Archiv für den Monat: Januar 2015

Gustaaf Francies de Pauw: „Bellida“

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Kennt irgendjemand den Namen Gustaaf Francies de Pauw? Ich nicht, muss ich gestehen, und dennoch ist er der Komponist einer faszinierenden Spät-Belcanto-Oper namens Bellida, die gerade bei der Firma 401DutchOperas.com zum Downloaden herausgekommen ist. Der Musik-Journalist und dto. Kultur-Macher René Seghers hat nach einer Serie von Live-Aufführung in Belgien die Oper 2004 mitgeschnitten und nun auf die Download-CDs/DVDs bei der genannten Organisation herausgebracht – ein Besuch auf deren Seite lohnt allemal, weil man vieles Anregendes zum Thema flämische/niederländische Musik findet.

Der Komponist: Gustaaf Francies de Pauw/401DutchOperas.com

Der Komponist: Gustaaf Francies de Pauw/401DutchOperas.com

Die Premiere erlebte Bellida 1897 in Maastricht, dann folgten Aufführungen in Amsterdam. Dann eine lange Phase des Vergessens, bis die rumänische Oper von Timisoara sich 2003 der Oper wieder annahm und sie erst zu Hause und dann 2004 in Belgien (Bergen op Zoom, Oostburg, Weert, Maastricht) wieder aufführte. Namhafte rumänische Sänger wirken mit: Nicoleta Colceiar, Florian Belean, Dan Pataca und andere unter dem Dirigenten Ladislau Rooth.

Bellida verdankt ihre Wiedergeburt dem Regisseur Frans Meewis, der in einem Buch über das Theater der Uraufführung, das Bonbonière in Maastricht, den Titel entdeckte und durch ein Foto der Originalproduktion sein Interesse geweckt sah. Die handgeschriebene Partitur (keine gedruckte, auch kein Klavierauszug) wurde transkribiert, und die Oper von Timisuara interessierte sich dafür. Laszlo Rooth besorgte die Transcripts. Und die Aufführungen in Rumänien ebenso wie Belgien waren ein großer Erfolg.

Der Plot spielt im Italien um 1800 und handelt vom Schicksal Bellidas, der Tochter des ehrgeizigen Adligen, der seine Tochter mit Gewinn mit einem Noblen verheiraten möchte, um sozial aufzusteigen. Natürlich gibt es einen anderen jungen Mann, den Bellinda liebt und der in eine Heirat mit einer ungeliebten anderen Frau getrickst wird. Am Ende stirbt der Bösewicht und Bellida bekommt ihren Lorenzo – ein Finale á la Donizetti und Manzoni, aber eben happy (nebst einer Unglücklichen und einem Toten).

"Bellida": Szene Oper Timisuara/youtube

„Bellida“: Szene Oper Timisoara/youtube

So bedient sich denn der Komponist de Pauw auch anderer Vorlagen wie Mignon, Tannhäuser, Faust oder Mireille, Don Carlo – sowohl handlungsmäßig wie auch in musikalischer Nähe, ohne in blankem Plagiatismus zu enden (schreibt René Seghers auf seiner website). Er hat durchaus seine eigene Musiksprache, scheut die großaufgebauten Szenen nicht und schafft ein wirkungsvolles Nebeneinander von Massenszenen wie auch intimen Momenten. Besondere, wie Bellidas große Arie oder sehr stimmungsvolle Duette, gehören zu den Perlen dieser Oper. Gleichzeitig ist dies auch ein gelungenes Beispiel für die musikalisch fruchtbare Periode in den niederländischen Provinzen, die heute vergessen ist und die das Vorurteil widerlegt, es gäbe kaum eigenes musikalisches Leben ebenhier.

"Bellida"/Szene Oper Timisoara/youtube

„Bellida“/Szene Oper Timisoara/youtube

Der Komponist Gustaaf Francies de Pauw (1867 Oostburg – 1943 Maastricht) wurde am Konservatorium in Gent ausgebildet und studierte dort Dirigieren und Trompete. Der Militärdienst bot ihm erste Möglichkeiten sich als Kapellmeister zu betätigen, was er nach seiner Entlassung weiterhin tat – so  beim Koninklijke Harmonie Weergalm der MaasKoninklijke Harmonie St. Caecilia EchtKoninklijke Fanfare St. Cecilia, Kanne und die  Harmonie Sint Petrus Gulpen. Ebenfalls betätigte er sich als Organist und schrieb Stücke für Bläser (Märsche, Harmoniemusiken etc.), aber auch Bühnenwerke, darunter zahlreiche Singspiele, Operetten und eine einzige Opern. 1896 heiratete er die Mezzosopranistin Charlotte Berlée. Seine opus magnum   Bellida in 3 Akten kam 1897 auf ein Libretto von J.M. Heijnens in Maastricht mit seiner Frau als Giusta heraus (vergl. auch den Eintrag bei der belgischen Wikipedia).

Liebhaber der unbekannten Großen Oper werden an der Aufnahme bei 401DutchDivas.com ihre Freude haben. Die optische (DVD-)Darstellung bleibt sehr im Konventionell-Illustrativen, neben einer mehr als anständigen musikalischen (CD-)Seite gibt es zudem ein umfangreiches pdf-Booklet mit dem Libretto und Anmerkungen zur Werk – sehr empfehlenswert und allemal 15,- Euro wert! Die Bezahlung erfolgt u. a. mit Paypal – bequemer gehts nicht. Geerd Heinsen

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Höchst Willkommen

Gut daran getan hat Berlin Classics, die CD mit Orchester-Liedern von Richard Strauss, gesungen von Michaela Kaune, aus dem Jahre 2006 mit einem leicht veränderten, frischeren Cover wieder auf den Markt zu bringen. Die Aufnahme besticht nach wie vor durch die Frische und Natürlichkeit, die eine Raffinesse und Virtuosität in der Interpretation nicht ausschließt, sondern diese auf eine höhere Ebene als die von reiner Bewältigung technischer Schwierigkeiten stellt. Bereits beim Bundeswettbewerb für Gesang, aus dem die Sängerin als Siegerin hervorging, hatte man nicht nur die Schönheit des Timbres und die technische Perfektion der Darbietungen bewundert, sondern war vor allem durch die Fähigkeit überrascht worden, wie überzeugend und selbstverständlich sich der Sopran in Charaktere wie den der Agathe, die alles andere als „modern“ zu sein scheinen,  einzufühlen wusste. Auch im weiteren Verlauf der Karriere waren es immer wieder die „altmodischen“ Mädchen- und Frauengestalten gewesen, die die Kaune überaus überzeugend und wahrhaftig zu gestalten wusste, so eine Arabella, eine Jenufa oder eine Marschallin.

Auch die Strauss-Lieder, von denen die CD bekannte und weniger vertraute und vom Text her teilweise heikle vereint, erscheinen in der Interpretation von Michaela Kaune wie der allernatürlichste Ausdruck von Empfindungen, seien es die einer jungen Mutter in Wiegenliedern oder die eigentlich für eine Männerstimme gedachten.  In Traum durch die Dämmerung  gefallen die leichte Emission der Stimme, die den verhaltenen Ton im Piano über große Bögen hinweg durchhalten kann und über „mildes Licht“ einen feinen Schimmer legt. In Wiegenlied erfreuen die Ebenmäßigkeit in den Stimmfarben, das stufenlose An- und Abschwellen des Tons und seine durchgehende Frische. In Meinem Kinde ist der innige Ausdruck, den die Stimme annimmt, besonders berührend.  Von großer Feierlichkeit, aber ohne falsches Pathos, ist der Gesang der Apollopriesterin gekennzeichnet, in dem das Strahlen der Stimme schön mit dem Aufblühen des Klangs im Orchester, der NDR Radiophilharmonie unter Eiji Oue, korrespondiert. Fein variiert wird in Allerseelen das „wie einst im Mai“, bei den dramatischen Teilen von Ruhe meine Seele bleiben die Konturen fein und klar, hat  der Sopran für „lichter Sonnenschein“ ein helles Strahlen. Cäcilie zeichnet sich durch eine zunehmende Steigerung der Ausdrucksintensität aus, eine schöne Klarheit Mein Auge. Selten hört man ein so farbiges, so konstant durchgehaltenes Piano wie in Waldseligkeit, vokaler Glanz liegt in Morgen! auf „die Glücklichen“ ein leichter Schleier auf „Schweigen“, die Diktion allerdings leidet manchmal unter dem Bemühen, mit rein klanglichen Mitteln ein Höchstmaß an Empfindung zu erreichen. So blüht die Stimme in Befreit auf „oh Glück“ auf, nimmt bei dessen letzter Wiederholung  aber eine dunkle Schattierung an.

Den letzten Teil der CD nehmen Strauss‘ Vier letzte Lieder ein, bei denen in Frühling  schwerelose Klanggirlanden gewunden werden, in September die Stimmfarben perfekt auf die des Orchesters eingestellt sind, in Beim Schlafengehen sich der Sopran wie schwerelos in höchste Höhen schraubt und in Im Abendrot  dem Erstaunen in der letzten Zeile jede Farbe entzogen wird. Berührender kann man diesen Zyklus kaum singen (BC 0300624BC).

Ingrid Wanja

Leidenschaftliches Plädoyer

Viel vorgenommen hatte sich Paolo Petronio, als er genau am 2. August 2007 auf einem Schiff im Atlantischen Ozean mit seinem Buch über Alfredo Catalani begann: die Rehabilitierung eines nach Meinung des Autors zu Unrecht zwar nicht vollkommen vergessenen, aber weit unterschätzten Komponisten. Dieses Vorhaben ist er mit so viel Leidenschaft wie Akkuratesse, so viel Kampfgeist wie Unbeirrbarkeit angegangen und hat auf 535 Seiten nicht nur ein Lebensbild Catalinas nachgezeichnet, sondern vor allem eine detaillierte, kenntnisreiche und einfühlsame Analyse sämtlicher Werke des früh verstorbenen, da von klein auf an Tuberkulose leidenden Musikers geliefert. Zahl- und umfangreiche Notenbeispiele untermauern seine Untersuchungen, wobei deren Studium durch die abfotografierten Blätter nicht einfach ist, wenn auch die Authentizität des Ganzen dadurch einen zusätzlichen Touch erhält.

 Alfredo Catalani vor der Mailänder Scala (OBA)

Alfredo Catalani vor der Mailänder Scala (OBA)

Wie viele Italiener insbesondere aus den nördlichen Landesteilen hegt der Verfasser eine gewisse Verachtung gegenüber dem eigenen Land und seinen Möglichkeiten und versäumt keine Gelegenheit, darauf hinzuweisen, wie aufmerksam man sich in „Mitteleuropa“ gegenüber dem Werk seines Favoriten verhält, wie „ordinato“ es in Institutionen jenseits der Alpen zugeht, wenn man Vergleiche mit denen Italiens anstellt. Selbst in der sehr umfang- und kenntnisreichen Diskographie schneidet dann auch die Aufnahme von La Wally unter Pinkas Steinberg mit Interpreten von diesseits der Alpen besser ab als die z.B. mit der Tebaldi, deren Sopran der „valkiria della neve“, die die Wally darstellt, nicht gewachsen war. Schnöde findet der Autor, dass die Büste Catalanis aus dem Scala-Foyer nach der Renovierung des Operhauses verschwunden ist, dass das nach ihm benannte Theater in der Nähe seiner Geburtsstadt Lucca nun „La Bomboniera“ heißt.

Von David Chandler gibt es ebenfalls eine Catalani-Monographie

Von David Chandler gibt es ebenfalls eine Catalani-Monographie

Die ersten musikalischen Eindrücke, die der Autor empfing, waren Ausschnitte aus Catalanis La Wally, weitere Begegnungen mit dessen Musik fallen mit wichtigen Ereignissen in der Familie, so dem Tod der Großmutter, zusammen. Man merkt nach wenigen Seiten, dass der Komponist für Petronio mehr als ein Studiengegenstand ist, dass Kritiker des Idols als persönliche Feinde angesehen werden wie Michelangelo Zurletti. Dagegen ist die Firma Bongiovanni in Bologna von Lichtgestalten bevölkert, ist sie es doch, die die kaum bekannten Werke aus der Frühzeit zumindest in einer Aufnahme auf den Markt gebracht hat.

Da es bereits Biographien Catalanis gibt, liegt das Hauptaugenmerk des Verfassers auf dessen Werken, besonders den Opern, aber auch die Geschichte von Triest, Südtirols, eine ausführlich Inhaltsangabe des Romans von Wilhelmine von Hillern, der die Vorlage für das Libretto von La Wally war, finden neben vielen anderen Themen, die das Schicksal Catalanis berührten, Platz in dem umfangreichen Buch. Dazu gehört auch ein Vergleich von Roman und Libretto sowie der der beiden unterschiedlichen Schlüsse der Oper.  Auch hier erweist sich der Autor als Kenner, wenn er nachweist, wie viel theaterwirksamer der Freitod Wallys im Vergleich zu dem beide Liebenden betreffenden Tod durch Lawinenabgang ist.

Ausschnitt aus dem Deckblatt zum Klavierauszug der "Loreley" Catalanis/OBA

Ausschnitt aus dem Deckblatt zum Klavierauszug der „Loreley“ Catalanis/OBA

Immer wieder kommt es zu Vergleichen zwischen Catalani und Puccini, beide aus Lucca stammend und nicht nur wegen unterschiedlichen Talents für die Oper sich voneinander unterscheidend, sondern auch durch die unterschiedliche Behandlung durch das Verlagshaus Ricordi, das Catalinis von dessen Verlegerin gekaufte Partituren zurückhielt, um Puccini zu fördern. Neben Ricordi gibt es noch andere Sündenböcke wie Toscanini, der zwar Catalani aufführte, aber sich über dessen Musik zweideutig äußerte, andererseits seine Kinder Wally und Walter nannte. Gavazzeni schneidet da weitaus besser ab. Manchmal hat man den Eindruck, dass der Autor aus Liebe zu seinem Sujet im Aufspüren von Widersachern etwas über das Ziel hinaus schießt.

Liebevoll geschildert wird di Musikstadt Lucca, wird die Familie Catalanis, nicht ohne einen Seitenhieb auf die heutige Musikausbildung. Falsche Zuordnungen wie die zu den Veristen oder dem Kreis der Scapigliati werden zurück gewiesen. Verdi wird als „rozzo contadino“ im Vergleich zum feinsinnigen, zartbesaiteten Catalani bezeichnet.

Der Hauptteil des Buches gilt den Werken des Komponisten, deren Entstehungs- und größtenteils mageren Rezeptionsgeschichte. Inhaltsangaben werden gefolgt durch Analysen der Musik, die den eigentlichen, großen Wert des Buches ausmachen. Der historische Hintergrund, soweit es einen solchen gibt, wird dem Leser zur Kenntnis gebracht. Abschließend gibt es eine Bewertung, eine Einordnung in das Gesamtschaffen und eine Darstellung der Änderungen, teilweise durch Intendanten, die man auch versteht, wenn man mit den Klavierauszügen nichts anfangen kann. La Falce, Elda, Dejanice, Edmea, Loreley (Umarbeitung von Elda und Verlegung von der Ostsee an den Rhein) und La Wally werden so nacheinander abgehandelt, wobei auch Vertonungen des Stoffs durch andere Komponisten, das trifft insbesondere auf Loreley zu, nicht nur eine knappe Erwähnung finden. Ein tabellarischer Vergleich von Elda und Loreley erweist sich durch seine Übersichtlichkeit als hilfreich.

Catalanis Grabplatte in Mailand (OBA)

Catalanis Grabplatte in Mailand (OBA)

La Wally ist auch Anlass für ausführliche Schilderungen der geographischen Gegebenheiten, wobei zum ersten Mal ein Defekt auffällt, der ansonsten typisch für italienische Autoren ist: die Fehler beim Schreiben ausländischer Namen. Hier gibt es nun mal ein Schnals (richtig), mal ein Schnalz oder gar ein Schmalz als Ortsangabe, während zuvor der Verfasser seine Hochachtung gegenüber Mitteleuropa auch durch die korrekte Schreibweise von Namen aus diesem Bereich bewies. Dass La Wally nach Petronio eine „opera tedesca“ ist, dürfte umstritten, die Entscheidung aber nicht von besonderer Relevanz sein.

Abschließend vor dem umfangreichen Anhang stellt sich Petronio noch einmal die Frage nach den Gründen für die mangelnde Popularität seines Helden und findet sie in der zu intensiven sinfonischen Orientierung auch seiner Opern, der Melancholie ohne kraftvolle Handlung, dem Mangel an Leidenschaft bei den Personen und- natürlich- Verleger Ricordi. In dem Verfasser seiner Biographie jedenfalls hat der Komponist posthum den leidenschaftlichen Unterstützer gefunden, der ihm zu Lebzeiten versagt blieb (2014 Zecchini Editore, ISBN 978 88 6540 111 8)

Ingrid Wanja                

Hochspannung in Luzern

Wilhelm Furtwängler hat sich zeitlebens mit Beethovens Neunter auseinander gesetzt. Er hat das Werk nach Recherchen des Musikpublizisten Herbert Haffner, der eine umfangreiche Biografie über den Dirigenten verfasste, einhundertdrei Mal aufgeführt. Nach bisherigem Stand haben sich dreizehn Aufnahmen erhalten, zwölf sind im Laufe der Jahre zugänglich gewesen, ein Mitschnitt von 1949 aus der Mailänder Scala befindet sich angeblich in Privatbesitz. Welche ist die ergreifendste, gelungenste, gar beste? Darüber ließe sich trefflich streiten. Und es wird auch immer noch gestritten. Fest hingegen steht nur eines: Der Mitschnitt vom 22. August 1954 aus dem Kunsthaus Luzern ist der letzte. Zunächst war er beim Label Tahra in sehr angemessener Klangqualität zu haben. Jetzt hat sich Audite noch einmal die Originalbänder des Rundfunks vorgenommen und ein Remastering auf den Markt gebracht, das diesen Namen auch verdient (95.641). SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) hat die Konzerte des traditionsreichen Lucerne Festival, das 1938 mit dem von Arturo Toscanini geleiteten „Concert de Gala“ begann, übertragen. Daraus hat das Label Audite seine eigene Reihe mit – wie es im Booklet heißt – „herausragenden Konzertmitschnitten“ entwickelt. Man darf also gespannt sein, was als nächstes folgt.

Furtwängler hatte die Sinfonie 1954 zweimal aufgeführt. Das erste Konzert fand am 21. August statt. Es spielt das von EMI-Chefproduzent Walter Legge ursprünglich als reines Schallplattenochester gegründete Philharmonia Orchestra London, es singt der Festivalchor Lucerne. Die Solisten sind Elisabeth Schwarzkopf (Sopran), Elsa Cavelti (Alt), Ernst Haefliger (Tenor) und Otto Edelmann (Bass). Ein Vierteljahr nach dem Gastspiel, nämlich am 30. November, ist Furtwängler gestorben. Von zunehmender Schwerhörigkeit geplagt, vom schwierigen Neubeginn nach dem Ende des Nationalsozialismus mit dem zähen Entnazifizierungsverfahren zermürbt, soll ihn der Lebenswille verlassen haben.

Es ist darüber spekuliert worden, ob das nahe Ende in dem Konzert gar schon anklingt. Im Nachhinein weiß man es immer besser. So verführerisch derlei Gedankenspiele sind, ich halte davon nichts. Dafür gibt es zu viele Übereinstimmungen mit vorangegangenen Aufnahmen. Etwa mit der Aufführung der Sinfonie bei der Eröffnung der ersten Bayreuther Festspiele nach dem Krieg am 29. Juli 1951. Der Mitschnitt ist offiziell bei der EMI herausgekommen und immer wieder neu aufgelegt worden. Die Schwarzkopf und Edelmann waren auch schon dabei. Der unbestimmte, zögernde, ja nervöse Beginn, wie ihn nur Furtwängler hinbekam, das breite Zeitmaß, das hintergründige Scherzo mit den harten, erbarmungslosen Pauken, das hingebungsvolle Adagio, in dessen Verlauf die Zeit stehen zu bleiben scheint, der Mut zu Pausen, in denen sich die Spannung bis zur Unerträglichkeit aufbaut, die Wucht des Finales mit dem rasenden Einstieg, den peitschenden Becken, dem Drängen, der beängstigenden Eile zum Schuss hin. Das exklusive Solistenquartett, aus dem sich die einzelnen, sehr individuellen Stimmen deutlich herausheben und der Chor stehen genau so unter Furtwänglers Bann. Sie sind wie angesteckt. Mehr geht nicht. Ist der letzte Ton verklungen, ist es auch wie eine Erlösung. Länger hält man Furtwänglers Hochspannung nicht aus.

Rüdiger Winter

 

Auch 2015: Strauss geht immer

Das Richard-Strauss-Jahr ist Geschichte. Gedacht wurde 2014 seines 150. Geburtstages. Strauss kam am 11. Juni 1864 in München zur Welt. 2014 hatten aber auch Gluck, der Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel (300. Geburtstag) und Rameau (250. Todestag) wenig gefeierte Jubiläen. Da gab es kein besonders großes Aufhebens. Die Feierlaune hielt sich in Grenzen. Stehen runde Jahrestage ins Haus, werden meist jene am meisten gefeiert, die es gar nicht nötig hätten. Strauss ist so einer. Denn es ist eigentlich immer Strauss-Jahr. Nicht nur in Deutschland. Seine Opern, Tondichtungen und Lieder werden ständig und überall aufgeführt, meistens dieselben. Sie sind Renner, mit denen sich Opernhäuser und Konzertsäle locker füllen lassen. Strauss geht immer. Er ist eine sichere Bank für Regisseure, Dirigenten und Sänger. Nach einem Jubiläum ist vor einem Jubiläum. Gewiss werden gelegentlich runder Geburts- oder Todestage auch Zeichen gesetzt, die Aufmerksamkeit verdienen: Rosenkavalierohne Striche im Sommer in Salzburg, an gleicher Stelle zu Ostern die Arabellamit einem zusätzlichen Vers für die Fiakermilli, Schlagobersin München, die selten anzutreffende Feuersnotin Dresden, ein neues Intermezzo und sämtliche Lieder mit Klavierbegleitung auf CD. Das sind für mich Highlights gewesen – und nicht die dreißigste Salomein Wer-weiß-wo.

1-Buch - Strauss, der PatriarchDoch vergessen wir die Bücher nicht. Es gab interessanten Zuwachs und neue Auflagen alter Titel, verteilt über das Jahr. Eine kompakte Edition aller Texte, die Strauss vertont hat, ist nicht darunter. Sie wäre so nötig wie überfällig. Bücher sind besonders haltbar, womöglich haltbarer noch als CDs, auf jeden Fall haltbarer als jede Inszenierung. Sie bleiben lange bei uns. Zeitlosigkeit schwebt über dem neuen Buch Der Patriarch von – jetzt nicht wundern – Arthaus, dem auf Filme spezialisierten Label. Dort waren bereits die wichtigsten Opern auf DVD und die Dokumentation Richard Strauss and his Heroines herausgekommen. Nun also ein Buch mit DVD – oder eine DVD mit Buch? Für eine Reihenfolge kann ich mich nicht entscheiden. Wer sich in die Neuerscheinung mit dem Untertitel Richard Strauss und die Seinen versenkt, fühlt sich von der Pracht der Fotos wie erschlagen. Ich habe Stunden damit zugebracht, konnte mich nicht satt sehen. Vieles ist neu. Das Familienarchiv ist weit geöffnet worden. Strauss in allen Lebenslagen – mit Angehörigen, mit Weggefährten, Künstlern, Sängern und mit Goebbels am Kamin, beim Skat, im Badeanzug, auf dem Eis, im Schnee, auf der Akropolis, unter ägyptischen Palmen. Immer Herr. Selbst Schnappschüsse zeigen ihn mit Haltung. Kein Foto geht daneben. Er sticht immer heraus, egal welchen Alters er ist. Strauss, der Gentleman, der sich offenbar nie gehen ließ und immer die Form wahrte. Sein Kleiderschrank muss beträchtliche Dimensionen besessen haben. Der Mann hatte Geschmack, von frühester Jugend an. Selbst bei der Bergwanderung oder auf dem Pferd ist er in feinsten Zwirn gewandet. Fast immer die selbstgebundene Fliege, nie ohne Weste, am Schreibtisch in der eleganten Hausjacke, die völlig aus der Mode gekommen ist.

Familie Strauss mit dem Schauspieler Emil Tschirch (l.) vor einem Umkleidewagen auf Sylt.

Familie Strauss mit dem Schauspieler Emil Tschirch (l.) vor einem Umkleidewagen in Westerland auf Sylt. Foto: © Richard-Strauss-Familienarchiv/Arthaus

Es wird offenbar, dass es Zusammenhänge gibt zwischen Strauss in seiner äußeren Erscheinung und Strauss als Komponist. Der Bürger als Künstler. Zumindest aber hätte das Thema ein eigenes Kapitel abgeben können. Nun will diese Neuerscheinung nicht nur Bilderbuch sein. Der Inhalt, an dem mehrere Autoren Anteil haben, holt weit aus, bleibt am Buch-Titel nicht sklavisch hängen. Thomas Voigt steuert ausführliche Betrachtungen zu Sängerinnen von Strauss-Partien bei. Frau Pauline, der „Geliebten und Muse“ des Komponisten wird mit Briefen sowie mit Erinnerungen von Gabriele Strauss, der Tochter von Hans Hotter, die den älteren Enkel Richard geheiratet hatte, gedacht. Darin geht es natürlich auch um den handfesten Ehekrach, der Strauss als Vorlage für seine Oper Intermezzo diente. Mit Themen wie „Strauss und das liebe Geld“ oder „Strauss und die Macht“ werden auch jene Seiten seines Lebens gestreift, die ihm Kritik bis völliges Unverständnis einbrachten.

Das Buch und der Film von Marieke Schroeder und Barbara Wunderlich sind inhaltlich eng miteinander verknüpft. Es ist gewiss mehr als fünfzehn Jahre her, dass ich auf einer Reise in den Süden Station in Garmisch machte und entschlossen an der Haustür der Villa Strauss klingelte. Ich wollte hinein. Mir wurde freundlich aufgetan und bedeutet, dass mein Begehren der Familie vorgetragen würde. Ich solle am nächsten Vormittag wiederkommen. So geschah es, und ich wurde eingelassen. Die mit Kunstwerken vollgestopfte Diele, die Treppe nach oben, das Arbeitszimmer mit dem geschwungenen Schreibtisch, der eigens für diesen Raum angefertigte Flügel, das Esszimmer – Behaglichkeit vom Allerfeinsten. Es war ein erbebendes Gefühl, alles, was ich von Fotos kannte, nun im Original vor mir zu sehen. In der oberen Etage das Sterbezimmer, einfach wie die meisten Sterbezimmer großer Geister. Wer durch dieses Haus geht, der kommt Strauss sehr nahe. So will es auch der Arthaus-Film. Gabriele Strauss bittet nun persönlich die Zuschauer herein. Inge Borkh und Brigitte Fassbaender sind schon da. Man kennt sich. Plaudert bei Kaffee und Gebäck wissend über den Meister. Beide Sängerinnen haben mit ihren Strauss-Partien Operngeschichte geschrieben, die Borkh als Elektra, Salome und Färbersfrau, die Fassbaender als Octavian, Klytämnestra, Herodias und Clairon. Die Führung durch die Räume ist sehr persönlich gehalten, selbst Schränke mit der wohl sortierten Tischwäsche tun sich auf. Mit verschieden Gesprächspartnern werden Themen, die auch gedruckt schon abgehandelte wurden, wieder aufgenommen. Die 52 Minuten vergehen wie im Flug.

Rüdiger Winter

Der Patriarch – Richard Strauss und die Seinen, mehrere Autoren, Arthaus Musik, 128 Seiten, sehr viele Fotos, inklusive DVD, ISBN 978-3-86923-200-3.

 

strauzssDer Dokumentarfilm RICHARD STRAUSS AND HIS HEROINES erhält einen der begehrten International Classical Music Awards (ICMA) 2015 in der Kategorie „DVD Documentaries“.  Dazu die Firma Arthaus: RICHARD STRAUSS AND HIS HEROINES folgt der Spur der   unvergesslichen Strauss’schen Heroinnen. Regisseur Thomas von Steinaecker nähert sich mit Interviews großer Strauss-Sängerinnen an das Frauenbild und die feminine Seite des Jahrhundert-Komponisten. Wie keinem anderem gelang es  Richard Strauss, feinste weibliche Gefühle in Musik zu übersetzen. Davon berichten Brigitte Fassbaender, Renée Fleming, Dame Gwyneth Jones und Christa Ludwig. Gleichzeitig erzählt der Film die Geschichte von der bewegten und bewegenden Liebe zu Pauline, der wichtigsten Frau in Richard Strauss’ Universum und treue Gefährtin in 55 Jahren Ehe. Die ICMA werden seit 2011 verliehen und sind der einzige internationale und unabhängige Musikpreis. Die Jury setzt sich aktuell zusammen aus 16 Musikkritikern der wichtigste Musikmagazine, Radiosender und Online-Dienste. Für die ICMA 2015 waren 248 Produktionen von 85 Labels nominiert. Neben den 15 CD- und DVD-Kategorien wurden acht Special Awards ausgelobt. Die Preisverleihung findet am 28. März 2015 mit einem Gala-Konzert des Bilkent Symphony Orchestra  in Ankara statt.. 

Buch - Strauss und WienOrtwechsel. Die Bahn braucht um die sechs Stunden von Garmisch nach Wien. Mit dem Auto geht es auch nicht viel schneller. Zu Straussens Zeiten dürfte die Fahrt länger gedauert haben. Er musste sie sehr oft zurücklegen. Des Kaisers Hauptstadt also, wo Rosenkavalier und Arabella spielen, wo 1916 die zweite und endgültige Fassung der Ariadne auf Naxos, 1919 Die Frau ohne Schatten und 1924 das Ballett Schlagobers uraufgeführt wurden. Das Buch Durch die Hand der Schönheit widmet sich der segensreichen Liaison des Komponisten mit der Stadt. Geschrieben hat es Christoph Wagner-Trenkwitz (auf dem Buchumschlag zu sehen), der österreichische Dramaturg und Musikwissenschaftler, der gelegentlich auch als Moderator auftritt. Ein Mann mit Theatererfahrung und feinem Gespür für die Bühne, einer, der sich auskennt in Wien. Davon lebt das Buch, das schon im Titel mit einem Zitat von Arabellas Mutter Adelaide die Nähe zu Oper sucht. Es ist flott geschrieben, überquellend von Fakten, Ereignissen, Zitaten und Zeitzeugenberichten. Für Spekulationen ist kein Platz. Meine Erkenntnis aus der Lektüre: Strauss und Wien, das ist am Ende doch die Quintessenz der Verwurzelung des Künstlers, obwohl wesentlich mehr Opern aus seiner Feder, nämlich neun, in Dresden erstmals auf die Bühne kamen, obwohl er so viele Jahre im geliebten Garmisch zubrachte, wo er auch starb. In Wien leitete Strauss von 1919 bis 1924 gemeinsam mit Franz Schalk die Hofoper. Er setzte neue Maßstäbe für die Spielplangestaltung, eigene Werke kamen dabei nicht zu kurz, seine Säulenheiligen Wagner und Mozart auch nicht. Deren Werke leitete er oft selbst. In den von Strauss dirigierten Konzertprogrammen fehlte ganz selten ein Stück von ihm. Mancher Abend bestand ausschließlich aus Strauss. Der hatte offenbar kein Problem damit, auf diese Weise auch das eigene Konto, das durch den verloren Weltkrieg leer geräumt war, schnell wieder aufzufüllen. Auf der Habenseite seines Wiener Wirkens steht auch die Rückgewinnung des traditionsreichen Redoutensaal in der Hofburg für Opern- und Konzertaufführungen. Er hatte sich sehr stark dafür gemacht. Auch nach seiner Abdankung als Operndirektor blieb Strauss Wien fast bis zum Ende des Nationalsozialismus verbunden, erwarb eine Villa, die er faktisch mit Originalpartituren bezahlte.

Ein Blick in das "Strauss-Schlössl" in der Wiener Jacquingasse, das der Komponist mit Originalpartituren bezahlte.

Ein Blick in das komfortable „Strauss-Schlössl“ in der Wiener Jacquingasse, das der Komponist mit wertvollen Originalpartituren bezahlte. Foto: © Richard-Strauss-Familienarchiv/Arthaus

In Wien suchte Strauss aber auch die Nähe zu Gauleiter und Reichsstatthalter Baldur von Schirach, der 1946 in den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrecher zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde. Obwohl als ausgewiesener Antisemit für die Deportation Zehntausender österreichischer Juden in die Vernichtungslager verantwortlich, breitete er seine schützende Hand über die Schwiegertochter von Strauss, Alice, eine Tochter des jüdischen Industriellen Emanuel von Grab. Nicht aus Menschenliebe, wie es Strauss missverstanden haben mochte, denn er zeigte sich überschwänglich dankbar. Schirach wollte einzig mit der Anwesenheit des bedeutendsten lebenden deutschen Komponisten in „seiner“ Stadt propagandistisch punkten und zeigte sich aus Berechnung gütig. Wagner-Trenkwitz erspart seinen Lesern die harten Fakten nicht. Wer Strauss gerecht werden will, muss ihn einerseits in seiner Not zeigen, der Frau des Sohnes und den Enkeln durch einen Teufelspakt zur Seite stehen zu müssen, andererseits in seiner opportunistischen Schwäche, unter der nationalsozialistischen Herrschaft auch auf eigene Rechnung Kasse zu machen.

Seinen praktischen Nutzen als Nachschlagewerk gewinnt das Buch durch diverse Anhänge und die auch grafisch abgesetzten Dokumentationen der Wiener Aufführungen der Opern von Strauss, die dem Buch ein stabiles Gerüst geben. Es wurden Daten, Besetzungen und allerlei Hintergründe bis hinein in die Gegenwart angehäuft. Dadurch gewinnt es an Aktualität. Ich habe mich besonders gern und ausdauernd bei diesen Abschnitten aufgehalten. Sie vermitteln den außerordentlichen hohen Standard, der in Wien von Anfang an den Werken von Strauss zuteil wurde, bis zu den kleinsten Rollen. Zum Glück hat einiges davon auf Tonträgern überdauert.

Rüdiger Winter

Christoph Wagner-Trenkwitz. Durch die Hand der Schönheit – Richard Strauss und Wien, Verlag Kremayr & Scheriau Wien, 304 Seiten, zahlreiche Fotos, ISBN978-3-218-00911-9

 

Buch Strauss Wiener TheatermuseumDas Wiener Theatermuseum, schon oft für seine opulenten Ausstellungen gerühmt, hat den 150. Geburtstag von Richard Strauss natürlich nicht verstreichen lassen, ohne dem der Stadt so stark verbundenen Komponisten eine grandiose Würdigung zu Teil werden zu lassen. Noch schöner, dass diese temporäre Retrospektive ihren Niederschlag in einem üppig gestalteten Katalog gefunden hat, der die Strauss-Literatur im Jubiläumsjahr nicht unwesentlich bereichert. Nun kann das Museum auf einen reichen Bestand an Material über Strauss und seine Tätigkeit in Wien zurückgreifen, damit allein wollte man sich aber wohl nicht begnügen. Auch das Archiv der Wiener Philharmoniker konnte einiges an Material beisteuern, vor allem aber das Richard-Strauss-Archiv in Garmisch stellte umfangreiche Exponate zur Verfügung.

Entstanden ist keineswegs nur ein hoch interessanter Bildband, vielmehr finden sich auf den reichlich zweihundert Seiten auch sehr lesenswerte Wortbeiträge. Laurenz Lütteken schreibt über Strauss und das 20. Jahrhundert, Jürgen May gibt einen Einblick in die Komponier-Werkstatt, die zeitweilige Wiener Operndirektion von Strauss wird von Andreas und Oliver Lang gewürdigt, von Thomas Leibnitz Wien als atmosphärischer und dramaturgischer Faktor in den Opern von Strauss untersucht. Im Beitrag „Die Bühne als Raum-Bild“ beschreibt Alexandra Steiner-Strauss die Ausstattungen Alfred Rollers für Strauss-Opern. Des Weiteren wird untersucht, welche Rollen Strauss-Librettisten gespielt haben und wie sich Strauss im Dritten Reich verhalten hat. Briefe und Werkautographen aus der Handschriften-Sammlung des Theatermuseums, eine Biographie in Stichworten und Bildern und ein Interview mit der Sängerin Brigitte Fassbaender bereichern den sehr liebevoll und edel mit Fadenheftung gestalteten Band. Besonders prächtig werden die Bühnenbild-und Kostümentwürfe Rollers wiedergegeben, Abbilder einer opulenten Theaterästhetik, die in der Gegenwart mehr und mehr verloren geht. Wie werden wohl einst die zeitgenössischen Dekorationen in einem Buch über Strauss‘ 200. Geburtstag aussehen?

Peter Sommeregger

Christiane Mühlegger-Henhapel und Alexandra Steiner-Strauss: Richard Strauss und die Oper – „Trägt die Sprache schon Gesang in sich…“, Residenz-Verlag, 176 Seiten, zahlreiche Fotos, ISBN 978-3701733354

 

1-Buch - Strauss - Ender„Die Leute bitten um Kritik, aber sie wollen nur gelobt werden.” Dieser Aphorismus des englischen Erzählers William Somerset Maugham findet sich auf der Internetseite des österreichischen Musikwissenschaftlers Daniel Ender, der eines der interessantesten – wenn nicht gar das interessanteste Buch – zum Richard-Strauss-Jahr 2014 vorgelegt hat. Sein Titel: Richard Strauss – Meister der Inszenierung. Damit hat der Autor zumindest aus meiner Sicht gleich am Anfang sein Lob weg. Es ist verdient. Warum? Ender, um die vierzig, hat nach der Matura 1993 am Musikgymnasium Feldkirch zunächst Klavier und Orgel studiert, später Musikwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Sprachwissenschaft an der Universität in Wien. Nach der Promotion war er Lehrbeauftragter an diversen Universitäten, wirkte als freier Autor und ist seit 2011 Chefredakteur der Österreichischen Musikzeitschrift. Ein Mann vom Fach, der neue Fragen stellt, sich Strauss zwar mit Respekt nähert, doch nicht in Ehrfurcht erstarrt. Er bohrt tief hinein in dieses lange Komponistenleben, das zwar von zwei verheerenden Weltkriegen betroffen, aber nicht eigentlich in seinen Grundfesten erschüttert wurde.

Nach eigenem Bekunden wollte Ender „keine klassische Biographie“ schreiben, obwohl er genau den einzelnen Lebensstationen folgt. Diese ist auch 75 Jahre nach dem Tod von Strauss noch nicht zu realisieren. Zu unübersichtlich und unerforscht ist die Quellenlage, Strauss widerspricht sich oft selbst, legt absichtlich falsche Spuren, stellt Sachverhalte und Ereignisse nach den unterschiedlichsten Seiten hin genau so unterschiedlich dar. All das will erforscht werden. Briefe, die in die Zehntausende gehen, sind noch nicht vollständig zugänglich. Sie stellen aber die wichtigsten Selbstzeugnisse dar. Strauss war ein äußerst tüchtiger Briefeschreiber. Es liegt also in der Natur der Sache, dass sich in die bisherigen biographischen Annäherungen Fehler, Unstimmigkeiten und Ungenauigkeiten eingeschlichen haben. Sie werden gern fortgeschrieben und verbreiten sich gerade durch das Internet gleich einer Kettenreaktion. Was einmal unterwegs ist, lässt sich nicht so leicht zurückholen.

Strauss´ Werk selbst ist mitnichten bis in alle Einzelheiten für den allgemeinen Gebrauch erschlossen. Rätsel geben nach wie vor einzelne Fassungen von Opern auf, darunter der 1940 in Weimar neu belebte Guntram. Schallplattenproduktionen sind oft über Unterschiede einfach hinweg gegangen. Booklets werden immer dürftiger. Nachdem erst vor wenigen Wochen vom Label Two Pianists die vermeintlich kompletten Klavierlieder auf CD vorgelegt wurden, einschließlich jener Titel mit Ergebenheitsaderessen an Machthabende des Dritten Reiches, überrascht Ender mit noch einem unappetitlichen Opus für den Generalgouverneur im besetzen Polen, Hans Frank, von 1943. Den Text dazu hatte Strauss selbst verfasst. Im Werkverzeichnis von Franz Trenner (W. Ludwig Verlag), zur weiterführenden Beschäftigung sehr zu empfehlen, wird zumindest der Anfang des Liedes zitiert: „Wer tritt herein so fesch und schlank? Es ist der Freund Minister Frank …“ Frank, ein Kriegsverbrecher der allerschlimmsten Sorte, wurde 1946 in Nürnberg hingerichtet. Offenbar hatte er Strauss vor der Einquartierung von notleidenden Menschen in seiner Garmischer Villa bewahrt, die durch Bombardierungen obdachlos geworden waren. Ender erspart seinen Lesern und Richard Strauss selbst nichts.

Der Autor Daniel Ender. Das Foto entnahmen wir dem Schutzumschlag seines Buches

Der Autor Daniel Ender. Das Foto entnahmen wir dem Schutzumschlag seines Buches

Und doch gewinnt das Kapitel über den Nationalsozialismus kein überproportionales Gewicht. Es wird als Teil des Lebenslaufes verstanden und dargestellt – nicht reißerisch, aber so kritisch wie nötig. Gleich nach Kriegsende gab es Bestrebungen, die Verstrickungen des Komponisten zu glätten oder gar zu tilgen. Sie sind gescheitert, haben im Jahr seines 150. Geburtstages keine Chance mehr. Obwohl Strauss nach dem berühmten, von der Gestapo abgefangenen despektierlichen Brief an Stefan Zweig, den jüdischen Dichter und Librettisten der Schweigsamen Frau, schließlich in Ungnade fiel bei den braunen Machthabern, war er deshalb ebenso wenig Gegner des Regimes wie er kein Nazi war. Für ihm blieben seine Bedürfnisse und die möglichst einträglichen Aufführungen eigener Werke Richtschnur seines Verhaltens. Er sorgte sich um seinen Nachruhm. Dabei scheute Strauss nicht davor zurück, Werke von Verdi oder Gounod zu denunzieren, nur um sich gehörig in den Vordergrund zu schieben in der Nachfolge von Mozart, Beethoven und Wagner. Dabei hatte er das gar nicht nötig. Er war schon zu Lebzeiten ein Klassiker. Und Hitler selbst wird es nicht gern gehört haben, wenn Strauss an Operetten mit Ausnahme der Fledermaus kein gutes Haar ließ. Hitler liebte Operetten und den von Strauss gehassten Franz Lehár.

Ender arbeitet detailreich. Er beruft sich auf sehr viele Quellen und einen Großteil der bislang vorliegenden Strauss-Literatur, deren Verzeichnis im Anhang beträchtlich ist. Niemals verfällt er ins Anekdotische. Oberste Priorität haben Fakten und Zitate. Sein Stil ist klar und elegant. Es macht Spaß, dieses Buch zu lesen. Nur an ganz wenigen Stellen geht der Zeigefinger in Anschlag, wenn Ender seinen Lesern in Klammern gesetzt die Bedeutung solcher etwas aus der Mode gekommenen Worte wie Ukas oder Widerspiel erklären zu müssen meint. Am Schluss bringt er die Rede auf den Film Richard Strauss – ein Leben für die Musik, der 1949 gedreht wurde. Ausschnitte geistern seit Jahren durch die verschiedensten Dokumentationen, die im Fernsehen gezeigt wurden. Ender zählt auf, was in dem Film alles zu sehen ist. Und er zitiert den Sprecher mit den pathetischen Worten: „Unbeirrt von Krisen und Schlagworten ist Richard Strauss seinen Weg gegangen. Als versöhnende Friedensbotschaft klingt seine Musik über die Kontinente und wird im Bewusstsein vieler kommender Generationen fortleben“ – um aus eben diesen Schlagworten den hintergründigen Schluss seines Buches abzuleiten: „Im großen Welttheater war Richard Strauss eine Figur, die es verstand, noch in der ernstesten Lage mit einer Mischung aus emotionaler Dramatik und souveräner Distanz von sich reden zu machen. Die Inszenierung war dabei zumindest ebenso meisterhaft wie das Stück.“

So schön, so gut. Der Autor übersieht, dass der Film in ganzer Länge heute unbekannt ist. Meine Bemühungen, seiner habhaft zu werden, waren bisher nicht von Erfolg gekrönt. Ich würde ihn endlich lieber selbst sehen, statt ihn erzählt oder häppchenweise vorgesetzt zu bekommen. Es wäre wirklich an der Zeit, den Dokumentarstreifen in voller Länge auf DVD zugänglich zu machen. Sonst bleibt es beim „Herrschaftswissen“. So kommt zum dicken Lob für die Neuerscheinung nun doch ein kritischer Einwand hinzu. Die noch so ausführlichste Beschreibung ist zwar gut überlegt, doch letztlich kein Ersatz des Originals.

Meister der Inszenierung! Mir scheint, Daniel Ender hat mit der Wahl dieses Untertitels seines Buches das Wesen des Lebenslaufes von Strauss genau erfasst. Insofern kann es ein Grundstock der noch zu schreibenden großen Biographie sein, die bei diesem Autor in guten Händen läge. Jung genug für diese große Aufgabe ist er ja.

Rüdiger Winter

Daniel Ender: Richard Strauss – Meister der Inszenierung, Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar, 349 Seiten, 27 Abbildungen, ISBN 978-3-205-79550-6

P.S. Wie Daniel Ender inzwischen dankenswerter Weise mitteilte, wird die Dokumentation, die nur wenige Minuten dauert, auch im Bundesfilmarchiv Berlin aufbewahrt: http://www.bundesarchiv.de/benutzungsmedien/filme

 

Buch - Strauss-HandbuchWer bei der Salzburger Arabella, Ostern 2014, genau hingehört hat, dem ist nicht entgangen, dass sich die Fiakermilli im zweiten Aufzug irgendwie anders anhörte. Sie hatte auch mehr zu singen als sonst. Wie das? In den einschlägigen Kritiken, die ich gelesen habe, fiel dieser Umstand nicht auf. Ein neues Buch gibt Aufschluss. Es handelt sich um das Richard Strauss Handbuch, pünktlich zum 150. Geburtstag des Komponisten auf den Markt gelangt. Auf Seite 232 ist nachzulesen: „Auf Wunsch des Dirigenten Clemens Krauss erweiterte Strauss im Juli 1942 für eine Neuinszenierung bei den Salzburger Festspielen das Lied der Fiakermilli … um eine achtzeilige Strophe, zu der Rudolf Hartmann den Text lieferte … “ Dieser Zusatz fehle aber in allen Ausgaben – was angesichts des genialen Librettos von Hugo von Hofmannsthal nur zu verständlich ist. Offenbar blieb Strauss doch beim Original. Ist das der Grund dafür, dass die im gleichen Jahr – nämlich 1942 – in Salzburg entstandene Aufnahme, die bei verschiedenen Labels erschienen ist, ebenfalls auf den Zusatz verzichtet? Im Buch führt Ulrich Konrad, Autor des entsprechenden Kapitels, das von Krauss dirigierte Tondokument zwar unter den diskographischen Hinweisen, eine Begründung für die Weglassung liefert er nicht. Dass sich im Strauss-Jahr 2014 Regisseurin Florentine Klepper und Dirigent Christian Thielemann in Salzburg zu der Erweiterung, die allerdings musikalisch nicht sehr viel hermacht, entschlossen haben, ist sehr löblich. So stellt man sich Festivalarbeit vor.

Das Handbuch ist voller solcher interessanter Details, die Fassungen betreffend. Manchmal gibt es sich auch einsilbig. So ist beispielsweise der große Strich in Elektra nicht thematisiert. Im Original hat Elektra in der Auseinandersetzung mit Klytämnestra zum Schluss hin gute dreißig Zeilen mehr Text und Musik. Komplette Aufführungen scheiterten oft daran, dass sich Sängerinnen – wie beispielsweise Inge Borkh – diese enorme zusätzliche Leistung nicht zutrauten. Birgit Nilsson traute sich unter Studiobedingungen mit Georg Solti am Pult bei der Decca. Beim Hinweis auf die Einspielung hätte dieser wichtige Zusatz einem Handbuch wie diesem gut gestanden. Es wäre auch dringend erforderlich gewesen, in der knapp gehaltenen Diskographie zur Frau ohne Schatten die Wiener Produktion von 1955 unter Karl Böhm zu nennen, die bis heute künstlerisch nicht überboten werden konnte. Vergeblich sucht man auch die erste komplette Einspielung, die Wolfgang Sawallisch seinerzeit für die EMI leitete und die bei ihrem ersten Erscheinen 1987 großes Aufsehen erregte. Apropos EMI. So sinnvoll diskographische Tipps im Grunde sind, viele waren bei Erscheinen des Buches bereits hinfällig. EMI, die Maßstäbe setzte bei Strauss-Produktionen, gibt es nicht mehr, und damit sind auch die Bestellnummern verfallen. Pech gehabt.

Richard Strauss mit Michael Bohnen bei den Dreharbeiten zum Rosenkavalier-Stummfilm, der kein Erfolg wurde. Foto: © Richard-Strauss-Familienarchiv/Arthaus

Richard Strauss mit Michael Bohnen bei den Dreharbeiten zum „Rosenkavalier“-Stummfilm, der kein Erfolg wurde. Foto: © Richard-Strauss-Familienarchiv/Arthaus

Im Großen und Ganzen aber reflektiert dieses Buch den aktuellen Stand der Forschung und der praktischen Beschäftigung mit Strauss – auch in seinem kulturpolitischen Wirken, das sich umfangreich dargestellt findet. Ein willkommenes Angebot ist der weiterführende Literaturapparat zu einzelnen Werken und Werkgruppen, der dem praktischen Handbuch wissenschaftlichen Standard verleiht. Entsprechend der Gewichtung im Gesamtwerk bilden die Opern die größte Abteilung mit Inhaltsangabe, Orchesterbesetzung, Entstehungsgeschichte, Kommentar. In den Beschreibungen der Wirkung der Opern führen Verknappungen auch zu Verzerrungen. So ist von „wichtigen Inszenierungen“ die Rede, die in ihrer Wichtigkeit aber nicht erklärt werden, schon aus Platzgründen dürfte das nicht möglich gewesen sein. Auch über die Nennung der „allerbesten Sänger“ ließe sich streiten. Da fehlen zu viele Namen, und nicht alle, die genannt werden, haben das verdient in einem Buch, das für lange Zeit verbindlich sein will. Dicht gedrängte Materialfülle ohne Ende breiten die beiden Kapitel über das Liedschaffen aus, das mit etwa zweihundert Titeln nicht eben klein ist. Autoren sind Elisabeth Schmierer und Christian Thomas Leitmeir. Sie arbeiten die Unterschiede zwischen Klavierliedern und Orchesterliedern genau heraus, ordnen das Liedschaffen in das Gesamtschaffen ein, heben auf die literarischen Vorlagen ab usw. Spannend ist der Hinweis auf die Orchestrierung des Liedes Ganymed von Franz Schubert durch Strauss, das den Beginn der eigenen Beschäftigung mit dieser Liedform markierte, die ihn bis ans Lebensende begleitete. Auch das sagenumwobene allerletzte Klavierlied Malven findet gebührende Würdigung. Thielemann hatte es ebenfalls bei den Salzburger Osterfestspielen auf sehr spektakuläre Weise ins Programm genommen, indem er von Wolfgang Rihm eine Orchesterfassung herstellen ließ, die in den Vortrag der traditionellen Vier letzten Lieder durch Anja Harteros an zweiter Stelle eingegliedert wurde. So wurden aus ursprünglich vier, fünf letzte Lieder. Auch das hatte Festivalniveau. Im Buch konnte diese Lösung noch keine Berücksichtigung finden. Nur so viel ist zu erfahren: Strauss hatte das 1948 komponierte Lied im Todesjahr 1949 der ihm sehr verbundenen Maria Jeritza übereignet, die es Zeit ihres Lebens für sich behielt. Erst 1985 – die Jeritza war 1983 gestorben – wurde das Lied durch Kiri Te Kanawa in New York uraufgeführt.

Allenthalben bekommen Leser einen tiefen Einblick in die Werkstatt des Komponisten. Interessant sind in diesem Zusammenhang Passagen aus dem Handexemplar des Komponisten von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, die Rückschlüsse auf die Kompositionen zulassen. Beleuchtet wird das Verhältnis zu den Kollegen seiner Zeit mit konkreten Auflistungen von deren Werken, was zu erstaunlichen Vergleichen anregt. Überhaupt macht das Buch in seiner Fülle, die hier nicht annährend erfasst werden kann, Lust, sich Strauss und seinem Umfeld mit neuem Erkenntnisgewinn verstärkt zuzuwenden. Es ist kein Buch, das man auf einen Ritt von vorn bis hinten durchliest. Es will ein begleitendes Nachschlagewerk sein, das zur Hand ist und nicht zu weit oben im Regal stehen sollte, das seiner guten Übersichtlichkeit wegen einen schnellen Zugriff zu allen Werkgruppen zulässt und – ganz wichtig – im Anhang ein Werkverzeichnis enthält. Das ist schon deshalb nötig, um Strauss in seiner Gesamtheit besser verstehen zu können und ihn nicht auf seine populärsten Erfindungen zu reduzieren und festzulegen. Das Buch ist gut lesbar, auch dem musikalischen Laien verständlich, es kommt nicht belehrend daher, sondern vermittelt seinen Gegenstand mit Sachlichkeit und Offenheit.

Rüdiger Winter

Richard Strauss Handbuch, Herausgegeben von Walter Werbeck, Verlag Metzler / Bärenreiter, 583 Seiten, ISBN 978-3-476-02344-5 (Metzler), ISBN 978-3-7618-2058-2 (Metzler/Bärenreiter)

1-Strauss am Schreibtisch

Richard Strauss in Hausjacke am Schreibtisch in Garmisch. Das Bild ist in dem bei Arthaus erschienen Buch Der Patriarch enthalten. Dort sind auch das Familienbild auf Sylt, der Blick in die Wiener Villa und das Probenfoto mit Michael Bohnen abgedruckt. Das große Foto oben zeigt  den Komponisten bei der Zeitungslektüre. Die Fotos stammen aus dem Strauss-Archiv. © Richard-Strauss-Familienarchiv (RSA)/Arthaus

Auf den Spuren von Farinelli

Der Musikfreund und -sammler freut sich über jede Ersteinspielung, so auch im Falle von Veracinis 1735 uraufgeführtem Dramma per musica Adriano in Siria. Die Arie des Farnaspe „Amor, dover, rispetto“ aus diesem Werk gilt als die schwierigste Gesangsnummer der gesamten Barockliteratur, geschrieben für Farinelli, der sie in der mit Senesino als Titelheld, Francesca Cuzzoni als Emirena und dem Bassbariton Antonio Montagnana als Osroa spektakulär besetzten Uraufführung an der Opera of the Nobility in London kreiert hatte. In der konzertanten Aufführung im Wiener Konzerthaus im Januar 2014 singt die geschätzte Mezzosopranistin Ann Hallenberg diese Partie und gibt ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Gesangskunst ab. Schon ihre erste Arie, „Già presso al termine“, eine der längsten des Werkes, profitiert vom energischen Stimmeinsatz und dem spielerisch behänden Umgang mit den Koloraturen. Das nächste Solo, „Parto, sì“, von großem Schmerz erfüllt, zeigt die Wandlungsfähigkeit der Sängerin und ihre gestalterische Tiefe. Das zärtlich wiegende „Ascolta idol mio“ stellt die Schönheit der Stimme, die hier besonders weich und schmeichelnd klingt, deutlich heraus. Ähnlich überzeugend gelingt ihr „Quel ruscelletto“ im 2. Akt, an dessen Ende sich die bewusste Arie findet. Es ist ein Stück von heroischer Bravour mit artistischen Koloraturläufen, die Hallenberg in stupender Manier meistert. Das Wiener Konzerthaus dürfte sich danach im Ausnahmezustand befunden haben. Prinz Farnaspe, Freund des Partherkönigs Osroa und verlobt mit Emirena, fällt auch das letzte Solo der Oper zu, „Son sventurato“, kurz vor dem Schlussduett und -chor, in welchem die Solistin noch einmal mit ihrem noblen Timbre betört.

Emirena, die vom römischen Kaiser Adriano gefangen gehalten wird, wird erst in der Mitte des 1. Aktes eingeführt und könnte hier vor allem mit der ergreifenden Arie „Prigioniera abbandonata“ starke Wirkung erzielen. Roberta Invernizzi singt sie jedoch mit herbem Sopran von zuweilen bohrendem Ton. Auch das „Un lampo di speranza“, geprägt von munter tänzelnden Koloraturen, klingt unliebenswürdig keifend, „Per te d’eterno allori“ zu Beginn des 2. Aktes larmoyant und in den langen Koloraturketten bemüht, wie auch „Quel cor“ im letzten Aufzug.

Für zwei tiefe Stimmen wurden der Titelheld und die Rolle der Sabina, Adrianos Verlobte, notiert. Ersterer ist mit Sonia Prina besetzt, die nicht zu meinen Favoritinnen zählt wegen ihres recht groben Timbres und der allzu robusten Stimmführung. In ihrer Auftrittsarie, „Dal labbro“, hält sie sich diesbezüglich allerdings zurück und klingt recht verhalten. Auch das bewegte „È vero che oppresso“ wirkt einigermaßen gemäßigt hinsichtlich der vokalen Exzesse und ist darüber hinaus von virtuosen Koloraturgirlanden geprägt. Am besten gefällt sie mir in dem nachsinnenden „La ragion“ mit ausgeglichener Stimmführung. Die resoluten Nummern „Tutti nemici“ und „Va’, superbo“ im 3. Akt dagegen zeigen ihre Untugenden deutlich. Romina Basso als Sabina überzeugt wieder mit dem sonoren Klang ihres tiefen Mezzos, in „Ah, ingrato“ im 2. Akt aber auch mit eloquentem und mühelosem Fluss der Stimme. Sehr delikat, auch kokett klingt sie in der Arie des 3.

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Aktes, „Digli ch’è un infedele“, und im Finalduett „Prendi, o cara“ mit Adriano erweist sie sich klar als die Meisterin der beiden tiefen Stimmen.

Die Schurkenrolle des Osroa, König der Parther und Vater Emirenas, ist eine Herausforderung für jeden Bassisten wegen ihrer ungewöhnlichen Harmonien und der extravaganten Wendungen. Ugo Guagliardo besteht diese Prüfung glänzend, gefällt sogleich in seiner ersten Arie „Sprezza il furor del vento“ mit ungestüm-expressivem Einsatz und schönem Fluss der Koloraturen. Auftrumpfend-martialisch gerät „Se mai piagato“ am Ende des 2. Aktes, das die tiefe Lage des Sängers und die Virtuosität in der Koloratur imposant herausstellt.

Die Mezzosopranistin Lucia Cirillo ergänzt die Besetzung als Idalma, die heimlich in Adriano verliebte Vertraute Emirenas. Ihre heiter-verspielte Arie „Per punir l’ingrato amante“ gerät im Tonfall recht streng. „Saggio guerriero“ zeigt zwar ihre souveräne Beherrschung virtuoser Koloraturpassagen, allerdings mit recht gewöhnlichem Klang. Am besten, weil angenehm in der Stimmführung, gelingt ihr das munter-bewegte „Più bella“ im 3. Akt.

Adriano ist Veracinis erste Oper (vor La clemenza di Tito, Partenio und Rosalinda) und ganz dem Stil der opera seria verpflichtet – prächtig in der orchestralen Ausschmückung und immer wieder ist hörbar, dass der Komponist auch ein exzentrischer Geigenvirtuose war. Sogleich zu Beginn der Ouverture vernimmt man die Violinen in solistischem Einsatz und auch später werden sie noch oft gefordert. Die Musik balanciert zwischen affektreichem Schwung, pompösem Bläsergeschmetter und kantabel ausschwingenden Lyrismen. Das Ensemble Europa Galante spielt unter Fabio Biondis Leitung musikantisch und differenziert auf, kann sich neben der inspirierten Begleitung der Solisten in drei Sinfonie auch orchestral bewähren.

Bernd Hoppe

Francesco Maria Veracini: Adriano in Siria (Prina, Hallenberg, Invernizzi, Basso, Cirillo, Guagliardo; Europa Galante, Fabio Biondi) fra bernardo 1409491, 3 CD

 

 

 

 

 

 

Orientspektakel: Grétrys „Caravane du Caire“

 

André-Modeste Grétry (1741-1813) rutscht immer irgendwie durch. Aus unserer deutschen Sicht ist seine Musik für den Barock zu spät und will nicht so recht zu unserem durch Wien geprägtem Bild der Klassik passen. Dabei ist der Zeitgenosse Haydns und Mozarts für die Entwicklung des französischen Musiktheaters eminent wichtig, speziell für die weite Strecken des 19. Jahrhunderts dominierende Opéra-Comique und ihre verwandten Formen.

André-Modeste Grétry/OBA

André-Modeste Grétry/OBA

Etwa ein Dutzend der über 60 Bühnenwerke Grétrys waren und sind auf Tonträger verfügbar, Zémir et Azor und Richard, Cœur de Lion, unter Edgar Doneux 1974 und 1977 mit Mady Mesplé für die EMI eingespielt, dürften wohl die bekanntesten sein. Da ist es erfreulich, dass im Zuge der von Palazzo Bru Zane geförderten Wiederentdeckung französischen Repertoires einer „musique romantique française“ (was eine Spanne von ca. 1780 bis Anfang des 20. Jahrhunderts meint) auch ein zentrales Werk Grétrys mit Edition, Aufführung und Aufnahme bedacht wird. Es handelt sich dabei um La Caravane du Caire, ein Unterhaltungsstück, Ende Oktober 1783 in Fontainebleau vor dem französischen Hof uraufgeführt und bereits im Januar 1784 in Paris von der Académie an der Opéra gespielt und bis 1829 mit über 500 Aufführungen eines der erfolgreichsten und populärsten Werke des belgischen Komponisten in der Seinemetropole.

Bereits 1991 von Mark Minkoswki ebenfalls historisch informiert und mit ebenfalls dem bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts an der Académie royal de musique üblichen tiefen Kammerton von 392 kHz eingespielt, ist dies die zweite Aufnahme der Orientoper. Beide Aufnahmen erschienen zudem beim selben Label: Ricercar. Der Unterschied ist vor allem einer der Fassungen. Guy Van Waas’ Neuaufnahme bedient sich einiger alternativer Instrumentalstücke für die Ballette, „die von Grétry selbst anlässlich späterer Wiederaufnahmen seiner Oper eingefügt worden waren“, wie das sehr informative Beiheft unterrichtet. „Darunter befindet sich ein sehr erstaunliches Stück nur für drei Harfen, das von der Begeisterung für dieses von der Königin Marie-Antoinette in Mode gebrachte Instrument zeugt.“ Zudem leitet ein ägyptischer Marsch mit erstaunlich modernen Klängen die große Basar-Szene ein. Außerdem hat man sich entschlossen, Grétrys Instrumentierung mit Percussion-Instrumenten, ganz im Sinne der damaligen Türkenoper-Mode, aufzustocken; ein musikhistorisch und musikpraktisch gesehen sicherlich zulässiges Mittel. Mit einer Spielzeit von 140 Minuten ist die Neuaufnahme etwa zwanzig Minuten länger als Minkowskis Erstaufnahme von 1991.

Grétrys Orientoper, fast zeitgleich zu Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) entstanden, folgt dem europäischen Faible für alles Orientalische, das sich u.a. musikalisch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in zahlreichen ‚Türkenopern’ niederschlug. Eine Mode, die spätestens mit der erfolgreichen Abwehr der Türken vor Wien im Jahre 1683 begann und sich in Frankreich als Orientoper lang hielt und prominent bis zu Massenet und Rabaud reicht. Mitte der 1780er Jahre wird Grétry wegen seiner zahlreichen Bühnenerfolge von der Opéra ermuntert, Stil und Genre zu weiter zu entwickeln. Das Ergebnis waren Werke wie La Caravane du Caire. Lyrische Komödien, bei denen der optische Eindruck einer Bühnenshow hochwertig neben dem Musikalischen stand. Die mit großem Aufwand produzierten, spektakulären Tableaux an exotischen Schauplätzen, mit Bühneneffekten, Beleuchtung, Balletten, Menschenmassen können als direkte Vorläufer der Grand Opéra gesehen werden. Im vorliegenden Falle spielt das Wek an den Ufern des Nils, im Palast des Pascha in Kairo, auf einem orientalischen Basar – dankbare Aufgaben für jeden Ausstatter und Bühnenillusionisten. Pascha, Serail, Sklaven, Harem sind dabei die entscheidenden Assoziationsstichworte.

Eine Audioaufnahme von La Caravane du Caire kann daher nur einen sehr bedingten Begriff davon geben, wie die Wirkung des Werkes tatsächlich war. (Ja, der Gedanke eines Gesamtkunstwerkes in der Oper ist keine Erfindung Richard Wagners, wie auch hieran zu sehen ist). Grétry vermengt geschickt Elemente verschiedener Gattungen und Genres, er nimmt Anleihen beim Opéra-Ballet und der Opéra comique, Elemente der Comédie, des Drame héroïque, der Tragédie en musique fließen zusammen, alles ganz im Sinne einer neuen, den Zuseher überwältigenden Wirkungsästhetik. Oper als Spektakel mit exotischen Ballettszenen und Zwischenspielen, mit Dialogen, Rezitativen und Nummerndramaturgie, mit Koloraturarien im italienischen Stil und französischen Airs. Alles scheint erlaubt. Die Handlung besteht aus Versatzstücken gelernter Handlungsmodelle: ein herrischer Pascha, ein christlicher Sklave, eine Entführung aus dem Serail, ein wieder gefundener Sohn, die Gnade des Herrschers – all das kennen wir aus unzähligen Schauspielen und Opern des 18. Jahrhunderts. Eine besondere ‚Botschaft’ bleibt das durchschnittliche Textbuch von Ètienne Morel de Chédeville dabei schuldig.

gretry caravane ricercarIn der künstlerischen Qualität der Interpretation stehen beide Aufnahmen – Minkowskis und Van Waas’ – gleichberechtigt neben einander, keiner würde ich den Vorzug geben. Allenfalls sind die Sänger bei Van Waas etwas im Vorteil. Katia Velletaz, Jennifer Borghi, Cyrille Dubois, Tassis Christoyannis, Julien Véronèse, Alain Buet, Reinoud van Mechelen, Caroline Weynants u.a. singen dann doch mehr mit einer moderneren Erfahrung historischer Aufführungspraxis als dies Jules Bastin, Gilles Ragon, Philippe Huttenlocher, Guy de Mey Vincent Le Texier, Isabelle Poulenard u.a vor über zwanzig Jahren möglich war. Schon die Anzahl der Interpretennamen verweist auf die personenreiche Handlung bzw. die zahlreichen Genreszenen, die es zu gestalten gibt. Der beständig durch Ballette u.ä. unterbrochene, im Grunde simple Handlungsstrang, ist denn auch entsprechend einfallslos.

Guy Van Waas und sein brillantes belgisches Ensemble Les Agrémens gehören inzwischen zu den festen Größen für derartiges Repertoire, was sie unter anderem auch regelmäßig in Versailles unter Beweis stellen. Und auch der Chœur de Chambre de Namur ist durchaus stilistisch erfahren und fügt sich klangvoll in das idiomatische Gesamtbild der Aufnahme ein. Die Musik selbst ist gefällig und melodiös, ohne lange haften zu bleiben. Dramaturgisch gesehen überwiegt beim bloßen Hören, der Eindruck der Unausgeglichenheit. So ist diese Aufnahme vor allem musikhistorisch interessant, als musikalisches Werk selbst kann Grétrys Orientspektakel aus heutiger Sicht kaum mit einem Grand Spectacle-Vorbild wie Rameaus Les fêtes de l’Hymen et de l’Amour (1747) oder Türkenopern wie Mozarts Entführung aus dem Serail oder selbst Glucks simplen Le Cadi dupé (1761)  mithalten. – Dennoch überzeugt die Aufnahme rundum, bildet sie doch auf zeitgemäßem Niveau aktuelles kulturhistorisches Verständnis und musikhistorische Informiertheit mustergültig ab. Vorbildlich ist auch die Edition im Buchformat gelungen, mit ausführlichen Einleitungstexten zu Komponist, Werk und Aufnahme, sowie dem Libretto im französischen Original und englischer Übersetzung. Moritz Schön

Andre Modeste Gretry: La Caravane du Caire mit Katia Velletaz, Jennifer Borghi, Cyrille Dubois, Tassis Christoyannis, Julien Véronèse, Alain Buet, Reinoud van Mechelen, Caroline Weynants u.a. Les Agrémens. Chœur de Chambre de Namur. Guy Van Waas. (Ricercar RIC 345)