operettenlibretti oft zwingendere Möglichkeiten gehabt hätte als für Damen in Hosen, ließ man dagegen links liegen. Das ganze Quidproquo dieses Cross Dressings schuf in der Rückblendung auf das reale Geschlecht pikante erotische Konstellationen. Sittenstrenges Theater mutierte zu einer geduldeten unmoralischen Anstalt. Junge Damen in Hosen wurden auf die absurdeste Weise aufgeboten, so dass zum Beispiel in der Originalfassung von Suppés Banditenstreichen zwei Damen in Hosen als Liebhaber einer jungen Dame nachstellten und der Chor der Räuber aus neun Damen in Strumpfhosen und nur vier Herren bestand. So dick wollte sich selbst ein auf sexuelle Erregung erpichtes Männerpublikum nicht mehr antörnen lassen. Wer Stefan Zweigs Welt von gestern gelesen hat, vermag die Wirkung dieser erotischen Komponente in der Zeit zu begreifen und zu verstehen, dass das Publikum auch im Dekodieren eines erotischen Subtextes geschult war, der ihm versteckt das vermittelte, was offen noch immer nicht ausdrückbar war. Man spielte – und spielte an. Das Prinzip war nicht nur beim aufstrebenden Bürgertum gesellschaftsfähig, sondern auch bis in die höchsten aristokratischen Schichten. Die Presseberichte der Zeit vermerken mehrmals, wie selbst die kaiserliche Familie das neue Genre goutierte, in erster Linie Erzherzog Viktor Ludwig, der jüngste Bruder Kaiser Franz Josefs, in der Familie kurz Luzi Wuzi genannt. Er fand in den Spielsituationen der Libretti sogar seine homophilen Neigungen gespiegelt, die er im Alltag nur skandalträchtig ausleben konnte.

Der erotische Touch der Stücke war jedoch nicht der Grund, warum Gattin Henriette, kurz Jetty genannt, geborene Treffz-Chalupetzky, Johann Strauss Sohn zur Operette drängte. Sie war eigentlich prüde – trotz sieben unehelicher Kinder, deren letzte, zwei Mädchen, beim Vater, dem späteren Baron Todesco, im Palais Todesco auf der Kärntnerstraße zurückgeblieben waren, als sie sich dem Walzerkönig zuwandte. Aber sie hatte ähnlich gute Managerqualitäten wie die Mutter des Komponisten, Anna Strauss, geborene Streim, die die Strauss-Brüder weltweit etabliert und Sohn Johann zum Walzerkönig gekrönt hatte. Jetty erkannte die Möglichkeit, über immer wieder sprudelnde Tantiemen durch Operettenaufführungen mehr Geld in die private Kasse zu spielen, als durch Einmal-Bezüge bei Tanzmusik-Kompositionen, wo nur mit Auftrags- und Auftrittshonorar und durch den Notenverkauf Geld zu verdienen war. Und sie erkannte auch, dass die verkaufsfördernde Wirkung des Walzerkönigs nur mit seinem persönlichen Auftreten vor dem Orchester der Strauss-Familie erreicht werden konnte, wovon Johann Strauss immer mehr die Nase voll hatte.

Erotischer Strauss: Die ehemalige Courtisane Jetty Treffz mit ihrem Johann, Hand in hand gegen die moralische Entrüstung Wiens/ORCA/Roser

Erotischer Strauss: Die ehemalige Courtisane Jetty Treffz mit ihrem Johann, Hand in Hand gegen die moralische Entrüstung Wiens/ORCA/Roser

Bis zur Komposition von Indigo lagen bereits 342 Opuswerke mit Tanzmusik vor. So war nun die Zeit gekommen, sich den Absichten Jettys zu beugen. Erst 1863 war Johann Strauss vom Kaiserhof mit dem Ehrentitel Hofball-Musikdirektor ausgezeichnet worden, der einst für seinen Vater erfunden worden war. Am 5. Jänner 1871 suchte er um Enthebung von der Leitung der Hofball-Musik an, was im Vorfeld sicherlich mit dem Obersthofmeister Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst abgesprochen war. Denn bereits eine Woche später erreichte ihn die Bestätigung des Kaisers, der ihm den Titel auch weiterhin beließ und ihn für seine Verdienste mit dem Ritterkreuz des Franz Joseph – Ordens auszeichnete. Am 27. März des Jahres erfolgte im neuen Musikvereinssaal am Karlsplatz der letzte gemeinsame Auftritt mit den Brüdern Josef und Eduard. Ein Lebensabschnitt war zu Ende. Ein neuer als Operettenkomponist begann. Als Operettenkomponist im Theater an der Wien musste Johann Strauss Sohn nicht mehr als „Gunstwerber“ antreten, wie einer seiner Walzer im Debutkonzert am 15. Oktober 1844 im Casino Dommayer in Hietzing geheißen hatte. Die Gunst des Publikums war ihm gewiss. Aber er hatte nun mit einem Partner zu rechnen, den er nicht so recht einzuschätzen wusste: dem oder den Librettisten.

Und da begann schon bei Indigo und die 40 Räuber die Malaise, die – von der Presse deutlich artikuliert – ihn an der Richtigkeit seines Schrittes hätte zweifeln lassen können. Schulkamerad und Freund Anton Langer, Herausgeber der viel gelesenen humoristischen MonatsschriftHans Jörgel, versuchte nach der umjubelten Premiere die Zweifel zu zerstreuen: „Du hast Talent genug, dass eine Operette von Dir keine andere Ausstattung braucht, als Deine Musik. Du hast’s nicht notwendig, ein halbes Hundert halbnackte Weiber oder doch Weiber in Hosen hinaufzustellen.“ Er findet das Textbuch nicht schlechter als die Bücher für „unzählige Offenbach’sche Blöderien“, womit er unter anderem sicher auch Offenbachs Die Insel Tulipatan meint, angewidert von der erotischen Sprengkraft dieses Cross-Dressing-Einakters, dessen entschlüsselbare homophile Tendenz ihm nicht behagte. Mit dem Hinweis auf die Güte schlichter Offenbach-Stücke, die dem Singspiel nahestehen – wie zum Beispiel Verlobung bei der Laterne oder Fortunios Lied – warnt er vor Ausstattungsstücken, zu denen er Indigo zählt, ohne zu ahnen, dass die Operette schon sehr bald diesen Weg einschlagen wird und die Ausstattung zu einem stilbildenden Parameter der zukünftigen

Vorbild und Zeitgenosse Jacques Offenbach/ORCA

Vorbild und Zeitgenosse Jacques Offenbach/ORCA

Für das nicht gerade vorbildliche Textbuch von Indigo und die 40 Räuberübernahm Maximilian Steiner die Verantwortung, der seit 1869 gemeinsam mit dem Star des Theaters an der Wien, der Schauspielerin Marie Geistinger, die Bühne leitete. Das vier Wochen vor der Premiere am 13. Jänner 1871 eingereichte Zensurlibretto trägt allerdings den Namen Richard Gené(e). Der gebürtige Danziger war noch von Friedrich Strampfer 1868 als Kapellmeister ans Theater an der Wien verpflichtet worden, dort allerdings nicht nur am Pult tätig, sondern als Mädchen für alles eingesetzt, so auch als Libretto-Retter oder besser: play doctor, wie man das im amerikanischen Musicalgeschäft nennt. Er war offensichtlich der Letzte, der am Libretto von Indigo Rettungsversuche vornahm, nachdem schon diverse Köche den Brei zu „verbessern“ gesucht hatten. Er beriet Johann Strauss auch in allen musikalischen Bühnenbelangen. Kurz gesagt: Strauss lieferte die Melodien, Genée setzte sie um. Indigo führt auf die orientalische Insel Makassar, wo König Indigo ein von korrupten Ministerialen ausgeplündertes Volk regiert. Seine Lieblingsbajadere ist die in Wien geborene Fantasca. Sie hat mit ihrem Geliebten Janio auf einer Reise Schiffbruch erlitten und ist im Harem Indigos gelandet. Janio wurde quasi als Hofnarr von Indigo aufgenommen. Eine Räuberbande bedroht die Insel. Fantasca wird als Preis für den ausgesetzt, der die Räuber besiegt. Die Räuber sind aber schon längst bei einem Schiffbruch ums Leben gekommen. So verkleiden sich die Bajaderen unter Führung Fantascas als Räuber, erbeuten die Schätze der ertrunkenen Räuber, Fantasca betäubt die Bajaderen mit Opium, lässt sie auf den Sklavenmarkt bringen, wo Janio von Indigo, der sich inzwischen zum Gott ausrufen ließ, als Besieger der Räuber die Hand Fantascas einfordert, worauf sie gemeinsam mit den Bajaderen nach Wien absegeln. Ein bisschen viel action, viel Spiel – und kaum etwas zum Anspielen, sieht man von den korrupten Ministerialen und dem Damenchor in Hosen ab. Korruption sollte in der Folge zu einem mehrmals verwendeten Motiv der Wiener Operette werden, denken wir nur an den infamen Podestá Nasoni in Gasparone von Millöcker. Ein dramaturgisches Mittel, das auch heute noch von einem Publikum sofort verstanden wird. Das Wiener Theaterpublikum war nicht eben an große Bühnenliteratur gewöhnt. Man bedenke, dass selbst das Repertoire des hehren Burgtheaters von trivialen Stücken dominiert war, deren Text sich oft kaum von den Dialogen der Operetten unterschied und nur durch schauspielerisches Können veredelt wurde. Offensichtlich wirkte da noch immer ein Dekret des Gründungskaisers Joseph II. nach, das keine traurigen Stücke zulassen wollte, um die kaiserlichen Zuschauer beim Theaterbesuch nicht in traurige Stimmung zu versetzen. Die Konversationskomödie führte noch eine ziemlich banale Konversation.

Erotischer Strauss. Librettist Richard Gené hatte keinen kleinen Anteil am "Verrufenen/ORCA

Erotischer Strauss. Librettist Richard Genée hatte keinen geringen Anteil am „Verrufenen“/ORCA

Die reichlich absurde Handlung von Indigo hat das Publikum bestimmt nicht deprimiert, aber die Gesangstexte hätten das Publikum schon in traurige Stimmung fallen lassen können. Nur ein Beispiel – Fantasia singt: „In des Harems Heiligtume, in der Frauen heit’rem Kreise, blühe ich als stille Blume fern vom Welteng‘leise. Und wie Blumen welkt die Liebe in den Herzen hin allmählich, ach, nur einmal blüh’n die Triebe – und wer das glaubt, der wird selig!“  Selbstverständlich war das nicht parodistisch gemeint. Es sollte lustig wirken. Schwer vorstellbar, dass ein Mann wie Genée Urheber dieser Verse hätte sein sollen, der einmal der goldenen Wiener Operette die besten Libretti schreiben würde. Da waren sicher andere Autoren am Werk, weshalb letztendlich Genée auch nicht für das fertige Produkt zeichnete. Wir finden aber in diesem Textbuch von Indigo schon viele Motive, die die weitere Entwicklung der Wiener Operette bestimmen sollten. Da wäre zum Beispiel die Verherrlichung Wiens mit einem Walzer, die bis hinein ins nächste Jahrhundert immer wieder von Komponisten aufgegriffen wurde. Und da wäre auch der exotische Spielort, der Reiz des Fremden, der ebenso zu einem erotischen Stimulans wird und die erotische Komponente der Libretti in den Bereich des Märchens verschiebt. „Märchen für Erwachsene“ hat Robert Herzl, einer der letzten traditionellen Operettenregisseure, das Genre der Wiener Operette immer genannt. Märchen, die sich vom satirischen Vorbild der französischen Operette verabschiedet hatten, die das Faszinosum des Exotischen, das Offenbach als Maske einer kritischen Haltung benutzte, unreflektiert übernahmen und zunehmend in Exotismen aller Art schwelgten, wie Christian Glanz konstatierte. Märchen wurden auch gebraucht für die minderbemittelten Schichten der rapide wachsenden Stadt, für die armen, ausgebeuteten Arbeiter aus Böhmen und Mähren, die Ziegelböhmen, die das Wunderwerk der Ringstraße entstehen ließen und die in diesen Märchen auf den billigen Rangplätzen der Vorstadttheater ihrer bitteren Realität entflohen.

Kollege Franz von Suppé/Wikipedia

Kollege Franz von Suppé/Wikipedia

Volker Klotz ließ Richard Genée spät, wie er selbst in einem Aufsatz bekennt, zu den Ehren kommen, die diesem Motor der Wiener Operette, wie er ihn nannte, zustehen. Johann Strauss scheint schneller die außerordentliche Begabung Genées erkannt zu haben, weil ab „Indigo“ zunächst keine seiner neuen Operetten ohne seine Mithilfe auskam. Klotz beschreibt Genée als „Gegenteil eines sendungsbesessenen Reformators“. „Die gelassene Haltung des selbstsicheren Fachmanns“ ermöglichte ihm, jedem Komponisten plausibel zu machen, was seinem Werk Not tut. Er kannte das Werk Offenbachs genauest und hatte selbst mit eigenen Werken im neuen Genre noch vor seinem Engagement nach Wien parallel zu Suppé und Kollegen erfolgreich experimentiert. Er wusste die Frivolität der Offenbachschen Libretti in seine Libretti für die Wiener Komponistentrias Suppé, Strauss und Millöcker zu retten, die weniger das Publikum auf den oberen Rängen interessierte, das ein gesundes Verhältnis zur Sexualität hatte, als das erstarkte Bürgertum und die assimilierte jüdische Gesellschaft. Seit 1860, im Jahr der ersten Wiener Operette, durften Juden in Wien Besitz erwerben. Begütert und angesehen wurden sie neben dem Adel zu Protagonisten der Wiener Ringstraßenzeit.

Die Operette wurde für sie das Zentrum des musikalischen Amusements, galt als etwas Fortschrittliches, das man wie auch das Neue in anderen künstlerischen Bereichen – nun endlich angstfrei, ohne drohende Pogrome im Nacken – fördern wollte. Genée stimmte also das junge musikalische Amüsiertheater wieder auf die großstädtische Pariser Wurzel zurück, die man für das Werden einer Metropole notwendig fand, auch wenn Wien etwas ganz anderes als Paris war. Genée wusste sich auch bei der katholisch konservativen Jetty Strauss durchzusetzen, die bei der Fledermaus ein Libretto zuließ, das thematisch schon eher der nicht gerade prüden Lebensart von Johann Strauss Sohn entsprach. Einmal noch wurde auch eine weitere große Hosenrolle mit dem Prinzen Orlofsky von Jetty akzeptiert, die den frivolen Hintergrund der Handlung – so wie heute mancher Regisseur – übersah oder tolerierte und nur die oberflächliche szenische Folie eines in jeder Beziehung rauschenden Festes zur Kenntnis nehmen wollte. Für die Darsteller war wieder Spielen und Anspielen gefragt. Man betrat wieder einen Boden, aus dem auch die Literaten der Zeit, wie zum Beispiel Arthur Schnitzler, ihre Motivstränge zogen, auch wenn sie bei ihnen meist anders als in der Operette letal endeten. Der Kenner der französischen Literatur, Kapellmeister Genée, arbeitete bevorzugt mit Camillo Walzel zusammen, der sich als Schriftsteller F. Zell nannte, einem gebürtigen vielseitig begabten Magdeburger, der unter anderem Lithograph, Schauspieler, Schiffskapitän und eben Schriftsteller war, überaus belesen, so dass er die Handlungen der gemeinsamen Operettenlibretti vorgeben konnte und dabei behende fremdsprachige Quellen plünderte, was immer wieder zu verzwickten rechtlichen Situationen führte. Für die Fledermaus wurde aber Genée mit einem Wiener Schriftsteller zusammengespannt, der die couleur locale in das Stück Le Réveillon von Meilhac und Halévy, dem Libretto-Wunderteam Offenbachs, einbringen sollte, mit Carl Haffner. Oswald Panagl und Fritz Schweiger beschreiben den damals bereits 70jährigen Hausdichter des Carl-Theaters als Prototyp eines „Hungerpoeten“, der seinem Theater jährlich zwölf neue Stücke liefern musste. Genée war mit der Übersetzung und wienerischen Einrichtung des Originals durch Haffner, den er übrigens nach eigener Auskunft nie gesehen hat, nicht einverstanden. Wahrscheinlich war sie so bieder ausgefallen, wie damals die Sprechstücke auf den Vorstadtbühnen zu sein pflegten. Das konnte man für eine Operette nicht brauchen. „Ich fand es unmöglich“, schrieb Genée, „erbat mir am anderen Morgen das französische Original und schrieb hiernach das Libretto. Von der Haffnerschen Posse, die ich zurückgab, benutzte ich nur die Namen der Personen. Auch von dem Original musste ich in Szenenbau und Charakteren weit abweichen… Um den altbewährten Schriftsteller Haffner nicht zu kränken, wurde er auf dem Theaterzettel mit meiner Zustimmung als Kollaborateur genannt.“ Genée war aber nicht nur als Librettist in den Entstehungsprozess der neuen Strauss-Operette involviert. Er war musikalischer Ratgeber, der dem berühmten Komponisten mit seinem Wissen über szenische Musik zur Hand ging und mit dem von ihm gestalteten berühmten Melodram mit der Schicksals-Musiknummer 13 im 3. Akt der Partitur Strauss zu der wohl theatertauglichsten Musik führte, die er geschrieben – oder eben nicht geschrieben hat.

Strauss: Hörptobe zu "Indigo" auf youtube

Strauss: Hörprobe zu „Indigo“ auf youtube

So wurde nun das Publikum des Theaters an der Wien am 5. April 1874 in einen Badeort in der Nähe einer großen Stadt geführt. Wenn in manchen Inszenierungen der Vorhang hochgeht, sieht man eine feudale Villa im Hollywood-Stil. Das war sicher nicht Genées Absicht. Pensionisten konnten sich vielfach das Leben in der Großstadt nicht mehr leisten und zogen sich deshalb in die Umgebung der Stadt zurück, wo das Leben billiger war. Der Ort der Handlung spielte also schon auf den Stand und die Vermögenslage der Protagonisten an, war unschwer als Baden bei Wien erkennbar und erregte beim Publikum Heiterkeit in Erinnerung an Bekannte, die ihm das real vorlebten. Dass in einem kleinen Ort jeder jeden kennt, ist selbstverständlich. Umso unverständlicher, wenn nun einer dort, der Richter, nicht so ticken will, wie es dem vor Gericht stehenden Rentier Eisenstein gefällt, der ihn bestens kennt und ihm bei Einladungen das Silberbesteck geborgt hat, wie man im französischen Original lesen kann. Gattin Rosalinde wiederum benutzt den verurteilenden Richter gleich als Alibi für ihr neuerliches Techtelmechtel mit einem ehemaligen Liebhaber. „Hätte er meinen Mann nicht verurteilt, könnte ich meinen ehemaligen Liebhaber nicht empfangen!“ In aller Unverblümtheit gestaltet sich da ein Sittenbild, das die angestochene Moral der Zeit reflektiert. Hebt sich dann im zweiten Akt der Vorhang, sieht man meistens einen prachtvollen Ballsaal. Hat sich Genée das wirklich so vorgestellt?

Erotischer Strauss: Librettist Camillo Walzel/ORCA

Erotischer Strauss: Librettist Camillo Walzel/ORCA

Ich habe einmal mit dem großen Regisseur Giorgio Strehler über eine Inszenierung der “Fledermaus” gesprochen. Er war sich ohne langes Nachdenken der Hintergründigkeit der Szene bewusst, die Sein und Schein auseinander dividieren muss. Für ihn waren die Ballettratten nicht die ranken und schlanken Tänzerinnen des Hofopernballetts, sondern die Damen der letzten Reihe, die sich ihre knappen Gagen mit Beziehungen zu betuchten Herren aufpäppelten. Und Prinz Orlofsky war kein reicher russischer Magnat, sondern ein Schieber, der nur in der Provinz den feinen Mann spielen kann, auf den ihm die Gesellschaft in der Großstadt nicht hereinfallen würde und wo er sich auch mehr vor der Polizei hätte in Acht nehmen müssen. Wenn schließlich die mediokre Gesellschaft auf der Bühne champagner- und wodkagetränkt ins lallende „Dui-du“ der Verbrüderung fällt – dann weiß man genau, wohin das führt, wenn der Vorhang gefallen ist.

Spielen und anspielen, das ist es, was die Inszenierung einer guten Operette heute so unendlich schwer macht. Man will es nicht so genau wissen, aber genauest glauben, was eigentlich los ist. Der Schlussgesang der Fledermaus weist deutlich darauf hin, auch wenn gleich wieder der Champagner als Entschuldigung herangezogen wird, der alles verursacht haben soll: „Wir wollen ihm den Glauben, der selig macht nicht rauben.“ Der Zuschauer weiß, dass er einem eindeutig sexuell konnotierten Vexierspiel zugesehen hat, das oft die Pornographie streift, wenn zum Beispiel der enttarnte Gefängnisdirektor Frank das Stubenmädchen rügt: „Sie haben sich von mir die Hand küssen lassen!“ Und sie darauf antwortet: „Nicht nur die!“

Die berühmten Libretti von Zell und Genée greifen immer wieder dieses Brunftjagen nach dem anderen Geschlecht auf, das versteckt auch die zwischenmenschliche Realität der Zeit bestimmte. In Suppés Boccaccio geht es in erster Linie um Sex, im Bettelstudent benimmt man sich schon etwas gesitteter. Für Strauss ließen sich die beiden Herren noch einmal auf die erotische Jagd ein, die man aber diesmal nicht so unversteckt portraitierte wie in derFledermaus, sondern um den Faktor Romantik bereichert. Eine Nacht in Venedig hieß das Stück, wieder nach einer französischen Quelle, dem Opernlibretto zu Le Château Trompette von Eugène Cormon und Michel Carré, wieder mit den üblichen urheberrechtlichen Schwierigkeiten wegen literarischer Plünderung. Nur diesmal fand die Uraufführung nicht in Wien statt, da Strauss das Theater an der Wien meiden wollte, weil ihn seine zweite Frau Angelika Dittrich (Jetty war 1878 gestorben) verlassen hatte und nun mit dem neuen Direktor des Theaters, Franz Steiner, dem älteren Sohn des inzwischen verstorbenen Maximilian Steiner, zusammenlebte, also Frau Prinzipalin geworden war, was man in der Presse als Begründung auch nur „anspielen“ konnte.

Poster zu "Bocaccio", London 1882/ORCA

Poster zu „Bocaccio“, London 1882/ORCA

Die Uraufführung von Eine Nacht in Venedig am 3. Oktober 1883 zur Eröffnung des Neuen Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters in Berlin wird immer wieder als Misserfolg auf Grund des Librettos kommuniziert. Sicher, man hat das Libretto von Zell und Genée nicht geliebt. „Sie sind und bleiben des Sängers Fluch“, schrieb der Rezensent der Deutschen Zeitung am Tag nach der Premiere. Aber bei dieser entstand Unruhe beim Publikum nur beim Text des „Lagunenwalzers“, wo man auf die ursprünglichen Worte „Bei Nacht die Katzen sind grau, zärtlich ertönt ihr Miau“ mit Miauen reagierte. Schon am nächsten Tag war der Text geändert – und einem Berliner Erfolg des Werkes stand nichts mehr im Wege. Nur sechs Tage später kam die Nacht in Venedig bereits in Wien heraus. Natürlich im Theater an der Wien. Lili und Strauss hatten sich zwar nicht versöhnt, aber: „Non olet!“. Auf das ideale, den Erfolg bestimmende Ensemble, das einem vertraut war und einen Erfolg garantierte, wollte die Firma Strauss nicht verzichten. In Wien hatte man aber den Text des in Berlin Unruhe stiftenden Walzers schon längst geändert. Denn hier wurde der Walzer nicht wie in Berlin vom Herzog gesungen, sondern von Caramello, Herrn Girardi – und auf dessen Rolle hätte der ursprüngliche Text nicht gepasst. Sicher, die Berliner Uraufführungsverse waren nicht gerade ein Ausbund an Intelligenz. In Wien hätte man sie wahrscheinlich als Anspielung darauf verstanden, dass ein Alter einer Jungen nachjagt. Schon im deutschen Libretto von Paisiellos Barbier von Sevilla begründet Doktor Bartolo seinen berechtigten Anspruch auf sein Mündel Rosina, dass in der Nacht alle Katzen grau seien, es also ganz egal sein kann, wer zu ihr ins Bett steigt, ein Junger oder ein Alter. Den Berlinern war das schlicht und einfach zu sehr um die Ecke gedacht. Da liebte man es direkter. Die Posse hätte da andere Parameter aufgefahren. Anspielen war nicht lustig. Aber die deftigsten, sexuell konnotierten Anspielungen finden sich seltsamerweise erst in den Wiener Änderungen, wenn zum Beispiel Pappacoda den Herzog fragt, ob er schon die Wirkung seines Apfelstrudels ohne Äpfel empfunden habe.

Johann Strauss: Poster zum "Zigeneunerbaron" 1885/ORCA

Johann Strauss: Poster zum „Zigeneunerbaron“ 1885/ORCA

„Zwischen Weinberl und Zibeben tu‘ ich gern was Scharfes legen. Es essen alte Herr’n Pikantes gar so gern – hinein dann in die heiße Röhr’n.“ In Wien ging die Nacht in Venedig umjubelt in Szene. Das Lachtheater war hier anders gestimmt als in Berlin. Und dennoch meckerte die Presse auch in Wien wieder am Textbuch herum. Bei allen Strauss-Operetten fällt das als Konstante auf, die auch auf den Komponisten Strauss abfärbte, dem nie diese bedingungslose Wertschätzung der Kritik bei den Operetten gezollt wurde wie bei seinen Schöpfungen im rein instrumentalen Bereich, bei den Walzern und Polkas, wo man ihn bereitwilligst „König“ nannte. Ich verdanke diesen Hinweis Marion Linhardt. Die Wiener Presse war meist ungnädig mit Operettenlibrettisten, was immer auch auf die Komponisten abfärbte. Strauss wurde wenigstens nicht wie Suppé der Talentlosigkeit geziehen. Aber die Reaktionen auf die Nacht in Venedig ließen Strauss von Zell und Genée abrücken. Sie sollten kein Libretto mehr für ihn verfassen.

Vielleicht war auch die Zeit des Anspielens in der Operette vorbei. Sie verfiel immer mehr dem Exotismus und ab dem Ausgleich mit Ungarn 1867 auch einem speziellen „Binnen-Exotismus“, wie Christian Glanz so treffend die Verortung der Handlungen auf die Kronländer der Monarchie bezeichnete. Mit diesem Binnenexotismus schritt auch die Tendenz zur Oper in den Operetten voran. Im Zigeunerbaron finden sich nur mehr am Rande erotische Anspielungen. So mag man das Dompfaff-Duett von Saffi und Barinkay als erotische Anspielung auf eine Befürwortung der freien Liebe empfinden. Angespielt wurde auf andere Dinge: Man mag zum Beispiel das untadelige Verhalten der Zigeuner als positive politische Äußerung im Vergleich zum kriegsbeuterisch unanständigen Schweinezüchter Zsupán empfinden. Éljen a Magyar! – auch wenn es rein wirtschaftlich darum ging, den ungarischen Musikmarkt zu erobern. Der Binnenexotismus zeigt auch deutlich die Unvernünftigkeit der Regierung, die nur Ungarn, nicht aber Böhmen und Mähren einen Ausgleich gewährte, weswegen Böhmen und Mähren bei Operettenlibretti nicht bestimmend wurden, obwohl sie bedeutendes musikalisches Kolorit jenseits der Polkas hätten beitragen können. Erst das 20. Jahrhundert gewann dann wieder der Operette die Erotik zurück – und dort oft noch deutlicher ins Pornographische verweisend.

Hans-Dieter Roser/Foto Anne Oppermann/ORCA/Roser

Hans-Dieter Roser/Foto Anne Oppermann/ORCA/Roser

Dieses Abdriften der Operette des späten 19. Jahrhunderts ins Opernhafte ist nicht nur bei Johann Strauss Sohn zu beobachten. Es kann damit zusammenhängen, dass die Komponisten ihre Arbeit als Operettenkomponisten nicht als vollwertige künstlerische Tätigkeit empfinden konnten, weil ihnen die rückhaltlose Bewunderung des Publikums und der Rezensenten auf diesem Sektor nicht in dem Maße zu Teil wurde, die sie in anderen Bereichen ihres Künstlerlebens genießen durften. Die Oper stellte sich nicht als andere, sondern als höherwertige Kunstform dar. Deshalb der Drang von Suppé und Strauss zur Oper, mit der sie aber beide nicht reüssieren konnten. Das mag auch ihre zeitweiligen depressiven Verstimmungen ausgelöst haben wie auch manche private Spleens.

„Die Fledermaus ist nicht die beste Operette, sie ist die Operette …“ stellte der Dirigent Felix von Weingartner einmal fest. Volker Klotz bestätigt ihn, weil er in der Fledermaus eine Wiener Offenbachiade erkennen kann. Auf alle Fälle ist sie bis heute die Operette aller Operetten, auch wenn sie meist szenisch falsch interpretiert wird. Und sie hat der Operette des 20. Jahrhunderts mit dem Gerichtsdiener Frosch eine Figur geschenkt, die im 20. Jahrhundert zu einem ganz speziellen Rollentypus, dem 3. Akt-Komiker, führte, Spielfeld aller großer Komiker. Seltsamerweise hat kein Operettenlibrettist des 19. Jahrhunderts auf diesen Typus zurückgegriffen. Man blieb an der durchgehenden komischen Figur des bürgerlichen Lustspiels hängen. Erst als die Operettendramaturgie in Handlungsschablonen zu denken begann, entdeckte man wieder diesen Typus, den man nun in verschiedenen sozialen Konstellationen als Spaßmacher im musikalisch meist schwächelnden dritten Akt einsetzte, um das unausweichlich bereits vorhersehbare Finale, glücklich oder tragisch – was für die Operette überhaupt eine beliebte Unsinnigkeit war – mit einer letzten unterhaltsamen Steigerung einzuleiten. Im Slibowitz war also nicht nur Wahrheit, sondern auch Dramaturgie.

Hans-Dieter Roser

Dieser Text fasst einen Vortrag zusammen, den Hans-Dieter Roser, Professor in Wien, ehemaliger Künstlerischer Betriebsdirektor an der Berliner Staatsoper,  Vizedirektor der Volksoper Wien und Inhaber vieler weiterer wichtiger Positionen im internationalen Theaterbetrieb, im Rahmen der „Wiener Vorlesungen“ im März 2015 hielt. Er war der Eröffnungsvortrag der „Tanz-Signale“-Konferenz zum Thema „Johann Strauss und seine Operetten-Libretti“. Wir danken Professor Roser für die Erlaubnis zum „Nachdruck“. Der Text erschien erstmals bei den Kollegen des Operetta Research Center Amsterdam/Orca, denen wir ebenfalls danken. G. H.

Und auf meine Frage nach „Zibeben“ schrieb mir Hans-Dieter Roser: Meine Kremser Großmutter kannte das Wort Rosine gar nicht, da war immer von Weinberln und Zibeben die Rede. Weinberln waren die saftigen Rosinen, Zibeben die trockenen, die vorher in Rum eingeweicht wurden. Wikipedia hat mich aufgeklärt, dass Zibeben schon getrocknet vom Weinstock geerntet werden. Ich nehme an, dass mit Weinberln jung und mit Zibeben alt gemeint war… Danke. G. H.

Informationssteinbruch

Für jeden Operettenfreund ist das Markenzeichen „Zell & Genée“ ein Begriff, hat doch diese „Firma“ die Libretti zu einigen der wichtigsten Operetten der „Goldenen Ära“ geliefert: Boccaccio und Fatinitza von Franz von Suppé, Der Bettelstudent und Gasparone von Karl Millöcker und Eine Nacht in Venedig von Johann Strauß. Doch damals wie heute wurde den Autoren von Operettentexten keine große Bedeutung beigemessen, und so kommt es, dass man über sie so gut wie nichts weiß. Erst vor einigen Jahren hat Volker Klotz in einem Essay (der auch in dem in operalounge.de bereits besprochenen Buch Es lebe: Die Operette enthalten ist) eine gründliche Rehabilitation Richard Genées versucht, den er als „Initiator und Motor einer eigenen Wiener Operette“ herausstellt. Er konnte sich dabei zu einem guten Teil auf die Materialsammlung seines Nachfahren Pierre Genée stützen, die dieser nun selbst in Buchform vorgelegt hat.

Pierre Genée Richard Genée Löcker VerlagRichard Genée, so weiß man nun, war weit mehr als ein Textlieferant, vielmehr ein mit allen Wassern gewaschener Theatermann, der als Geburtshelfer auch vieler fremder Werke tätig wurde. 1823 als Sohn des Sängers und späteren Theaterdirektors Friedrich Genée in Danzig geboren, schlug er die Laufbahn eines Kapellmeisters ein, die er zwei Jahrzehnte in verschiedenen europäischen Städten ausübte, bevor er 1868 ans Theater an der Wien berufen wurde, wo er der noch in den Kinderschuhen steckenden Wiener Operette die entscheidenden Anstöße gab. Offenbachs Werke wurden in seinen deutschen Bearbeitungen, von mancher Frivolität gereinigt, dem Wiener Publikum schmackhaft gemacht; Suppé, Strauß, Millöcker und andere profitierten von seinem theatralischen Knowhow bei der Komposition abendfüllender Bühnenwerke. Auch seine Freundschaft mit Friedrich von Flotow trug künstlerische Früchte, allerdings sind dessen spätere Opern Am Runenstein und Die Musikanten in Vergessenheit geraten.

Im ersten Teil seines Buches zeichnet Pierre Genée nach familiengeschichtlichen Abstechern, die im vorliegenden Fall keine Abschweifung bedeuten, den Lebens- und Berufsweg Richards nach, wobei der Zusammenarbeit mit den drei großen Exponenten der goldenen Wiener Operette der gebührende Raum gegeben, auch die Arbeitsteilung zwischen ihm und dem Co-Autor F. Zell, der mit bürgerlichem Namen Camillo Walzel hieß und im selben Jahr (1895) wie er verstarb, genauer beschrieben wird. Bei der Fledermaus allerdings war Zell nicht der Partner, vielmehr schrieb Genée hier die Adaption eines französischen Stückes durch Meilhac & Halévy von Carl Haffner vollständig um. Weniger bekannt dürfte sein, dass er auch an der Komposition der Operette nicht unerheblichen Anteil hatte, indem er teilweise von Strauß lediglich hingeworfene Skizzen ausarbeitete. Das war damals wie in der Folgezeit kein unübliches Verfahren, doch wollte der Walzerkönig später den Anteil seines Mitarbeiters nicht anerkennen.

Frontespiece des Klavierauszugs von Richard Genées Operette "Nanon" bei White Smith Music Publishers

Frontespiece des Klavierauszugs von Richard Genées Operette „Nanon“ bei White Smith Music Publishers

Mit Arrigo Boito, seinem Kollegen von der Oper, teilt Richard Genée das Schicksal, der Nachwelt nicht als Komponist, sondern als Librettist im Gedächtnis geblieben zu sein. Doch während Mefistofele in Italien ein Repertoirestück geblieben ist und in letzter Zeit auch häufig in Deutschland gespielt wird, sind die musikalischen Werke Genées sogar in seiner Heimat völlig in Vergessenheit geraten. Es ist mir nicht gelungen, eine Aufnahme von seinem Hauptwerk, der Operette Nanon, die Wirtin vom Goldenen Lamm (1877), ausfindig zu machen. Eine Verfilmung von 1938 mit Erna Sack und Johannes Heesters nennt als Komponisten Alois Melichar; inwieweit dessen Soundtrack auf die Originalpartitur rekurriert, ist mir nicht bekannt.

Im zweiten Teil des Buches listet Pierre Genée das überaus stattliche musikalische Oeuvre seines Urahns auf, darunter allein 250 Werke mit Opuszahlen, dazu zahlreiche Gelegenheitskompositionen und Bearbeitungen neben den kompletten eigenen Bühnenwerken, von denen noch der einst erfolgreiche Seekadett (1876) hervorzuheben ist. Einige der Titel werden nur rudimentär, andere sehr ausführlich kommentiert, wobei der Fledermaus nebst ihrer Vorgeschichte sehr breiter Raum eingeräumt wird. Das Ganze ist ein Informationssteinbruch, aus dem berufene Wissenschaftler noch viele interessante Details herausholen könnten, es ist aber auch eine Aufforderung an die ausübenden Musiker, diese großenteils zugänglichen Kompositionen wieder aufzuführen.

Ein nützliches Buch mithin, dessen Handicap lediglich darin besteht, dass Pierre Genée, von Haus aus Facharzt für Neurologie, kein Musikwissenschaftler ist und sich mit der Beschreibung der Musik seines Vorfahren ein bisschen schwer tut. Ein kundiger Lektor hätte auch einige ungelenke oder kuriose Formulierungen (z. B. „Das Fledermaus’sche Libretto“) eliminieren können. Vermeidbar waren weiterhin die zahlreichen Druckfehler, vor allem bei den Jahreszahlen purzeln die Ziffern immer wieder wild durcheinander (Pierre Genée: Richard Genée und die Wiener Operette, Löcker Verlag: 15 x 22,5 cm, Hardcover mit SU 351 Seiten, ISBN 978-3-85409-738-9).

Ekkehard Pluta

Foto oben: Richard Genée (www.biographien.ac.at)

Charme et rêve

Noch ein Sommernachtstraum? Nicht wirklich, auch wenn wir hier auf Titania und Oberon treffen: vom König der Feen wird Isoline dazu verurteilt, sich am Tag ihrer Hochzeit in einen Jungen zu verwandeln, weshalb ihre Mutter, Königin Amalasonthe, sie mit ihren Begleiterinnen im Schloss einsperrt. Dort trifft sie auf den Prinzen Isolin, mit dem sie flieht. Unter dem Schutz Titanias erhält jener das Zugeständnis, sich in ein Mädchen zu verwandeln, wenn Isoline zu einem Jungen wird. Das alles spielt in einem Reich, in dem sich Phantasie und Traum verweben, mit fliegenden goldenen Drachen, einem Land, in dem es keine Spiegel gibt, einer großen Schlacht und der Überfahrt nach Aphrodites Insel Kythera – eben ein Märchen, ein Conte de fées, so der Untertitel. Das Spiel mit den Geschlechtern, die Ambiguität von Isoline und Isolin – beide von Sopranen gesungen – scheint uns heute weniger frivol als zur Zeit der Uraufführung 1888 am Pariser Théâtre de la Renaissance. Doch auch damals war Isoline, eines der früheren Bühnenwerkes von André Messager, dem noch rund zwanzig weitere folgen sollten, kein wirklicher Erfolg. Zu den weiteren Stücken gehört die reizende Véronique, Messagers einziger bleibender Erfolg, und Fortunio. Letzteren hat immerhin John Eliot Gardiner in seiner Einspielung von 1988 wieder in Erinnerung gebracht, während Véronique bereits in den späten 60er Jahren in einer EMI-Einspielung unter Jean-Claude Hartmann mit Mady Mesplé erschienen war. Noch früher, in den späten 50er und frühen 60er Jahren, entstanden die mal Opérette, mal Comédie musicale oder Opérette romantique bezeichneten Rundfunkaufnahmen von Coups de Roulis, Passionement und Monsieur Beaucaire, die in den 90er Jahren zusammen mit Werken u. a. von Adam, Audran, Bazin, Boieldieu, Ganne, Hérold, Lecocq, Hahn und Offenbach in der herrlichen Reihe Gaite Lyrique erschienen. Aus den gleichen Quellen, den Archiven des Institut National de l‘ Audiovisuel, kommt nun ebenfalls die Erstveröffentlichung von Isoline (frz., engl. Beiheft); leider ohne Libretto, dafür mit einer Erzählerin vor jedem Bild.

Die Rundfunkaufnahme aus dem September 1947 mit Sängern, die wir auch auf den anderen Operetten finden, etwa Willy Clément und Joseph Peyron, ist wegen ihres topfigen und murkeligen Klangs selbst unerschütterlichen Liebhaber der leichten französischen

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Musik, die ihre Lücken schließen wollen, nur unter Vorbehalt zu empfehlen. Schade, denn die zehn Szenen mit einer Gesamtspielzeit von rund 100 Minuten, bieten alles, was man am Messager liebt, die elegante Leichtigkeit, gepaart mit einer gewissen Melancholie, die reizenden luftig-leichten Melodien sowie den Charme einer verflossenen Epoche. Man findet kleine Romanzen, darunter Obérons „Charme, rêve“, das sich zum Duett mit Titania weitet, Couplets, wie Isolines „Parmi les blancheurs de neige“, und veritable Ensemblestücke und Finali, dazu das neoklassizistisch filigrane Ballett im Wald von Brocéliande. Die Stimmen sind alle nicht außergewöhnlich: Jeanne Rollands Isolin ist sehr gewöhnungsbedürftig, der damals knapp dreißigjährige Bariton Willy Clément (1918-65) beispielsweise klingt ausgesprochen ältlich und abgesungen, doch welch eine Phrasierung und Diktion, auch bei der silbrig dünnen Janine Micheau, und sie verströmen unter der stilkundigen Leitung von Louis Beydts alle ausgesprochenes Vergnügen (2 CD, INA IMV051) .

R. F.

 

Frühes von Mayr, Spätes von Rossini

Nach einer nicht all zu umfangreichen und unaufgeregten Sinfonia führt Simon Mayrs JakobOratorium mitten in die Episoden um Abrahams Nachkommen, wie sie im Buch Genesis ab Kapitel 25 aufgeführt sind: Jakob hatte seinen Bruder Esau um das Erstgeburtsrecht betrogen und war zu seinem Onkel Laban geflohen. Dort diente er sieben Jahre um Labans Tochter Rahel, wurde aber von Laban getäuscht und erhielt die ältere Lea, worauf er nochmals sieben Jahre um Rahel diente. Er beschließt, in die Heimat zurückzukehren, überlistet bei der Teilung der Vierherde den Onkel, worauf er des Betrugs beschuldigt wird und mit beiden Frauen flieht. Laban eilt den Flüchtenden nach und stellt sie nach sieben Tagen. Viel Konfliktpotenzial. In seinem ersten Oratorium Jacob a Labano fugiens goss Mayr, der ab 1789 in Bergamo und Venedig studiert hatte, das Geschehen in wohlgefällige Formen, die nur selten etwas vom biblischen Furor ahnen lassen: jeder der vier Protagonisten, Jacob, Laban und die beiden Töchter Leah und Rahel, erhalten zwei Arien, der in der Bibel unerwähnte Hirte nur eine; inklusive Ouvertüre und vier Terzetten, wobei der Begriff für den abschließenden Rundgesang etwas hoch gegriffen ist, dauert das zweiteilige Werk 80 Minuten. Doch lassen wir uns nicht von der schmeichelnden Sanftmut Mayrs täuschen: Gleich Labans erste Arie „Nil a vindicata extrema“ zeigt ein heftiges Seelengemälde wie eine barocke Rachearie, wodurch sich die Norwegerin Siri Karoline Thornhill mit ihrem festen, höhensicheren Sopran vorteilhaft von dem mit vier Sopranen und einem Mezzosopran für Jacob etwas gleichförmig besetzten Ensemble abheben kann. Julie Comparini finde ich für den Jacob etwas uninteressant – sowohl im dreisätzigen „Vade, a me fuge infida“ wie in der Abschiedsklage „Date mihi extremum vale“. Andrea Lauren Brown und Gunhild Lang-Alsvik erhalten ebenfalls Gelegenheit sich als Labans Töchter zu entfalten, vor allem Lang-Alsvik im Bläser begleiteten Rondo der Rahel. Die Begegnung mit Jakob auf der Flucht vor Laban verdanken wir Franz Hauk, der sich mit seinem Simon Mayr Chor und Ensemble vielfach für den oberbayerischen Komponisten einsetzte und sich im September 2011 auch dessen italienischen Erstversuch, der wie damals üblich, auf dem Gebiet der geistlichen Musik stattfand, nicht entgehen lassen wollte (Naxos 8.573237). Mayr erinnert sich an Mozart, klingt wie der ganz frühe Rossini, die Arien ergeben sich aus Klang gewordenen rezitativischen Gesten, beziehen gelegentlich den Chor mit ein, der Einsatz der Soloinstrumente, gesteigert durch gute Kombinationen, ist durchdacht, und obwohl stark kontrastierende Arien auf einander folgen, bleibt der Fluss der Handlung gleichförmig, findet alles im Rahmen des Bekannten und Gewohnten statt.  Rolf Fath

rossini messe naiveEine wahrhaft deliziöse Aufnahme ist die von Rossinis Petite Messe Solenelle in der Fassung für Orchester mit dem Orchestre de Chambre de Paris, aufgenommen im Juni 2014 in der Basilika Saint-Denis. Dirigent Ottavio Dantone hält das kleine, aber feine Orchester zu kontrastreichem Spiel an, einem demütig klingenden „Kyrie“ und gleich danach einem dramatisch zupackenden „Gloria“, einem „Gratias“ voller Elan und einem Orgel-Vorspiel (Christophe Henry) mit beinahe opernhaften Zügen in seinem Sichsteigern. Generell werden zügige Tempi bevorzugt, gibt es aber auch ein schönes Verklingen vom „Qui tollis“. Leichtzüngig äußert sich der Chor Accentus im Cum sancto spiritu, ein ausgesprochen fröhlich klingendes Glaubensbekenntnis mit kraftvoll bestätigendem Amen gelingt ihm ebenfalls. Vorzüglich sind die Solisten. Der schlanke, reine Sopran von Julia Lezhneva ist leicht dunkel getönt, sehr eindringlich im „Miserere nobis“, eine schöne, bewegte Klage gelingt ihr im „Cruzifixus“, ausdrucksvoll weiß sie im Salutaris zwischen Angst- und Jubelton zu wechseln. Delphine Galou singt die Altpartie mit schönem, einheitlichem Stimmfluss, harmoniert perfekt mit der Sopranstimme und hat für das abschließende Agnus Dei das eindringliche Bitten in der Stimme. Michael Spyres scheint in dieser Aufnahme eine viel hellere Stimme zu haben als auf seiner CD mit französischen Arien. Der Tenor klingt herb, schneidig, schlank und ist höhensicher, wie man es von ihm kennt. Viel dunkler und voluminöser, als aus seinem Engagement an der Berliner Staatsoper erinnerlich, ist der Bass von Alexander Vinogradov, dabei ist er geschmeidig geblieben wie eh und je, sein Beitrag zu dieser Aufnahme ein beachtlicher (Naive V5409). Ingrid Wanja  

 

Jugend übt sich

 

Im 18. Jahrhundert war die Olympiade noch nicht wieder zum Sportereignis geworden, sondern erlebte auf der Opernbühne ihre Rückkehr. Pietro Metastasios berühmtes Opernlibretto soll ca. 60 mal vertont worden sein, zuerst 1733 von Caldera, in der Folge u.a. von Vivaldi (1734), Pergolesi (1735), Hasse (1756), Jommelli (1761), Cimarosa (1784), sogar Donizetti erwog 1817 noch eine Vertonung und hinterließ ein Fragment. Ungefähr in der vertonungshistorischen Mitte befindet man sich sich bei Josef Myslivečeks Version der L’Olimpiade, die 1778 in Neapel zuerst auf die Bühne kam. Der Tscheche Mysliveček (1737-1781) war beim neapolitanischen Publikum sehr beliebt, neun Opern komponierte er für das Teatro San Carlo, L’Olimpiade war die achte; 17 Opern schrieb er u.a. für andere namhafte Opernstädte – alle zur Gattung der Opera seria gehörend und überwiegend auf Libretti Metastasios. Mysliveček gehörte zu den Top-Verdienern seiner Zeit. 1770 befreundete er sich mit dem vierzehnjährigen Wolfgang Amadeus Mozart, der ihn 1777 in München im Krankenhaus besuchte und über die schwere Syphilis-Erkrankung an seinen Vater berichtete. 1781 starb er verarmt in Rom

Der in Prag geborene Josef Mysliveček gehört zu den diskographisch bisher weniger wiederentdeckten Komponisten. Er schrieb nicht nur Opern, sondern hinterließ auch Messen, Oratorien, Kantaten und Orchester- und Kammermusik. Die vorliegende Operneinspielung ist ein weiterer interessanter Beitrag zur musikgeschichtlichen Aufarbeitung der Opera seria, wobei Myslivečeks Fassung zeitgemäß und musikalisch inspiriert eine vielfältige Ausdruckspallette zeigt, die

viagra24onlinepharmacy.comherbal viagra gncpharmacypharmacy aber der typischen Formenwelt verhaftet bleibt: 16 Arien, bei denen es kaum noch umfängliche da capo-Reprisen gibt, ein Duett, dreimal übernimmt der Chor in L‘Olimpiade. Nur wenige Arien aus Metastasios Libretto fehlen.Myslivečeks Oper erlebte namentlich in jüngster Zeit einige Wiederbelebungen, vor allem im heimatlichen Prag, wo in den letzten vierzig Jahre drei Radio- und TV-Aufnahmen zu finden sind (zuletzt 2013 mit Johannes Chum unter Vaclav Luks). Die Live-Aufnahme des Teatro Comunale in Bologna aus dem Jahr 2012 ist eine Produktion der Scuola dell’Opere Italiana, die 2014 beim Label Bongiovanni erschien. Man setzte dabei auf junge Nachwuchssänger, die zuvor kaum oder wenig in Erscheinung traten. Das hört man auch an manchen Stellen: eine gute Aufführung mit Stärken und Schwächen, da es sängerisch gelegentlich an Erfahrung, Perfektion und Ausdruck mangelt. Bei den Sängerinnen hinterlässt die bereits bühnenerfahrene Sporanistin Pervin Çakar (Megacle)

und der Sopran von Maria Teresa Leva (Argene) einen vielversprechenden Eindruck. Countertenor Carlo Vistoli (Licida) und Tenor Pasquale Scircoli (Aminta) fügen sich bei den Männern stimmlich flexibel und überzeugend in ihre Rollen ein. Chor und Orchester des Teatro Communale werden von Oliver von Dohnányi sicher und schwungvoll geleitet. Es ergibt sich ein frischer, zupackender und akustisch gut balancierter Höreindruck. Nur wenige Bühnen- und Zuschauergeräusche sind hörbar. Eine verdienstvolle Aufnahme, die aber kaum als richtungsweisende Referenz taugt. (2 CDs, Bongiovanni GB 2469/70-2). Marcus Budwitius

Jarousskys geheimer Garten

Philippe Jaroussky ist im Café Procope eingekehrt. In seiner neuesten CD (rechtzeitig erschienen zur Tournee im März/April, so am 17. 3. in Berlin) spielt dieses berühmte Pariser Etablissement im Quartier Latin eine wichtige Rolle: Green – Mélodies françaises sur poèmes de Verlaine. Es gibt ein Foto, das den Lyriker Paul Verlaine, der von 1844 bis 1896 lebte, im Café zeigt. Es stammt aus seinem Todesjahr. Der Dichter allein auf einem Sofa sitzend, vor ihm der Tisch mit der weißen Marmorplatte. Darauf Schreibzeug, ein nicht näher bezeichnetes Getränk, reichlich bemessen in Glas und Karaffe, der Stock und der Hut. Hüte auf Tischen bringen Unglück, heißt es. Für Verlaine war Unglück keine Bedrohung mehr. Seine zermürbende Liebe zu dem zehn Jahre jüngeren Arthur Rimbaud endete tragisch. Verlaine schoss auf Rimbaud und musste dafür ins Gefängnis.

1-VCD Jaroussky VerlaineIn dieser Zeit entstanden die Romances sans paroles, die Lieder ohne Worte. Den Titel der Sammlung soll Verlaine bei Mendelssohn entliehen haben. Green ist ein Gedicht draus. „Hier siehst du Blätter, Früchte, Blumenspenden / und hier mein Herz, es schlägt für dich allein. / Zerreiß es nicht mit deinen weißen Händen / lass dir die kleine Gabe teuer sein.“ Verlaine gilt als typischer Vertreter des Symbolismus. Jaroussky hat die Wahl, kann sich an dem reichen Werk bedienen – und ist fündig geworden für sein Album, das aus zwei CDs besteht (Erato 0825646166954). Green ist gleich in drei verschiedenen Varianten vertreten – von Gabriel Fauré, André Caplet und Claude Debussy, der dem Dichter übrigens als Kind zufällig begegnet war. Caplet nimmt sich mit mehr als drei Minuten doppelt so viel Zeit wie Fauré, der eine Minute einundvierzig braucht. Debussy liegt mit zwei Minuten sechzehn dazwischen. Caplet (1878-1925) wiederholt die letzte Zeile „… und lass mich, da du schläfst ein wenig ruhn“. Bei ihm klingt das Lied zudem mit einem Nachspiel aus. Allein deshalb hinterlässt es die größere Wirkung. Wie Green werden viele der insgesamt zwanzig ausgewählten Gedichte Verlaines in bis zu drei unterschiedlichen Vertonungen dargeboten. Darin besteht ein großer Reiz. Der Dichter hat auf Komponisten eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Kaum ein anderer ist in Frankreich ist so oft vertont worden wie er. Jules Massent fühlte sich genauso inspiriert wie Camille Saint-Sains, Arthur Honegger, Ernest Chausson oder Reynaldo Hahn. Die Stile wechseln wie die Komponisten jünger werden. Das Verbindende ist die Sprache, die für sich genommen ein unverwechselbares Flair entfaltet. Benoit Duteurtre zitiert in seinem lesenswerten Essay im Booklet den Dichter René Chalupt aus einer Studie von 1949: „Das Originelle an Verlaine war, dass er in seinen Gedichten eine neue Musik hören ließ.“

Dr Dichter Paul Verlaine 1896 im Café Procope im Pariser Quartier Latin.

Der Dichter Paul Verlaine 1896 im Café Procope im Pariser Quartier Latin / Repro aus dem Booklet

Musikalisch ist der Auftakt des Albums einschmeichelnd, fast verführerisch. „Im alten einsamen Park, wo es fror, / traten eben zwei Schatten hervor. / Ihre Augen sind rot, ihre Lippen erblassen, / kaum kann man ihre Worte fassen“, lauten die ersten Zeilen von Colloque sentimental in der Komposition von Léo Ferré (1916-1993). Ferré war einer der erfolgreichsten Chansonniers des 20. Jahrhunderts, der auch selbst komponierte. Seine Platten und seine Konzerte im Pariser Olympia sind Legende. Vom Streichquartett wird die Melodie aufgenommen, die das Klavier vorgibt. Jaroussky zieht seine Zuhörer auf einen Schlag tief in dieses Repertoire hinein, das er seinen „geheimen Garten“ nennt. Man kommt nicht davon los, bleibt dabei. Das Album schließt nach knapp zwei Stunden mit Colombine, von Georges Brassens in Töne gesetzt. Brassens, der bis 1981 lebte, war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller und Dichter, sondern machte sich ebenfalls als Chansonnier einen Namen weit über die Grenzen seiner französischen Heimat hinaus.

Ganz im Stil eines Chansons bewegt sich bisweilen auch Jaroussky, beweist dabei Witz, Charme und Leichtigkeit – holt auf diese Weise Verlaine in die Gegenwart. Er legt den Opernsänger über weite Strecken völlig ab und gibt seiner Stimme eine ganz neue, ja überraschende Richtung, wie es sich schon auf seiner ersten CD „Opium“ mit französischen Melodien ankündigte, die vor fünf Jahren herausgekommen ist. Jaroussky könnte sich gut und gerne auch in diesem Fach mit Erfolg behaupten. Mittlerweile ist er Siebenunddreißig. Kein Alter für einen Sänger. Viel hat er erreicht. Genauso viele Möglichkeiten stehen ihm noch offen. Er braucht ja nirgends anzukommen, wie ein Heldentenor, auf den noch der Tristan oder Otello wartet, um seine Karriere zu vollenden. Bei Jaroussky ist vieles denkbar. Er legt sich nicht fest, probiert sich immer wieder neu aus und erweist sich dabei als außerordentlich entdeckungsfreudig – für sich und für sein Publikum.

1-Opium-CD Jaroussky

Bereits im Jahr 2000 ist die erste CD von Philippe Jaroussky mit  französischen Liedern bei Erato/Warner erschienen.

„Warum sollte ein Countertenor nicht die nötige Einfühlsamkeit und Vokaltechnik haben, um französische Lieder zu singen?“ Diese Frage stellt Jaroussky in einem knappen eigenen Text des Booklets mehr an sich selbst. Es scheint, dass dabei auch Zweifel mitschwingen, was ihn nur sympathischer und überzeugender macht. Gewiss verfügt er über diese Einfühlsamkeit und diese Vokaltechnik. Es ist aber auch zu spüren, wie hart er dafür gearbeitet hat. Nicht jede Nummer überzeugt in allen Details in der musikalischen so wie in der darstellerischen Ausführung. Manche Töne geraten etwas spitz, gar veristisch. Getragene Passagen gelingen in der Regel besser als die stürmischen. Das alles kann auch gewollt sein. Jaroussky geizt nicht mit Gefühlen, lässt viel Nähe zu, ohne sich anzubiedern. Selbst diejenigen, die des Französischen nicht mächtig sind, können ihm problemlos folgen. Warum? Weil er Inhalte plausibel durch Ausdruck, Charme und Pointen transportiert. Auf eine gewisse Weise ist sein Publikum ihm ausgeliefert, was er zu genießen scheint.

Es bleibt ein Wagnis, gut zwei Stunden hintereinander französische Lieder auf Texte von Verlaine vorzutragen. Zumal für einen Sänger dieses Kalibers, der mir atemberaubenden Koloraturen riesige Säle in seinen Bann schlägt, aus dem sich die Menge am Ende solcher Darbietungen nur durch heftige Schreie der Begeisterung befreien kann. Hier nun ist alles ganz anders. Und es ist gut möglich, dass Jaroussky auch enttäuscht, weil er bestimmt Erwartungen nicht erfüllt. Ganz bewusst nicht erfüllt. Ich fühle mich an Marilyn Horne erinnert, die lange Liederabende gern mit Brahms, Mahler und Mozart ausfüllte, das Publikum aber vor allem deshalb gekommen war, weil als Zugaben Arien von Rossini oder Vivaldi zu erwarten waren. Sie tat mir dafür immer ein bisschen leid, leistete aber unnachgiebig Überzeugungsarbeit auf diesem Gebiet. Sie wollte sich nun mal auch als Liedsängerin durchsetzen.

Paul Verlaine (1844-1896) als Troubadour auf einem Gemälde von Frédéric Bazille.

Paul Verlaine (1844-1896) als Troubadour  auf einem Gemälde von Frédéric Bazille / Repro aus dem Booklet

Bei seinen Eroberungen von musikalischem Neuland hat Jaroussky treue Verbündete, wofür er Dankbarkeit empfindet. Einer ist sein langjähriger Bühnenpartner Jérôme Ducros am Piano, der auch die meisten Titel neu arrangierte. Bei neun Nummern kommt das Quatour Ebène hinzu, was – ich sage es ganz offen – auch für willkommene Auflockerung sorgt. In das Lied „La lune blanche“, von Massenet für zwei Stimmen gesetzt, teilt sich Jaroussky mit der Altistin Nathalie Stutzmann. Dieses Lied fließt dahin wie eine Barkarole. Es ist Luxus pur, die viel beschäftigte Altistin und Dirigentin, die auch bei anderer Gelegenheit mit Jaroussky zusammengearbeitet hat, nur für diesen einzigen Titel zu verpflichten.

Vom Glanz fällt auch etwas auf die Ausstattung des Albums. Jaroussky hat sich tatsächlich ins Le Procope begeben, um sich dort ablichten zu lassen, im Sweetshirt – und mit Weste und Gehrock im Stile der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie Verlaine, der sich auf Gemälden und Fotos findet. Von den Komponisten wurden in Teilen seltene Konterfeis aufgetan. Das macht viel her. Alle Texte, darunter die Gedichten selbst, sind dreisprachig – auch in Deutsch – abgedruckt. Der alte Spruch, wonach das Auge mithört, erfüllt sich. Heutzutage sind solche Ausstattungen, die bis in alle Einzelheiten stimmen, selten geworden. Ein anspruchsvoller Inhalt findet seine Entsprechung in der äußeren Form. Gut so.

Die CD ist das Eine. Vor Publikum einen ganzen Abend (am 17. 3. 2015 im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie) mit diesem Programm zu bestreiten, ist die eigentliche Herausforderung. Inhaltlich und künstlerisch. Dann kann nämlich nicht mehr probiert, abgewogen, umgestellt, korrigiert oder wiederholt werden. Alles muss sitzen. Jaroussky hat glänzend bestanden. Schließlich war die Produktion des Albums die allerbeste Probezeit. Live wählt er eine neue Reihenfolge. Er beginnt anders und endet anders. Die Auswahl wirkt spontaner, nicht ganz so perfekt ausgeklügelt wie im Studio. Daran hat auch sein langjähriger Begleiter am Flügel, Jérome Ducros, erheblichen Anteil, der zwischen den Liedern mit Klaviermusik von Debussy beeindruckt. Jaroussky braucht auch eine gewisse Zeit, um mit seinen individuellen Mitteln stimmlich in das Idiom dieser Melodien hinein zu finden. Von Lied zu Lied legt er zu. Tragisch-sentimentale Titel wie „O triste étaiut mon ame“ von Charles Bordes gelingen zunächst am besten. Das ist aber nur ein vorläufiger Eindruck. Am Ende kommt es ganz anders. Ein freches und mit Spott gespickte Couplet aus der Buffo-Oper Fisch-Ton-Kan (ein Spitzname, der Napoleon III. angehängt wurde) von Emmanuél Chabrier wird zum umjubelten Rausschmeißer. Es bleibt einem mit samt dem jubelnden Beifall auch noch auf dem Heimweg im Ohr. Der Kammermusiksaal war nicht ausverkauft, was nicht am Sänger, sondern am Programm gelegen haben dürfte, das natürlich weniger Publikum anzieht als rasende Barockarien mit Orchester. Jaroussky weiß das. Für seine Lieder nimmt er auch eine kleine Runde, wo sie besser aufgehoben sind, in Kauf. Mit ihr kann er kommunizieren. Es scheint, als ob er jeden einzelnen im Saal im Blick hat. Als ob er flirtet. So fühlt sich das Publikum sehr ernst genommen. Es hängt ihm an den Lippen. Er dankt es, indem er sich nach dem kräftezehrenden Konzert bestens gelaunt und charmant wie immer zur Autogrammstunde einstellt, Widmungen in die CD-Alben schreibt und artig Fragen beantwortet. Kein Zweifel, dass Jaroussky auch diesmal neue Fans gewonnen hat.

Das Café Procope an der Rue de l’Ancienne Comédie 13 wurde 1686 gegründet. Foto: Screenshot Google Street View

Das Café Procope an der Rue de l’Ancienne Comédie 13. Foto: Screenshot von Google Street View

Sein neues Album erfüllt auch ein Klischee. Es macht irgendwie Lust auf Paris, obwohl nicht die Stadt im Mittelpunkt steht, sondern der Dichter und seine Komponisten, die natürlich alle in der Stadt gelebt haben und deren ganz eigene Melodie in sich aufnahmen. Paris ist immer gegenwärtig wie ein eingebildetes Hintergrundgeräusch. Ich werde endlich Verlaines Grab besuchen auf dem Friedhof von Batignolles in der Rue Saint-Just im Nordosten des 17. Arrondissements, wo auch Schaljapin seine letzte Ruhe fand. Im Jardin du Luxembourg steht die mit seinem Haupt gekrönte Stele des schweizerischen Bildhauers Rodo. Und dann natürlich auch im Café Procope, Rue de l’Ancienne Comédie 13, einkehren. 1686 wurde es vom Italiener Francesco Procopio dei Coltelli gegründet. Älter dürfte kein Kaffeehaus sein in Paris. Es hat alles gesehen und beherbergt, was Rang und Namen besaß in Kunst, Wissenschaft und Politik. Wessen Name nicht selbst auf einem Buchdeckel oder in einer Zeitung stand, drückte sich mit eben solch einem Buch oder solch einer Zeitung in einer Ecke herum und tat so, als ob er dazu gehörte. Heute genügt eine Kreditkarte oder ein gut gefülltes Portemonnaie. Buch und Zeitung können getrost beiseite bleiben. Ich habe ja Jaroussky und seine Lieder im Kopf.

Rüdiger Winter

Foto oben: (c) Marc Ribes

Frühe Meisterwerke

Francesco Cavalli – der bedeutendste venezianische Komponist in der Mitte des 17. Jahrhunderts und Schüler Monteverdis – schuf ca. 30 seiner 42 Opern für Venedig. Die seit 1637 bestehende venezianische Oper – das Teatro San Cassiano – war nicht höfisch, sondern kommerziell. Jedermann konnte gegen Eintrittsgeld das Spektakel besuchen. Es ging ums Geld – das Orchester wurde kleiner: Streicher, Laute, Theorbe und Cembalo. Es war keine prunkvolle Besetzung, umso erstaunlicher was Cavalli daraus an stimmungsvoller Begleitung schuf.

L’Ormindo (1644) und Giasone (1649) liegen nur wenige Jahre auseinander und folgten der in Venedig uraufgeführten L’Incoronazione die Poppea (1642) von Monteverdi. Typisch für die Zeit sind Verwechslungs- und Verschwörungsopern, bei denen die Helden von komischen Nebenfiguren kontrastiert werden (in Giasone darf ein Sänger stottern) und die mit einem lieto fine enden: in beiden Opern finden die glücklichen Paare zueinander. L’Ormindo ist nun (nach der bahnbrechenden, wenngleich stilistisch anfechtbaren Aufnahme aus Glyndebourne bei Decca mit Janet Baker) bei Pan Classics neu aufgelegt worden und immer noch erstaunlich. Die französische Studioproduktion aus dem Jahre 2006 engagierte zehn Sänger und neun Musiker. Jérôme Correas leitet vom Cembalo aus das kleine Ensemble Les Paladins, das sich in der Summe aus fünf Streichern, Harfe, Theorbe und zwei Cembalisten (inklusive Orgel) zusammensetzt. Das klingt und ist etwas karg, entwickelt aber beim Zuhören seine Reize durch eine dezente gehaltene, aber lebendige Aufführung der unterschiedlichen Stimmungen zwischen Pathos und Komik, Liebe und Verzweiflung. Das Hauptgewicht liegt dennoch auf den Sängern, die vor allem artikulatorisch gefordert sind. Für den kurzen Prolog hatte man Sandrine Piau verpflichtet, die eine sehr gute und homogene Besetzung anführt, aus der man die beiden Soprane Stéphanie Révidat als Erisbe und Magali Léger als Sicle sowie den Tenor Howard Crook als Amida hervorheben kann. Eine der beeindruckendsten Szene findet sich gegen Ende: Das Liebespaar Ormindo (gesungen vom Countertenor Martin Oro) und Erisbe nimmt Abschied und trinkt gemeinsam Gift, das sich allerdings dann als Schlaftrunk herausstellt. Monteverdis Kunst des Lamento stand hier als Vorbild. Das Booklet enthält eine deutsche Zusammenfassung und das Libretto in Italienisch und Englisch. Eine puristische Referenzaufnahme (mit Sandrine Piau (L’Armonia), Martin Oro (Ormindo), Stéphanie Révidat (Erisbe), Howard Crook (Amida, Magali Léger (Sicle), Jean-François Lombard (Erice), Jacques Bona (Hariadeno), Karine Deshayes (Mirinda), Dominique Visse (Nerillo), Benoît Arnould (Osmano), Les Paladins, Jérôme Correas (Dirigent); Pan Classics, 2 CDs,PC10330).

Pier Francesco Cavalli Il Novello GiasoneCavallis Giasone – der Jason der Argonautensage – ist die vielleicht erfolgreichste italienische Oper des 17. Jahrhunderts. Über 40 Jahre lang wurde sie nach der Uraufführung im Karneval 1649 gespielt und mehrfach für andere Bühnen bearbeitet. René Jacobs spielte sie 1988 für dhm ebenfalls beispielhaft ein. Beim italienische Label Bongiovanni ist 2014 eine prominente Bearbeitung erschienen. Die hier vorliegende Aufnahme von Il novello Giasone wurde 1671 ein großer Erfolg in Roms erstem kommerziellen Opernhaus, dem Teatro Tordinona. Papst Clemens X. tolerierte sogar Sängerinnen auf der Bühne, sein Nachfolger Innozenz XI. schloss dann das Theater 1676 für 15 Jahre. Il novello Giasone wurde deutlich verändert – Alessandro Stradella bearbeitete Cavallis Werk und komponierte neue Musik hinzu, ein Librettist ergänzte den Text, schrieb neue Arien, erweiterte den Prolog und fügte ein Zwischenspiel sowie eine Tanzszene ein. Diese Version wurde nach über 300 Jahren im Sommer 2011 erstmals wieder szenisch beim Valle d’Itria Festival im Teatro Verdi in Martina Franca aufgeführt und live mitgeschnitten. Die 18 Sänger werden von zehn Musikern begleitet, darunter nun auch Flöte und Kornett für mehr instrumentale Abwechslung. Der Live-Charakter verleiht dieser Aufnahme dabei einen zusätzlichen Schwung und Lebendigkeit, aber auch eine weniger klare Akustik. Die Hauptrollen sind dabei überwiegend sehr gut besetzt, im Gegensatz zum obigen L’Ormindo wird vieles stimmlich intensiver und artikulatorisch dramatischer gestaltet. Das Booklet schlüsselt sehr knapp die Unterschiede der Stradella-Bearbeitung auf und enthält eine Zusammenfassung und das komplette Libretto in Italienisch und Englisch. Eine interessante Rarität für Liebhaber (mit Borja Quiza (Giasone), Aurora Tirotta (Medea), Roberta Mameli (Isifele), Mirko Guadagnini (Egeo), Luigi De Donato (Besso), Paolo Lopez (Delfa), Luca Tittoto (Oreste), Gaia Petrone (Alinda), Masashi Mori (Ercole), Krystian Adam (Demo), Pavol Kuban (Volano), Maria Luisa Casali (Sole), Gabriella Costa (Musica), Giuseppina Bridelli (Poesia), Gaia Petrone (Pittura), Krystian Adam (Architettura), Pavol Kuban (Satiro), Giuseppina Bridelli (Amore)
OIDI Festival Baroque Ensemble, ; Antonio Greco (Dirigent); Bongiovanni (3 CDs), GB2464/66-2).

Marcus Budwitius

Thomas Walker

Vor drei Jahren begeisterte Thomas Walker in der Premiere von Calixto Bieitos Inszenierung der Rameau-Oper Platée an der Staatsoper Stuttgart. Nun kehrt er im März 2015 in der anspruchsvollen Haute-contre-Rolle nach Stuttgart zurück. Im Interview mit operalounge.de spricht der Tenor unter anderem über die Anforderungen der Travestipartie, die Herausforderungen der Stuttgarter Inszenierung und weitere spannende Barockpläne.

Thomas Walker/Foto Robert Workman

Thomas Walker/Foto Robert Workman

Diese Spielzeit singen Sie wieder die Titelpartie in Rameaus Platée an der Stuttgarter Oper, eine Rolle „en travestie“. Worin liegt die größte Herausforderung, diese recht ungewöhnliche Partie darzustellen? Neben den hohen musikalischen Anforderungen ist die größte Herausforderung, dass man überzeugend eine Frau darstellen muss. In Bieitos Inszenierung ist Platée ein Transvestit, also nicht unbedingt eine attraktive Frau. Trotzdem muss sie meist sehr weiblich aussehen und sich vor allem wie eine Frau verhalten und bewegen. Das war erst eine große Herausforderung für mich, da Männer, die Frauen spielen, oft eher wie deine Großmutter aussehen oder einfach übertrieben theatralisch dargestellt werden, wie eine Drag-Queen. Diese Platée ist ganz anders. Sie ist sehr plump, fast schon geschmacklos, was ihre Kleidung und Sprache anbelangt. Da ich von Natur aus nicht so bin, war es erst nicht leicht, einen Weg finden, das überzeugend darzustellen.

Thomas Walker als Platée in Stuttgart/Foto A.T. Schaefer / Staatsoper Stuttgart

Thomas Walker als Platée in Stuttgart/Foto A.T. Schaefer / Staatsoper Stuttgart

Und was sind die stimmlichen Herausforderungen der Rolle? Vor allem die Tessitura. Wir führen das Stück mit einem modernen Orchester in Originaltonart auf – das heißt, dass alles ein Ganzton höher ist. Das Schwierige sind nicht einzelne Töne, sondern, dass die Rolle konstant hoch liegt. Dazu kommt noch, dass man bestimmte Effekte mit der Stimme erzeugen muss, weil viel von dem, was ich singe, das Publikum erheitern soll. Es ist also wichtig, einen Weg zu finden, die Stimme unterschiedlich einzufärben, und das in dieser extremen Lage. Das ist nicht leicht und eine wahre Kunst. Dazu kommt noch die Länge der Partie. Wenn man die Bühne erstmal betreten hat, verlässt man sie bis zum Ende des Stückes nicht mehr. Ich bin sehr froh, Teil dieser Produktion zu sein, und genieße die Herausforderungen dieser Rolle. Was wäre schon der Sinn der Sache, wenn man nicht herausgefordert wird?

In Calixto Bieitos Inszenierung müssen Sie im wahrsten Sinne des Wortes „alle Hüllen“ fallen lassen“… Das stimmt. In dieser Produktion habe ich recht komplizierte Unterwäsche an, die vor allem dazu dient, mir weiblichere Formen zu verleihen, wenn ich mein Kostüm trage. Männer haben ja keine sehr ausgeprägten Hüften und dafür gut definierte Taillen. Ich trage also die ganze Aufführung über ein gepolstertes Korsett, aber abgesehen davon ziehe ich irgendwann alles aus. In meiner Auftrittsarie muss ich meinen Penis entblößen. Für mich ist das kein so schockierender Moment, wie man vielleicht denken könnte. Es ist ein sehr privater und eigentlich ziemlich schöner, intimer Moment. Platée zieht sich an, und das Publikum schaut dabei zu. So einfach ist das. Aber ja, nackt auf einer leeren Bühne in prallem Scheinwerferlicht zu stehen, ist vielleicht nicht unbedingt etwas, das alle Sänger machen würden.

Thomas Walker als Platée in Stuttgart/ Foto A.T. Schaefer / Staatsoper Stuttgart

Thomas Walker als Platée in Stuttgart/ Foto A.T. Schaefer / Staatsoper Stuttgart

Barockrepertoire spielt in Ihrer Karriere insgesamt eine wichtige Rolle, Sie beschränken sich aber keineswegs darauf. Wie groß ist die Gefahr, als „Barocksänger“ in eine Fachschublade gesteckt zu werden? Wahrscheinlich ist diese Gefahr nicht so gering, da ich immer mehr Barockopern singe. Früher habe ich vor allem in Konzerten Barockrepertoire gesungen, und anderes Repertoire auf der Opernbühne. Aber das hat sich über die Jahre geändert. Ich sehe jedoch kein Problem darin, in eine „Barockschublade” gesteckt zu werden, da ich diese Musik liebe und froh wäre, noch viele weitere Barockpartien zu singen, die auf meiner Wunschliste stehen. Viele dieser Wunschpartien sind übrigens von Rameau! Eigentlich ist es so, dass wir modernen Sänger ein weitaus vielfältigeres Repertoire singen, als das Sänger in der Vergangenheit getan haben. Und man erwartet von uns, dass man sich nicht zu sehr in einem Feld spezialisiert, da das sonst andere Türen verschließt. Aber Dank des Inputs meiner Agentin und meinem eigenen Entscheidungsprozess hoffe ich, meinen Kalender so ausgewogen wie möglich zu halten.

Thomas Walker/Foto Robert Workman

Thomas Walker/Foto Robert Workman

Welche neuen Partien stehen in Zukunft auf Ihrem Kalender? Ich fürchte, noch mehr Barockrollen (lacht). Ohne genaue Details nennen zu können, kann ich schon verraten, dass Arnalta in L’incoronazione di Poppea kommen wird. Wieder eine Travestipartie, und wieder eine sehr schwierige. Dann kommt Sospiro in Gassmanns L’opera seria am La Monnaie in Brüssel unter der musikalischen Leitung von René Jacobs. Keine Travestiterolle, und keine besonders hohe Partie. Das geht eher in Richtung Tamino, was sicher mit der gewissen Schwere, die meine Stimme auch haben kann, toll zu singen sein wird. Ich werde dann nicht ständig daran denken müssen, den Stimmklang für die hohen Töne auszudünnen. Außerdem werde ich die Titelpartie von Händels Belshazzar singen – wieder eine Rolle, in der eher die Mittellage und die Koloraturen wichtig sind. Das wird sicher ein Riesenspaß, denn es ist schon eine Weile her, dass ich zum letzten Mal ein Oratorium von Händel szenisch gesungen habe! Von Rameau werde ich die Titelpartie von Zoroastre singen, und damit wieder zum Haute-contre-Repertoire zurückkehren. Bei Zoroastre handelt es sich jedoch im Gegensatz zu Platée um eine opera seria Rameaus, und, noch wichtiger, um einen Mann, nicht um eine Frau. Auch darauf freue ich mich sehr.

Thomas Walker als Platée in Stuttgart/ Foto A.T. Schaefer / Staatsoper Stuttgart

Thomas Walker als Platée in Stuttgart/ Foto A.T. Schaefer / Staatsoper Stuttgart

Und abgesehen davon werde ich wie immer viele Konzerte singen, die meist die Hälfte meines Kalenders füllen. Spielt das Lied in Ihrer Karriere eine Rolle? Ja, das Lied spielt eine Rolle in meiner Karriere, aber ich würde ihm sehr gerne mehr Zeit widmen. Aber es ist sehr schwierig, den richtigen Pianisten, Ort und genug Zeit dafür zu finden. Man muss wirklich intensiv mit dem Begleiter arbeiten, der beim Lied ein gleichwertiger musikalischer Partner ist und man muss eine gemeinsame Stimme finden. Das braucht seine Zeit – Zeit, die ich bisher nicht wirklich hatte, und es scheint mir nicht sehr wahrscheinlich, dass ich sie auf absehbare Zeit finden werde. Aber wer weiß…

Und in Deutschland nach der Stuttgarter Platée? Nach Platée werde ich im Juni für eine Konzerttournee mit Musik Arvo Pärts nach Deutschland zurückkehren, mit Vittorio Ghielmi an der Viola da gamba. Wir werden unter anderem bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen und in Berlin auftreten. Ebenfalls im Juni werde ich mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment in Händels Messiah beim Rheingau Musik Festival zu hören sein.

 

Thomas Walker als Ulisse von Monteverdi in London/ Foto English National Opera/ Robert Workman

Thomas Walker als Ulisse von Monteverdi in London/ Foto English National Opera/ Robert Workman

Und zum Schluss ein paar Worte über die Anfänge? Ich habe sehr spät mit dem Singen angefangen. Als ich herausfand, dass ich eine gute Stimme habe, war ich 21. Bis dahin habe ich ein wenig als Tenor in Chören gesungen, aber wirklich nur zum Spaß. Ich hatte keine Ahnung, dass ich einmal eine Karriere als Sänger machen könnte. Studiert habe ich am Royal College of Music in London mit Ryland Davies. Es war eine Zeit voll von großen Veränderungen und Entdeckungen für mich und ich werde Ryland immer sehr dankbar dafür sein, dass er mir Mut gemacht und mich so gut geleitet hat. Ich wusste nun, dass es Ernst mit dem Gesang wurde, als ich beim Royal College of Music aufgenommen wurde. Ich hatte damals schon ein anderes Studium abgeschlossen und mich dann dafür entschieden, zu schauen, wie weit mich das Gesangsstudium im Hauptfach bringen würde. Ich hatte das Glück, während des Studiums viele Gelegenheiten zu haben, aufzutreten und das hat mich auf den Weg gebracht, den ich heute noch beschreite.

Thomas Walker als Don Pedrarias Dávila in "The Indian Queen" Purcells/ in London/Foto English National Opera/ Robert Workman

Thomas Walker als Don Pedrarias Dávila in „The Indian Queen“ Purcells in London/Foto English National Opera/ Robert Workman

Bedeutend und nachhaltig wurde für mich diese Produktion von Platée. Ja, ich habe in vielen Produktionen mitgewirkt, die mich in jeglicher Hinsicht gefordert haben, aber diese Inszenierung war für mich entscheidend. Es war damals meine erste „Haute contre”-Partie und eine darstellerische Herausforderung. Es ist eine Inszenierung, von der mir der Abschied sehr schwer fallen wird, da sie etwas wirklich Besonderes ist, mit wunderschöner Ausstattung und Bühnenbild. Es wäre nicht fair, hier bestimmte Regisseure und Dirigenten zu nennen, mit denen ich besonders gut zusammengearbeitet habe. Was letztere angeht, kommt man schnell darauf, wer das sein könnte, da ich immer wieder mit denselben Dirigenten und Orchestern arbeite.

„Walker has performed Platée on stage and his experience showed in his confident (despite the frock), even macho negotiation of some fearsomely high-lying music and in expressing not just Platée’s vanity and grossness (guttural consonants spat into various faces) but also her likeability…Walker’s virtuoso turn…“  – The Times

William Ohlsson führte das Interview für operalounge.de

http://www.thomaswalkertenor.com; (und dort auch ein kurzes Live-Interview mit der BBC); facebookTwitter.com/tomwalkertenorFoto oben: Robert Workman/ Termine für die Platée in Stuttgart