Archiv für den Monat: November 2013

Hier kommt alles zu allem

Es ist wie mit der BILD. Keiner kauft sie, doch jeder kennt sie. Man findet sie in den Schütten der Buchhandlungen, in Ramschecken und vor Kaufhäusern. Die billigen 10-CD-Boxen werden mit spitzen Fingern angefasst. Und doch gekauft. Der Preis macht’s. Die meisten Titel kennt der Sammler, aber es gibt immer eine CD oder ein Fundstück, derentwegen man zugreift. Also kein Naserümpfen, obwohl die Strauss-Box sicherlich merkwürdig zusammengestellt ist, nicht Fisch nicht Fleisch, also keine reine Opernbox und keine Ausgabe der Orchesterwerke und der Kammermusik, was unter Einbeziehung der Orchestersuiten und des Oboenkonzerts, der Metamorphosen oder Josephslegende mühelos machbar gewesen wäre. Hier kommt, um mit Hofmannsthal zu sprechen, alles zu allem, womit niemandem gedient ist, d.h. es gibt Der Rosenkavalier unter Herbert von Karajan mit Schwarzkopf, die auch mit den Vier letzten Liedern  (1953) vertreten ist, zusammen mit Lied-Aufnahmen mit Christa Ludwig und Peter Anders und zwei Arabella-Ausschnitten mit Lisa Della Casa (alternierende unter Georg Solti und Joseph Keilberth). Die restlichen sechs CDs enthalten die Tondichtungen. Es fehlen Aus Italien, die Sinfonia domestica, von den Hornkonzerten wurde nur das erste Es-Dur op. 11 ausgewählt, allerdings findet man die Burleske mit dem hochvirtuosen Friedrich Gulda. Ebenfalls die Anschaffung wert ist die Violinsonate mit der begnadeten Ginette Neveu (1939). Auch wenn in diesem Bereich die Kempe-Aufnahmen mit den Dresdnern aus den frühen 1970er Jahren die Referenz bleiben, handelt es sich bei Eine Alpensinfonie unter Karl Böhm, natürlich dem Don Quixote unter Clemens Krauss, Till Eulenspiegel, Don Juan und Tod und Verklärung unter George Szell und dem Hornkonzert unter Wolfgang Sawallisch um ausgezeichnete Strauss-Einspielungen. Gut auch, dass der langsam in Vergessenheit geratene begnadete Strauss-Dirigent Fritz Reiner dabei ist (Ein Heldenleben gehört zu den besten Aufnahmen des Werkes). Aus dieser Reihe der 50er Jahre-Aufnahmen fällt Also sprach Zarathustra mit Charles Mackerras von 1993 heraus.

weill membranKeine Strauss-Hofmannsthal-Box, was schön gewesen wäre, dafür eine Brecht-Weill-Box. Sie enthält weitgehend die ab 1927 entstandenen Ergebnisse der Zusammenarbeit von Kurt Weill mit dem zwei Jahre älteren Dichter, also Die Dreigroschenoper und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny – beide in den maßstäblichen Aufnahmen der Philips unter Wilhelm Brückner-Rüggeberg, die damit Plattengeschichte machte, wobei ich vor allem Mahagonny (mit Lenya, Litz, Günter, Markworth) ganz großartig finde – dann Der Jasager, das Musical Happy End und das gesungene Ballett Die sieben Todsünden (beide ebenfalls unter Brückner-Rüggeberg mit Lenya). Außerdem enthält die Ausgabe den nahezu völlig verwandelten „amerikanischen Weilll“ u.a. mit dem Musical Lady in the Dark (mit dem Text von Ira Gershwin) und die „American Folk Opera“ Down in the Valley (Text von Arnold Sundgaard, der auch auf der Vorderseite von CD 9 genannt wird, wo er nichts zu suchen hat). Interessant die kleinen Schnipsel auf CD 9, die ich gleich mehrfach hörte, neben den 1930 entstandenen Dreigroschenoper-Aufschnitten unter Otto Klemperer vor allem die amerikanischen Aufnahmen unter Maurice Abranavel, darunter die Szenen aus One Touch of Venus mit den Stars der Uraufführung, der September Song in alternativen Aufnahmen mit Walter Huston, der das Musical Knickerbocker Holiday am Broadway kreiert hatte, und Sinatra, durch den der Song später in immer neuen Arrangements international berühmt wurde. Bemerkenswert auf CD 1: Theo Mackeben leitete zwei Jahre nach der von ihm dirigierten UA der Dreigroschenoper eine Einspielung, Brecht singt Die Moritat von Mackie Messer sowie Der Mensch lebt durch den Kopf und eine sehr zerbrechlich wirkende Lenya singt 1943 sechs Lieder mit Weill am Klavier.

Rolf Fath

 

Richard Strauss: 10 CD the intense media 600126; Bert Brecht – Kurt Weill: 10 CD the intense media 600124 

Kritische Bilanz zum Geburtstag

Zum 50. Geburtstag der Städtischen Bühnen Frankfurt  und ihres Domizils im vom Volksmund Aquarium genannten Gebäude hat der Henschel-Verlag eine Festschrift unter dem Titel Ein Haus für das Theater herausgegeben, die, wie das so üblich ist, mit Gruß-,  Vor- und Geleitwort beginnt. Ersteres stammt von dem jetzigen Kulturdezernenten Felix Semmelroth und schildert knapp den Werdegang des Theaterlebens in Frankfurt generell, beginnend mit dem Komödienhaus der Freien Reichsstadt im Jahre 1782, über das 1792 eröffnete Nationaltheater und das Frankfurter Stadttheater von 1842 zu den Städtischen Bühnen Frankfurt führend, die es seit 2004 unter diesem Namen gibt. Im Vorwort der drei Intendanten derselben wird besonders auf die Nachkriegszeit eingegangen, den Einzug der Oper in das 1951 wieder errichtete Schauspielhaus, ehe vor fünfzig Jahren für Oper, Schauspiel und Ballett das nun gefeierte Haus eröffnet wurde. Interessant ist, dass man sich nicht zuletzt als Antipoden zum die Stadt prägenden Wirtschaftssektor sah. Die Kompetenzen sind auf je einen Intendanten für Oper und Schauspiel und dazu einen Geschäftsführenden Intendanten für beide Sparten aufgeteilt. Das Geleitwort des ehemaligen Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann ist eigentlich mehr als ein solches, es schildert nicht ohne eine gewisse, wohl berechtigte Selbstgefälligkeit von der Ensemblebildung bereits im Herbst 1945, dem Hunger der Bevölkerung nicht nur nach Nahrung, sondern auch nach Kunst, dem Unterkommen im Saal der Frankfurter Börse, danach im Rundfunksendesaal, der Aufnahme der Arbeit von Orchester und Cäcilienchor. Fidelio im Dezember 45, danach Tosca, 1951 als erste Oper im Schauspielhaus Meistersinger beweisen, dass Oper in Frankfurt nie unpolitisch, nie ohne Botschaft war. Brechts Kunstauffassung scheint eine bedeutende Rolle gespielt zu haben, ebenso der Mitbestimmungsgedanke, was auch für Konflikte sorgte. Die gesamte Geschichte der Frankfurter Oper scheint gekennzeichnet von dem Kampf um mehr Kulinarisches oder Agitatorisches. Dazu gehört auch, dass nicht ohne Stolz berichtet wird, nicht weniger als 4000 Abonnenten hätten gekündigt, das Feuilleton aber habe immer auf der Seite der Neuerer gestanden. Es kam sogar so weit, dass sich Bürgermeisterin Petra Roth selbst zur Kulturdezernentin ernannte, der es übrigens von dem ebenfalls im Zorn scheidenden Dirigenten Silvain Cambreling verwehrt wurde, an seiner Abschiedsvorstellung teilzunehmen. Also Oper nicht nur auf der Bühne, sondern im ganzen Haus.  Dafür sorgten auch der Einsatz für zwei DKP-Lehrerinnen, der Riesenpenis in Dantons Tod oder das Fassbinder-Stück Der Müll, die Stadt und der Tod.

Recht süffisant berichtet Hoffmann davon. wie ausgerechnet ein freigekaufter DDR-Häftling 1987 das Opernhaus ansteckte, das die Allianz wieder aufbauen ließ. Das umfangreichste Kapitel über die Oper stammt von Hans-Klaus Jungheinrich und nennt sich Oper Frankfurt-Eine Fortsetzungsgeschichte. Probleme wie das Verschwinden des Bildungsbürgertums, des Repertoiretheaters, der Spielplangestaltung, der Originalsprache werden ebenso erörtert wie das Verschwinden des Singspiels aus dem Repertoire und sind sicherlich nicht typisch nur für Frankfurt. Eher schon das mehrfache Scheitern eines kompletten Ring, Aufregung um Neuenfels- oder Berghaus-Inszenierungen, die zehn Jahre Gielen/Zehelein, in denen Radikalität zur Regel wird. Nacheinander werden die Wirkungsjahre aller Intendanten und Generalmusikdirektoren beleuchtet, wobei natürlich Karrieren nicht parallel verliefen. Sechs Jahre lang wirkte Solti am Haus, das zu seinen Dirigenten auch Lovro von Matacic zählte, die Ära Donhanyi für einen Glücksfall halten muss, Sebastian Weigle spätestens nach dem jetzt in DVD vorliegenden Ring wohl ebenfalls.

Frankfurt gehört zu den Häusern mit einem besonders bodenständigen Ensemble, was viele immer wieder auftretende Namen beweisen. William Chochran, Margit Neubauer, Gabriele Fuchs oder Günther Reich sind nur einige von ganz vielen. Ihnen allen kann man auch in den vielen Fotos begegnen, die für die frühen Jahre eher durchgehend düster als schwarz-weiß sind, was sich mit den Farbfotos ändert.

Mit Bernd Loebe beginnt 2002 eine neue Epoche: es gibt mehr Premieren, Platzauslastung und Abo-Verkauf nehmen zu, ebenso die Vielseitigkeit des Repertoires, und der Patronatsverein sorgt für finanzielle Erleichterungen. Der Intendant gilt als Sängerentdecker und als offen für unterschiedliche Formen der Bühnenästhetik. Kein einmaliges Ereignis allerdings ist die Aufführung einer Verdi-Oper nur mit Klavier, weil das Orchester  streikt. Schließlich werden in diesem Kapitel auch bedeutende Sänger und Regisseure, die bisher nicht berücksichtigt wurden, gewürdigt.

Dem Schauspiel und dem Ballett werden ebenfalls umfangreiche Kapitel gewidmet. Interessant ist auch ein Abriss über die wechselvolle Baugeschichte des Unternehmens. Ein Anhang mit der Chronik seit 1782, einer Premierenliste mit vollständiger Besetzung (manchmal nützlicher als ein wortreicher Text), einer Ensembleliste für Schauspiel und Ballett, der Autorenviten und Bildnachweise steht am Schluß des Buches (Henschel Verlag ISBN 978-3-89487-732-3).

Ingrid Wanja

   

Magische Töne – live und im Studio

Dem legendären Kastraten Farinelli widmet Philippe Jaroussky seine neue CD bei Erato (413022), auf der er Arien von Nicola Porpora singt, die der Komponist dem berühmten Gesangsstar, seinem Schüler, auf die Stimmbänder geschrieben hat. Unter den elf Titeln finden sich nicht weniger als sieben Weltersteinspielungen, darunter Alcestes „Mira in cielo“ aus Arianna e Teseo, welches das Programm eröffnet. Ein bewegtes, aufgewühltes Stück, für das Jarousskys zarte, keusche Stimme nicht ideal ist. Viel besser klingt sie im nächsten Beitrag, „Si pietoso il tuo labbro“ aus Semiramide  riconosciuta, das in seinem zärtlich wiegenden Rhythmus, den schmeichelnden, sanften Linien wie für den Interpreten komponiert scheint. Im folgenden „Come nave in ria tempesta“ aus Semiramide regina dell’Assiria kann der Sänger mit federnd getippten Koloraturen seine hohe Virtuosität zur Schau stellen.

Jaroussky Farinalli-CDJaroussky hat lange gezögert, die Musik Porporas in sein Repertoire aufzunehmen, aber schließlich in dessen Kompositionen viele berührende Arien entdeckt, die seiner Stimme perfekt entsprechen. Diese sind es dann auch, die den stärksten Eindruck hinterlassen. Zweifellos ist Acis „Alto Giove“ aus Polifemo der Höhepunkt dieser Sammlung – in seiner Wirkung wahrhaft mirakulös durch die körperlos schwebende Stimme, den entrückten Ausdruck, die scheinbar unendlichen Atemreserven. Das Venice Baroqe Orchestra unter Andrea Marcon, das den Sänger insgesamt sehr einfühlsam begleitet, erschafft gerade in dieser Nummer  wunderbare orchestrale Stimmungen. Aus dieser Oper erklingt noch eine weitere Arie des Aci („Nel già bramoso petto“), deren heroische Koloraturläufe der Interpret stupend meistert.

Darüber hinaus ist es Jaroussky gelungen, Cecilia Bartoli (bei den Aufnahmen auf dem großen Foto oben) für die Mitwirkung an seiner CD zu gewinnen, was sich in zwei Duetten niederschlägt. Das erste stammt ebenfalls aus Polifemo („Placidetti zefiretti“) und lässt die Stimmen in harmonischem Zusammenklang ertönen. Das zweite („La gioia ch’ io sento“) ist der Oper Mitridate entnommen und reizvoll in ihrem tänzerisch-heiteren Duktus – hier scheinen die Stimmen geradezu zu verschmelzen. Sehr schön zwei Arien des Achille aus Ifigenia in Aulide – das träumerisch-entrückte „Le limpid’onde“ in wiegendem siciliano-Rhythmus und „Nel già bramoso petto“, gleichfalls von getragenem, sehnsuchtsvollem Charakter bei höchstem virtuosem Anspruch. Zwei Arien des Orfeo aus der gleichnamigen, 1736 in London uraufgeführten Oper runden das Programm ab, die erstere („Dall’amor più sventurato“) beschwingt und kokett, aber auch mit rasanten Koloraturgirlanden, die zweite („Sente dal mio martir“) schmerzlich und klagend mit visionärer, berückender Tongebung.

Seine Deutschland-Tournee startete Phlippe Jaroussky im großen Saal der Berliner Philharmonie

Live – in der Berliner Philharmonie am 8. Oktober, wo Philippe Jaroussky seine Deutschland-Tournee startete – war der Eindruck in Teilen ein anderer. Wieder einmal bewahrheitete sich, dass deren großer Saal für diese Art von Konzerten nicht geeignet ist. So klang die Stimme im ersten Beitrag. „Mira in cielo“ aus Arianna e Teseo in der unteren Lage matt und in den Koloraturen dünn, nur die aufsteigenden Skalen ließen den keuschen, zärtlichen Ton des Counters vernehmen. Träumerisch-entrückte piani, feine Triller und lange Bögen gefielen in der Arie des Mirteo aus Semiramide riconosciuta, sehnsuchtsvolle, beinahe körperlose Klagelaute waren in der Arie des Achille aus Ifigenia in Aulide zu vernehmen. Ein beliebtes Sinnbild im Barock für aufgewühlte Seelenzustände war das der stürmischen See ausgesetzte Boot – so auch in Semiramide, regina dell’Assiria, wo der Sänger mit den getupften staccati besonderen Effekt machte.

Jaroussky hört und sieht sich selbst

Zweimal Philippe Jaroussky – auf der Leinwand auf dem Podium in der Berliner Maison de France.

Als erster vokaler Beitrag des zweiten Teiles war die Arie des Orfeo „Dall’ amor più sventurato“ sehr gelungen in ihren wechselnden Stimmungen und der abgestuften Dynamik; Achilles zärtlicher Gesang „Le limpid’onde“  aus Ifigenia in Aulide geriet bis an den Rand des Flüsterns. Jarousskys Glanzstück war natürlich auch hier Acis „Alto Giove“ mit seinem mirakulösen Beginn, den stupenden messa di voce-Effekten und dem reizvoll variierten Da capo. Eine ähnlich magische Wirkung konnte der Solist auch mit seiner ersten Zugabe erzielen – der Arie „Sposa non mi conosci“ aus Giacomellis Merope als expressives Lamento mit flehentlichen Klagelauten. Dagegen fiel die zweite – „In braccio a mille furie“ aus Porporas Semiramide riconosciuta – deutlich ab. Diese Arie sollte er im Konzert überhaupt nicht singen, da ihm für dieses furiose Stück live die heroische Attacke und das stimmliche Gewicht fehlen. Das Venice Baroque Orchestra unter Andrea Marcon bereicherte das Programm mit wirkungsvollen Instrumentalbeiträgen, der stürmischen Sinfonia zu Porporas Germanico in Germania (mit einigen Misstönen der Hörner), der mit keckem Schwung servierten Sinfonia zu Leos L’Olimpiade und dem affektbetonten Concerto grosso Nr. 12 d-Moll „La Follia“ von Geminiani in mitreißender Steigerung.

Jaroussky mit Schauspieler Wittmann

Noch Fragen? Der Sänger mit dem Schauspieler Thomas Wittmann. Fotos: Winter

Im Vorfeld seines Auftritts in der Philharmonie war der Countertenor auf Einladung des Geschäftes L&P-Classic zu Gast in der Berliner Maison de France, wo der Schauspieler Thomas Wittmann den Sänger zu seinem Farinelli/Porpora-Projekt befragte. Überaus sympathisch und klug, äußerte sich dieser nicht nur zu der Beziehung zwischen dem Kastraten und seinem Lehrer, sondern auch zu allgemeinen Problemen der Gesangstechnik, seiner eigenen Zusammenarbeit mit Cecilia Bartoli, die er sehr bewundert, und der achtmonatigen Auszeit im letzten Jahr. Filmausschnitte von den CD-Aufnahmen und einem Konzert in Frankreich rundeten den gut besuchten  Abend ab, der in eine ausgedehnte Signierstunde mündete, bei der sich Jaroussky jedem einzelnen Musikfreund ganz persönlich und individuell widmete.

Bernd Hoppe

Wo liegt denn hier Frida Leider?

 

Sei gegrüßt, geweihte Stille! Die ersten Zeilen des Liedes „Auf einem Kirchhof“, das der achtzehnjährige Schubert auf ein Gedicht von Schlechta komponiert hat, könnten über jedem Friedhoftor stehen. Auch wenn an lauten Straßen gelegen, die Stille schafft der Ort selbst. Sie kommt aus ihm. Viele Menschen gehen gern auf Friedhöfe, wo sich der Tod von seiner besten Seite zeigt. Gräber sind ein sehr authentischer Ort, um derer zu gedenken, die dort ihre letzte Ruhe fanden. Das gilt auch für Sänger und Musiker. Ihre Tondokumente simulieren zwar Unsterblichkeit. Die ist und bleibt virtuell und endetet an den Gräbern. Dort lässt sich aber Zwiesprache halten und Nähe finden. Das ganze Jahr hindurch, wenngleich das Totengedenken traditionell auf den Spätherbst fällt. In loser Folge wollen wir uns mit Ihnen auf Spurensuche begeben. Unser Autor Peter Sommeregger beginnt mit dem Waldfriedhof Heerstraße in Berlin-Charlottenburg.

Hempel, FriedaJPG

Kennern gilt er als einer der schönsten, gleichzeitig auch als einer von der kulturellen Prominenz bevorzugten Friedhöfe Berlins. Zu Recht. Das vom Eingangsbereich stark abfallende Gelände ist terrassenförmig angelegt, die Talsohle bildet der Sausuhlensee, der Name ein Hinweis auf die eher unliebsamen Besucher des Friedhofs. In den 1920er Jahren als Begräbnisstätte hauptsächlich für die Bürger von Neu-Westend begründet, erfreut sich der Friedhof inzwischen stadt- und landesweit größter Beliebtheit. Berühmtheiten wie die Schauspieler Paul Wegener, Tilla Durieux, Leonhard Steckel, Klaus-Jürgen Wussow und Horst Buchholz, oder das Multitalent Loriot haben hier in den letzten Jahren ihre Ruhestätte gefunden.

Klose, MargareteWir wollen uns heute aber auf die Gräber bedeutender Sänger beschränken. Beginnen wir mit dem wuchtigen Granit-Findling, der das Grab der gefeierten, stimmlich eher filigranen Koloratrice Frieda Hempel markiert. Nach fulminantem Karrierestart entschwand sie einst schnell an die New Yorker Met, beendete früh ihre Karriere, und konzentrierte sich anschließend auf die Mehrung ihres beträchtlichen Vermögens. Auf Schallplatten ist uns ihre agile, zu unglaublichen Höhenflügen fähige Stimme erhalten geblieben (Grabstelle I-Erb-12). Unweit davon das schlichte Urnengrab der bedeutenden Mezzosopranistin Margarete Klose und ihres Ehemannes und Lehrers Walter Bültemann.  Die lebenslange Geheimhaltung  ihres  korrekten Geburtsdatums setzt sie konsequent auf ihrem Grabstein fort – sie unterschlägt es (Grabstelle I Ur-8).

Suthaus, LudwigNoch unauffälliger und schwer auffindbar ist die Grabstelle des Heldentenors Ludwig Suthaus, Furtwänglers Tristan in der gefeierten Nachkriegsinszenierung im Berliner Admiralspalast. Durch die spätere Plattenaufnahme des Werks unter Furtwängler hat er ein Stück Unsterblichkeit erlangt (Grabstelle II Ur-3124). Ein stilisiertes steinernes kleines Teehaus schmückt das Grab der japanischen Sängerin Michiko Tanaka, die vor ihrer Heirat mit dem Schauspieler Victor de Kowa als Opernsängerin, später Filmschauspielerin erfolgreich war (Grabstelle 16 G-29).

Leider, FridaGeradezu ein Wallfahrtsort für Wagnerianer ist das Grab von Frida Leider, der vielleicht bedeutendsten Wagnersängerin des 20. Jahrhunderts. Ihre Schallplatten sind bis heute wahre Ikonen des Wagnergesangs, und höchster Gesangskultur ganz allgemein. Sie ruht neben ihrem jüdischen Ehemann Rudolf Deman, einst Konzertmeister der Staatskapelle Berlin, von den Nazis verfolgt, von seiner Frau löwenhaft verteidigt, und nach seinem Schweizer Exil glücklich heimgekehrt. Auch er hat zahlreiche Tondokumente seiner Kunst hinterlassen (Grabstelle 19N-26/27). Der hünenhafte Bass-Bariton Michael Bohnen, Liebling nicht nur der Frauen, zeitweiliger Ehemann der Tänzerin La Jana, Opern- und Filmstar in der alten wie der neuen Welt, muss sich mit einem winzigen Urnengrab bescheiden, selbst dieses stand vor Jahren schon kurz vor der Einebnung, eine beherzte Enkelin hat dies verhindert. Bohnen, der als Raubein galt, hatte sich in seinem Leben nicht nur Freunde gemacht (Grabstelle 18 B-9).

Bohnen, MichaelTatsächlich verschwunden und selbst in den Aufzeichnungen der Friedhofsverwaltung nicht mehr auffindbar ist das Grab Leo Schützendorfs, auch er Bass-Bariton und der bedeutendste Künstler von mehreren singenden Brüdern. Gleichsam zum Trost für das verlorene Grab hat man einen Weg auf dem Friedhof nach ihm benannt. Ebenfalls nicht mehr existent ist die Grabstelle des einst gefeierten Baritons Desider Zador. Der gebürtige Ungar wirkte an fast allen wichtigen europäischen Opernhäusern, zuletzt an der heutigen Deutschen Oper in Charlottenburg. Noch vorhanden ist das Grab des Tenors Harry Steier, lange Jahre Ensemblemitglied des Charlottenburger Opernhauses, mit häufigen Auftritten in Bayreuth in kleinen Rollen, der unzählige Volksliedplatten hinterlassen hat, aber auch eine höchst dubiose Aufnahme: „Adolf Hitlers Lieblingsblume“, die offenbar selbst den Nazis zu kitschig war, und alsbald wieder aus dem Katalog gestrichen wurde (Grabstelle 12B-19/20).

Fischer-Dieskau, DietrichProminentester „Neuzugang“ ist der große Dietrich Fischer-Dieskau, Kammersänger, Ehrenbürger Berlins, und auch sonst mit allen nur erdenklichen Ehrungen überschüttet. Das am häufigsten nachgefragte und von Legenden umwobene Grab existiert nicht mehr: die aufstrebende Hochdramatische Gertrud Bindernagel, nach einer Siegfried-Aufführung an der Berliner Bismarckstraße von ihrem alkoholisierten Noch-Ehemann Wilhelm Hintze angeschossen, erlag Tage später einer Embolie. Das Leben ist zumeist erheblich trivialer als die letzten von ihr gesungenen Worte: „Leuchtende Liebe, lachender Tod“. Tausende sollen ihrer Beerdigung als Zaungäste beigewohnt haben, heute ist ihr Name nur noch Kennern ein Begriff. Bei der Versammlung so vieler unvergesslicher Stimmen verwundert es nicht, dass Gerüchte von in hellen Vollmondnächten stattfindenden Tristan-Aufführungen wissen wollen, wie die Welt sie noch nicht gehört hat….

Fotos: Sommeregger/Winter

 

Johann Christoph Vogels „Toison d’or“

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Johann Christoph Vogel wurde am 18. März 1756 in Nürnberg geboren und starb am 26. Juni 1788 in Paris. In seiner kurzen Laufbahn schrieb er zwei Opern, Sinfonien, Quartette, Konzerte und einige Kammermusikwerke. Im Jahr 1776 beschloss Vogel, sich in Paris niederzulassen, angezogen von der blühenden Kunstszene unter dem Einfluss von Königin Marie-Antoinette. Dort wurde er Zeuge des triumphalen Erfolges von Glucks Alceste (1776) und wurde von da an einer der glühendsten Anhänger dieses Wiener Komponisten.

Der Komponist Vogel scheint eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen zu sein: „In Vogels Charakter zeigte sich ein gewisser Stolz, den er mit einer extremen Empfindsamkeit und mit dem zartesten Feingefühl verband. Man sah ihn, wie er die bewegendsten Passagen seiner Opern weinend am Klavier darbot; dabei versuchte er, aus den Gesichtern seiner Zuhörer herauszulesen, welchen Eindruck seine Musik gemacht hatte. Er beobachtete die Blicke und fällte daraufhin sein Urteil über seine eigenen Werke.“ (Courrier des Spectacles, „Notice sur Vogel“.) Seine Empfindsamkeit wurde durch seinen Hang zum Alkohol noch gesteigert, wie einige seine Biografen betont haben, die gerne folgende Anekdote zitierten: „Einer der Freunde Vogels sah sein Klavier, auf dem zahlreiche Flaschen standen, und warf ihm vor, den Wein zu sehr zu lieben. Vogel antwortete ihm, indem er ein schwungvolles und leidenschaftliches Stück spielte, und fragte ihn, nachdem er geendet hatte: ‚Kann man solche Musik etwa mit Limonade hervorbringen?'“ (Castil-Blaze, L’Académie royale de musique). Die Schwierigkeiten, die er zu bewältigen hatte, um seine Opern auf die Bühne zu bringen, führten zu wahren Exzessen auf diesem Gebiet. Sein Mangel an Enthaltsamkeit begünstigte ein bösartiges Fieber, das zu seinem vorzeitigen Tod führte – er starb als 32-Jähriger in bitterer Armut.

Bei einem seiner feuchtfröhlichen Abende lernte der Komponist auch Philippe Desriaux, seinen zukünftigen Librettisten, kennen. In den Memoires secrets, die unter dem Namen von Louis Petit de Bachaumont veröffentlicht wurden, stand zu lesen, Vogel sei ein „guter Deutscher, der, obgleich jung, schon ein Trunkenbold war; er begab sich regelmäßig in das ‚Les Procherons‘ genannte Stadtviertel und beklagte sich darüber, keinen Autor zu finden, der ihm ein Opernlibretto zur Vertonung anvertrauen wolle. Dort lungerte auch Monsieur Desriaux herum, der ebenfalls vom Wein bereits ganz abgestumpft war, auf der Suche nach einem Musiker, der die Musik zu [seinem Libretto] La Toison d’or (Das goldene Vlies) komponieren wollte. Auf diese Weise trafen sich die beiden Hallodris, lernten einander kennen und so entstand diese Oper. „Neben La Toison d’or lieferte Desriaux dem Komponisten auch ein Libretto mit dem Titel Demophon; diese Oper wurde als erste vollendet, kam aber erst 1789 zur Aufführung, einige Monate nach dem Tod des Komponisten.

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Die Uraufführung von La Toison d’or fand unter schwierigen Umständen statt, denn in der Academie Royale de Musique war es zuvor zu einer ganzen Reihe von Misserfolgen gekommen. Aber die Leitung der Oper setzte große Hoffnungen auf das Werk: Es hatte nicht nur eine hochdramatische Handlung, sondern war die erste Oper seit Salieris Les Danaides aus dem Jahr 1784, das wahrhaft in der Gluck’schen Tradition stand. Doch leider wurden diese Hoffnungen durch einen abermaligen Misserfolg enttäuscht: La Toison d’or wurde zwischen dem 5. September und dem 7. November 1786 nur neun Mal aufgeführt. Man bemühte sich sofort im Anschluss, die fehlende Begeisterung des Publikums durch die Aufführung mehrerer ballets pantomimes auszugleichen, da keine andere Oper zur Aufführung bereit stand. „La Toison d’or schleppt sich mühsam dahin und hat es innerhalb von zwei Monaten lediglich zu sieben Aufführungen gebracht, und auch das nur, weil das Werk von der Verwaltung gefördert wird, nicht etwa vom Publikum“ (La Harpe, Correspondance litteraire). Aber diese künstlichen Maßnahmen reichten nicht aus, und das Werk scheiterte schließlich unter Querelen endgültig. Die Gluckisten hatten vergeblich versucht, das Debüt des jungen deutschen Komponisten zu unterstützen, aber die Anhänger der italienischen Schule – repräsentiert von Piccinni und Sacchini – traten zahlreicher und entschiedener auf. Sie taten alles, um La Toison d’or zum Scheitern zu bringen, was ihnen schließlich auch gelang.

Das Werk geriet dennoch nicht vollständig in Vergessenheit. Unter dem Titel Medée á Colchos wurde es am 17. Juni 1788 noch einmal auf den Spielplan gesetzt. Sowohl das Libretto als auch die Musik wurden überarbeitet, und die teilweise veränderten Kulissen gaben dem Ganzen den Anschein einer Neuheit. Schließlich wurden auch einige, auf das Drama abgestimmte Ballette eingefügt, um so einem Mangel abzuhelfen, der von Anfang an offensichtlich gewesen war. Dennoch kam es nur zu drei immer schlechter besuchten Aufführungen. „Man hat La Toison d’or wieder hervorgeholt, eine Oper, die schon beim ersten Anlauf wenig Erfolg hatte. Nun hat man sich bemüht, sie mit Hilfe von immer gern gesehenen Balletten ein wenig aufzuplustern, um dieser armseligen Oper in diesem Sommer wenigstens einen kleinen Erfolg zu verschaffen“, so giftete man in der Correspondance litteraire (La Harpe).

Das Scheitern wurde durch eine schreckliche Neuigkeit noch beschleunigt: Der bereits sehr geschwächte Vogel starb zwischen der zweiten und der dritten Aufführung. Sämtliche Bemühungen um das Werk wurden umgehend eingestellt, und die Partitur von La Toison d’or landete in den Regalen der Bibliothek in der Pariser Oper, wo sie noch heute steht. Das Werk wurde aus dem Repertoire genommen, und sämtliche Erinnerungen daran gerieten bald darauf durch die Uraufführung von Demophon in Vergessenheit. Diese Oper hatte Vogel bei seinem Tod vollendet hinterlassen. Wegen der Qualität des Librettos, der Musik und wegen des hohen Unterhaltungswerts galt diese zweite Oper als Meisterwerk des Komponisten, und La Toison d’or stand zu Unrecht in ihrem Schatten.

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Und Hervé Niquet dirigierte sein Concert Spirituel/ON

Und Hervé Niquet dirigierte sein Concert Spirituel/ON

Seit der Uraufführung von Iphigenie en Aulide im Jahr 1774 beherrschte Gluck die französische Opernszene. Und obwohl er Paris 1779 nach dem Scheitern von Echo & Narcisse verlassen hatte, dräute sein Schatten noch immer über der Academie Royale de Musique. Unter der Kohorte junger Komponisten, die nur darauf warteten, dass ihre Werke auf den Brettern dieser Bühne zur Aufführung kamen, bemühte sich Vogel besonders beflissen darum, Glucks Nachfolge anzutreten. Zumindest tat er sich lautstark als sein geistiger Erbe hervor; er widmete Gluck die Partitur seines Toison d’or mit berührend aufrichtigen Worten. Als Reaktion auf diese schmeichelhafte Zueignung war Gluck voll der Ermutigung für den jungen Komponisten, dem er nach der Lektüre seiner Partitur schrieb: „Das dramatische Talent, das Sie zeigen, überragt noch Ihre weiteren Qualitäten, und dazu möchte ich Sie tiefstem Herzen beglückwünschen. Dieses Talent ist eine besonders seltene Gabe, da es in Ihrer Natur liegt: nicht durch Übung erworben wurde.“

Man muss die zeitgenössischen Kritiken, Kommentare und die Reaktionen auf die Aufführungen aus den Jahren 1786 und 1788 aus der Distanz von über zwei Jahrhunderten werten: Das Werk entstand zu einer Zeit von verbitterten und unaufhörlichen Auseinandersetzungen zwischen den „Gluckisten“ (den Anhängern des »deutschen« Stils) und den „Piccinisten“ (die den „italienischen“ Stil verteidigten) geprägt war, der im Jahr 1778 aufgeflammt war. Und die angeblichen Schwächen oder Qualitäten von Libretto und Partitur wurden an diesem Maßstab gemessen, der für eine heutige Einschätzung nicht die geringste Rolle mehr spielt.

Die Figuren der Medea und des Jason auf die Bühne zu bringen war eine Versuchung, der viele Komponisten vom 17. bis zum 20. Jahrhundert nicht widerstehen konnten. Am Vorabend der Französischen Revolution hielt man dieses Sujet für „nicht lohnend und grausam“ (Guillaume Imbert, Correspondance litteraire secrete, 1788). Als Desriaux sich damit auseinandersetzte, wurde er für seine Geschicklichkeit in der Versifizierung und für seine anrührenden Szenen gelobt, aber man hielt seine dramatische Umsetzung nicht für restlos gelungen. Es ist wahr, dass sein Libretto von den ersten Szenen an daran krankt, dass Medea als kaltherzige Furie dargestellt wird, und dass er sich zu früh (im Verlauf des zweiten Aktes) von der einzigen anrührenden Figur, nämlich Hypsipyle, trennt. Was Jason betrifft, so wird er ebenso niederträchtig gezeichnet wie im Mythos: Er ist zögerlich und wechselhaft, er hat nichts Heldenhaftes an sich – von einigen kurzen Anwandlungen hier und da in den gesamten drei Akten abgesehen, die überdies meistens unangebracht sind.

Aus diesem Grund wurde Desriaux eine gewisse Monotonie zum Vorwurf gemacht, die noch durch die fast durchgängige Präsenz Medeas und ihre zahlreichen Monologe verstärkt wird. „Die Rolle der Zauberin, die zwar Charakterstärke aufweist, wurde nicht allgemein geschätzt; eine derartige Monotonie von Zornausbrüchen und Verwünschungen wirkt ermüdend. Die tragischen Ereignisse des zweiten Aktes schlagen beinahe ins Lächerliche um, und die Auflösung des Dramas ist alles andere als zufriedenstellend. Trotz dieser Mängel weist der Text Anzeichen von Talent auf, vor allem in seinem Stil, der häufig lebhaft und präzise ist.“ (Journal Generale de France, 1786.)

Die tragische Größe des Sujets und die Leidenschaft der von Desriaux erdachten Heldin haben Vogel wohl gereizt, das Libretto mit einer Musik umzusetzen, die eine größtmögliche Intensität erreichen sollte. Das ist ihm offensichtlich gelungen, denn man attestierte ihm, sein Werk brilliere mit „Schönheit allerersten Ranges, {…} und alle waren sich darin einig, dass die Begleitung und die Rezitative seelenvoll und expressiv sind. Kurz, Vogel scheint ein rechtmäßiger Anwärter auf den Lorbeerkranz zu sein, der die Stirn des unsterblichen Gluck krönt, dessen Fußstapfen er – vielleicht etwas zu genau – folgt“ (Journal General de France, 1786). War seine Nachahmung des Meisters denn so greifbar? Beim Mercure de France war man von den Fähigkeiten des jungen Komponisten überzeugt und versuchte, ihn dazu zu ermutigen, seinen eigenen Weg zu suchen: „Warum sklavisch dem Vorbild eines anderen folgen, wenn man doch auch seine eigene Richtung einschlagen kann? Nur durch ein eigenständiges Talent macht man von sich reden; kriecherische Nachahmer gibt es zuhauf, doch Monsieur Vogel ist nicht dazu geboren, zu diesen zu gehören.“ (Mercure de France, 1786.)

„Medea in Corinto“/ Szene Giuditta Pasta als Medea mit Kindern/ OBA

Diese Unterwerfung unter das Gluck’sche Modell schmälerte die ureigenen Verdienste Vogels nur zum Teil. Aber überall dort, wo er seinen persönlichen Ausdruck finden wollte, verfiel der Komponist in ein anderes Extrem und schrieb übertrieben glutvoll und mit zu vielen Effekten. „Das ist generell Vogels Schwäche wie auch die aller jungen Komponisten, vor allem wenn sie über eine empfindsame Seele verfugen. Aus Furcht, nicht genug auszudrücken, wollen sie allem und jedem Ausdruck verleihen und übertreiben es dabei. Fast alle Modulationen in diesem Werk stehen in Moll, und überall finden sich bizarre Akkorde sowie höchst vertrackte harmonische Übergänge. Es gibt wohl nicht einen einzigen Takt, in dem der Komponist keine besondere Absicht verfolgt. Im Ergebnis ist das Werk ermüdend, vielleicht gar langweilig. In Wahrheit handelt es sich um ein Übermaß von Talent, aber schließlich stellt auch diese Überfülle ein Scheitern dar.“ (Mercure de France, 1786.) Paradoxerweise schenkte er dem Pariser Publikum eine Partitur, „die alle Welt für erhaben hielt, die niemand verstand, und bei der man vor lauter Bewunderung gähnen musste.“ (Lettre á monsieur le comte de B*** sur la revolution arrivée en 1789.)

Das Talent, mit dem Vogel seine Orchesterstücke, seine Rezitative und die musikalische Umsetzung der Rolle der Medea erdacht hat, wurde einmütig anerkannt – unabhängig davon, ob die Musik nun Gähnen oder Applaus hervorrief: „Es gelang ihm, Medeas immer gleiche Zornausbrüche mit einer großen Vielfalt des Ausdrucks zu versehen. Die Arie ‚Ah! ne me parlez plus d’amour et d’esperance‘ im dritten Akt ist ein Meisterwerk.“ Was die Musik betraf, war das Urteil vollkommen einhellig: „Dieser erste Versuch eines jungen Komponisten gibt sicherlich Anlass zu den größten Hoffnungen.“ Man ging sogar so weit zu sagen, dass „kein junger Komponist zuvor seine Laufbahn auf eine so erlesene Weise begonnen hat“ (Mercure de France, 1786).

Benoit Dratwicki/ youtube

Man muss jedoch erkennen, dass trotz allen Lobes weder das Publikum noch die Kritiker dieser Zeit in der Lage waren, zu erkennen, wie gewagt Vogels Partitur ist und wie viel Innovatives und Originelles in ihr enthalten ist. Geschult an deutscher Musik verfügte der Komponist als direkter Erbe der großen Mannheimer Schule über einen sinfonischen Atem wie kaum ein französischer Komponist – mit Ausnahme von Gossec. In der ambitionierten Ouvertüre zeigt sich dieses Talent sofort, ebenso wie in den wenigen Tanzsätzen. Aber vor allem in der Begleitung der Chöre und einzelner Arien wird Vogels ganzes Können offensichtlich. Zu Hypsipyles Flehen, Medeas Gebrüll und Jasons kriegerischem Rachegeschrei seufzt, gewittert und trompetet das Orchester. Selbst das Rezitativ ist voll ruckartiger Bewegungen und verwirrender Punktierungen, die das Drama auf wirkungsvolle und angemessene Weise unterstützen. Übernatürliche Szenen und Naturkatastrophen bieten hervorragende Gelegenheiten, das Orchester in allen seinen Facetten vorzuführen, und Vogel lässt keine dieser Möglichkeiten aus: Der Begräbnischor, der den Tod des Hypsipyle begleitet, steht in der Tradition düsterer und kargerer Kirchengesänge, während Medeas Verwünschungen mit Harmonien und ungewöhnlichen Klängen untermalt werden, die schon auf die Romantik vorweisen. Das Gewitter im zweiten Akt und die letzte Schlacht ermöglichen es dem gesamten Orchester, eine schon beinahe furchterregende Virtuosität an den Tag zu legen, während Solisten und Chor noch Aufschreie und Ausrufe hinzufügen. La Toison d’or ist zweifellos ein bedeutendes Bindeglied zwischen Gluck und Spontini. Nicht wegen der – so gut wie nicht vorhandenen – Wirkung auf das zeitgenössische Publikum, sondern weil wir diese Oper heute als Beleg für die große Vielfalt der musikalischen Stile würdigen können, die während der Regentschaft Ludwigs XIV. und Marie-Antoinettes an der Académie Royale de Musique präsentiert wurden. Bénoit Dratwicki (Übersetzung: Susanne Lowien/Glossa)

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(Den Text übernahmen wir aus dem Booklet zur Aufnahme bei Glossa unter der Leitung von Hervé Niquet, mitgeschnitten am 27. Juli 2012 beim Nürnberger Gluck-Festival 2012 mit Marie Kaline, Jean-Sébastien Bou, Judith Van Wanroij u. a. sowie dem Concert Spirituel/ Glossa/Note 1/ 2 CD GCD 921628. Dank auch an Verena Koegler von der Oper Nürnberg, wo im Sommer 2012 diese Aufführung stattfand und vom Rundfunk mitgeschnitten wurde.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Märchendiven

Wenn ich wieder einmal in einem Meisterkurs oder einer Hochschulaufführung sitze, in der Endzwanziger erste Schritte im Operngeschäft wagen, und tatsächlich hörte ich einmal bei einem Meisterkurs zu, wo Christa Ludwig Studenten das Kleine Einmaleins des Ariensingens nahe zu bringen versuchte, werde ich an diese Einspielung denken, auf der die 20-jährige Christa Ludwig die Königin in Jaromir Weinbergs Schwanda der Dudelsackpfeifer singt. Es handelt es sich um eine Aufnahme des Hessischen Rundfunks von 1948. Seit Herbst 1946 war Ludwig an der Frankfurter Oper engagiert: Hirt in Tosca, Orlofsky waren die ersten Partien, „in diesen allerersten Jahren habe ich wohl so alle Klein- und Kleinstrollen gespielt. Einmal zählte ich 250 Auftritte in zehneinhalb Monaten an der Oper“, schreibt sie dazu in ihrer Biografie. Und weiter „..ich war eine gesuchte Kraft für Werke von Liebermann, Boulez, Nono etc… Egk, Fortner, Maderna – ich lernte leicht, sang schön und war nicht teuer“.

Weinbergers Oper ist eine beherzte jazzige, folkloristisch Märchenoper von 1927. Kurz: der Gauner Babinsky überredet den Dudelsackpfeifer Schwanda, die Königin zu befreien, deren Herz von einem Magier in Eis verzaubert wurde. Anschließend gelangt Schwanda in die Hölle, wo ihn Babinsky befreit, indem er den Teufel beim Kartenspiel austrickst. Wirkungsvolle Partien, interessante Arien und Situationen, farbige Zwischenspiele, von dem die von Winfried Zillig betreute Aufnahme bei erstaunlich gutem Klang Zeugnis gibt. Karl Friedrich kennt man von zahlreichen Operetteneinspielungen, u. a. Giuditta und Paganini unter Lehár. Diese Operettenaffinität kommt dem Babinsky zugute, Karl Schmitt-Walter bleibt als Schwanda ein wenig steif, bei Ludwigs souveräner höhenstarker Königin meint man schon die kommende Mahler- und Brahms-Sängerin zu hören, Betina Bruckers Dorota ist bittere Kost. Dafür entschädigt der Bonus: Leyla Gencer – was hat sie nicht noch alles gesungen! – in vier Ausschnitten als Dorota in Schwanda, il suonatore di cornamusa 1958 bei RAI unter Nicola Rescigno.

Rolf Fath

 

Jaromir Weinberger: Schwanda der Dudelsackpfeifer mit Karl Schmitt-Walter (Schwanda), Betina Brucker (Dorota, seine Frau), Karl Friedrich (Babinsky, ein Bandit), Christa Ludwig (Die Königin) Joseph Lindlar (der Magier) u. a.; Chor und Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks; Leitung: Winfried Zillig; 2 CD Walhall WLCD 0377