Orientspektakel: Grétrys „Caravane du Caire“

 

André-Modeste Grétry (1741-1813) rutscht immer irgendwie durch. Aus unserer deutschen Sicht ist seine Musik für den Barock zu spät und will nicht so recht zu unserem durch Wien geprägtem Bild der Klassik passen. Dabei ist der Zeitgenosse Haydns und Mozarts für die Entwicklung des französischen Musiktheaters eminent wichtig, speziell für die weite Strecken des 19. Jahrhunderts dominierende Opéra-Comique und ihre verwandten Formen.

André-Modeste Grétry/OBA

André-Modeste Grétry/OBA

Etwa ein Dutzend der über 60 Bühnenwerke Grétrys waren und sind auf Tonträger verfügbar, Zémir et Azor und Richard, Cœur de Lion, unter Edgar Doneux 1974 und 1977 mit Mady Mesplé für die EMI eingespielt, dürften wohl die bekanntesten sein. Da ist es erfreulich, dass im Zuge der von Palazzo Bru Zane geförderten Wiederentdeckung französischen Repertoires einer „musique romantique française“ (was eine Spanne von ca. 1780 bis Anfang des 20. Jahrhunderts meint) auch ein zentrales Werk Grétrys mit Edition, Aufführung und Aufnahme bedacht wird. Es handelt sich dabei um La Caravane du Caire, ein Unterhaltungsstück, Ende Oktober 1783 in Fontainebleau vor dem französischen Hof uraufgeführt und bereits im Januar 1784 in Paris von der Académie an der Opéra gespielt und bis 1829 mit über 500 Aufführungen eines der erfolgreichsten und populärsten Werke des belgischen Komponisten in der Seinemetropole.

Bereits 1991 von Mark Minkoswki ebenfalls historisch informiert und mit ebenfalls dem bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts an der Académie royal de musique üblichen tiefen Kammerton von 392 kHz eingespielt, ist dies die zweite Aufnahme der Orientoper. Beide Aufnahmen erschienen zudem beim selben Label: Ricercar. Der Unterschied ist vor allem einer der Fassungen. Guy Van Waas’ Neuaufnahme bedient sich einiger alternativer Instrumentalstücke für die Ballette, „die von Grétry selbst anlässlich späterer Wiederaufnahmen seiner Oper eingefügt worden waren“, wie das sehr informative Beiheft unterrichtet. „Darunter befindet sich ein sehr erstaunliches Stück nur für drei Harfen, das von der Begeisterung für dieses von der Königin Marie-Antoinette in Mode gebrachte Instrument zeugt.“ Zudem leitet ein ägyptischer Marsch mit erstaunlich modernen Klängen die große Basar-Szene ein. Außerdem hat man sich entschlossen, Grétrys Instrumentierung mit Percussion-Instrumenten, ganz im Sinne der damaligen Türkenoper-Mode, aufzustocken; ein musikhistorisch und musikpraktisch gesehen sicherlich zulässiges Mittel. Mit einer Spielzeit von 140 Minuten ist die Neuaufnahme etwa zwanzig Minuten länger als Minkowskis Erstaufnahme von 1991.

Grétrys Orientoper, fast zeitgleich zu Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) entstanden, folgt dem europäischen Faible für alles Orientalische, das sich u.a. musikalisch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in zahlreichen ‚Türkenopern’ niederschlug. Eine Mode, die spätestens mit der erfolgreichen Abwehr der Türken vor Wien im Jahre 1683 begann und sich in Frankreich als Orientoper lang hielt und prominent bis zu Massenet und Rabaud reicht. Mitte der 1780er Jahre wird Grétry wegen seiner zahlreichen Bühnenerfolge von der Opéra ermuntert, Stil und Genre zu weiter zu entwickeln. Das Ergebnis waren Werke wie La Caravane du Caire. Lyrische Komödien, bei denen der optische Eindruck einer Bühnenshow hochwertig neben dem Musikalischen stand. Die mit großem Aufwand produzierten, spektakulären Tableaux an exotischen Schauplätzen, mit Bühneneffekten, Beleuchtung, Balletten, Menschenmassen können als direkte Vorläufer der Grand Opéra gesehen werden. Im vorliegenden Falle spielt das Wek an den Ufern des Nils, im Palast des Pascha in Kairo, auf einem orientalischen Basar – dankbare Aufgaben für jeden Ausstatter und Bühnenillusionisten. Pascha, Serail, Sklaven, Harem sind dabei die entscheidenden Assoziationsstichworte.

Eine Audioaufnahme von La Caravane du Caire kann daher nur einen sehr bedingten Begriff davon geben, wie die Wirkung des Werkes tatsächlich war. (Ja, der Gedanke eines Gesamtkunstwerkes in der Oper ist keine Erfindung Richard Wagners, wie auch hieran zu sehen ist). Grétry vermengt geschickt Elemente verschiedener Gattungen und Genres, er nimmt Anleihen beim Opéra-Ballet und der Opéra comique, Elemente der Comédie, des Drame héroïque, der Tragédie en musique fließen zusammen, alles ganz im Sinne einer neuen, den Zuseher überwältigenden Wirkungsästhetik. Oper als Spektakel mit exotischen Ballettszenen und Zwischenspielen, mit Dialogen, Rezitativen und Nummerndramaturgie, mit Koloraturarien im italienischen Stil und französischen Airs. Alles scheint erlaubt. Die Handlung besteht aus Versatzstücken gelernter Handlungsmodelle: ein herrischer Pascha, ein christlicher Sklave, eine Entführung aus dem Serail, ein wieder gefundener Sohn, die Gnade des Herrschers – all das kennen wir aus unzähligen Schauspielen und Opern des 18. Jahrhunderts. Eine besondere ‚Botschaft’ bleibt das durchschnittliche Textbuch von Ètienne Morel de Chédeville dabei schuldig.

gretry caravane ricercarIn der künstlerischen Qualität der Interpretation stehen beide Aufnahmen – Minkowskis und Van Waas’ – gleichberechtigt neben einander, keiner würde ich den Vorzug geben. Allenfalls sind die Sänger bei Van Waas etwas im Vorteil. Katia Velletaz, Jennifer Borghi, Cyrille Dubois, Tassis Christoyannis, Julien Véronèse, Alain Buet, Reinoud van Mechelen, Caroline Weynants u.a. singen dann doch mehr mit einer moderneren Erfahrung historischer Aufführungspraxis als dies Jules Bastin, Gilles Ragon, Philippe Huttenlocher, Guy de Mey Vincent Le Texier, Isabelle Poulenard u.a vor über zwanzig Jahren möglich war. Schon die Anzahl der Interpretennamen verweist auf die personenreiche Handlung bzw. die zahlreichen Genreszenen, die es zu gestalten gibt. Der beständig durch Ballette u.ä. unterbrochene, im Grunde simple Handlungsstrang, ist denn auch entsprechend einfallslos.

Guy Van Waas und sein brillantes belgisches Ensemble Les Agrémens gehören inzwischen zu den festen Größen für derartiges Repertoire, was sie unter anderem auch regelmäßig in Versailles unter Beweis stellen. Und auch der Chœur de Chambre de Namur ist durchaus stilistisch erfahren und fügt sich klangvoll in das idiomatische Gesamtbild der Aufnahme ein. Die Musik selbst ist gefällig und melodiös, ohne lange haften zu bleiben. Dramaturgisch gesehen überwiegt beim bloßen Hören, der Eindruck der Unausgeglichenheit. So ist diese Aufnahme vor allem musikhistorisch interessant, als musikalisches Werk selbst kann Grétrys Orientspektakel aus heutiger Sicht kaum mit einem Grand Spectacle-Vorbild wie Rameaus Les fêtes de l’Hymen et de l’Amour (1747) oder Türkenopern wie Mozarts Entführung aus dem Serail oder selbst Glucks simplen Le Cadi dupé (1761)  mithalten. – Dennoch überzeugt die Aufnahme rundum, bildet sie doch auf zeitgemäßem Niveau aktuelles kulturhistorisches Verständnis und musikhistorische Informiertheit mustergültig ab. Vorbildlich ist auch die Edition im Buchformat gelungen, mit ausführlichen Einleitungstexten zu Komponist, Werk und Aufnahme, sowie dem Libretto im französischen Original und englischer Übersetzung. Moritz Schön

Andre Modeste Gretry: La Caravane du Caire mit Katia Velletaz, Jennifer Borghi, Cyrille Dubois, Tassis Christoyannis, Julien Véronèse, Alain Buet, Reinoud van Mechelen, Caroline Weynants u.a. Les Agrémens. Chœur de Chambre de Namur. Guy Van Waas. (Ricercar RIC 345)