Sei gegrüßt, geweihte Stille! Die ersten Zeilen des Liedes „Auf einem Kirchhof“, das der achtzehnjährige Schubert auf ein Gedicht von Schlechta komponiert hat, könnten über jedem Friedhoftor stehen. Auch wenn an lauten Straßen gelegen, die Stille schafft der Ort selbst. Sie kommt aus ihm. Viele Menschen gehen gern auf Friedhöfe, wo sich der Tod von seiner besten Seite zeigt. Gräber sind ein sehr authentischer Ort, um derer zu gedenken, die dort ihre letzte Ruhe fanden. Das gilt auch für Sänger und Musiker. Ihre Tondokumente simulieren zwar Unsterblichkeit. Die ist und bleibt virtuell und endetet an den Gräbern. Dort lässt sich aber Zwiesprache halten und Nähe finden. Das ganze Jahr hindurch, wenngleich das Totengedenken traditionell auf den Spätherbst fällt. In loser Folge wollen wir uns mit Ihnen auf Spurensuche begeben. Unser Autor Peter Sommeregger beginnt mit dem Waldfriedhof Heerstraße in Berlin-Charlottenburg.
Kennern gilt er als einer der schönsten, gleichzeitig auch als einer von der kulturellen Prominenz bevorzugten Friedhöfe Berlins. Zu Recht. Das vom Eingangsbereich stark abfallende Gelände ist terrassenförmig angelegt, die Talsohle bildet der Sausuhlensee, der Name ein Hinweis auf die eher unliebsamen Besucher des Friedhofs. In den 1920er Jahren als Begräbnisstätte hauptsächlich für die Bürger von Neu-Westend begründet, erfreut sich der Friedhof inzwischen stadt- und landesweit größter Beliebtheit. Berühmtheiten wie die Schauspieler Paul Wegener, Tilla Durieux, Leonhard Steckel, Klaus-Jürgen Wussow und Horst Buchholz, oder das Multitalent Loriot haben hier in den letzten Jahren ihre Ruhestätte gefunden.
Wir wollen uns heute aber auf die Gräber bedeutender Sänger beschränken. Beginnen wir mit dem wuchtigen Granit-Findling, der das Grab der gefeierten, stimmlich eher filigranen Koloratrice Frieda Hempel markiert. Nach fulminantem Karrierestart entschwand sie einst schnell an die New Yorker Met, beendete früh ihre Karriere, und konzentrierte sich anschließend auf die Mehrung ihres beträchtlichen Vermögens. Auf Schallplatten ist uns ihre agile, zu unglaublichen Höhenflügen fähige Stimme erhalten geblieben (Grabstelle I-Erb-12). Unweit davon das schlichte Urnengrab der bedeutenden Mezzosopranistin Margarete Klose und ihres Ehemannes und Lehrers Walter Bültemann. Die lebenslange Geheimhaltung ihres korrekten Geburtsdatums setzt sie konsequent auf ihrem Grabstein fort – sie unterschlägt es (Grabstelle I Ur-8).
Noch unauffälliger und schwer auffindbar ist die Grabstelle des Heldentenors Ludwig Suthaus, Furtwänglers Tristan in der gefeierten Nachkriegsinszenierung im Berliner Admiralspalast. Durch die spätere Plattenaufnahme des Werks unter Furtwängler hat er ein Stück Unsterblichkeit erlangt (Grabstelle II Ur-3124). Ein stilisiertes steinernes kleines Teehaus schmückt das Grab der japanischen Sängerin Michiko Tanaka, die vor ihrer Heirat mit dem Schauspieler Victor de Kowa als Opernsängerin, später Filmschauspielerin erfolgreich war (Grabstelle 16 G-29).
Geradezu ein Wallfahrtsort für Wagnerianer ist das Grab von Frida Leider, der vielleicht bedeutendsten Wagnersängerin des 20. Jahrhunderts. Ihre Schallplatten sind bis heute wahre Ikonen des Wagnergesangs, und höchster Gesangskultur ganz allgemein. Sie ruht neben ihrem jüdischen Ehemann Rudolf Deman, einst Konzertmeister der Staatskapelle Berlin, von den Nazis verfolgt, von seiner Frau löwenhaft verteidigt, und nach seinem Schweizer Exil glücklich heimgekehrt. Auch er hat zahlreiche Tondokumente seiner Kunst hinterlassen (Grabstelle 19N-26/27). Der hünenhafte Bass-Bariton Michael Bohnen, Liebling nicht nur der Frauen, zeitweiliger Ehemann der Tänzerin La Jana, Opern- und Filmstar in der alten wie der neuen Welt, muss sich mit einem winzigen Urnengrab bescheiden, selbst dieses stand vor Jahren schon kurz vor der Einebnung, eine beherzte Enkelin hat dies verhindert. Bohnen, der als Raubein galt, hatte sich in seinem Leben nicht nur Freunde gemacht (Grabstelle 18 B-9).
Tatsächlich verschwunden und selbst in den Aufzeichnungen der Friedhofsverwaltung nicht mehr auffindbar ist das Grab Leo Schützendorfs, auch er Bass-Bariton und der bedeutendste Künstler von mehreren singenden Brüdern. Gleichsam zum Trost für das verlorene Grab hat man einen Weg auf dem Friedhof nach ihm benannt. Ebenfalls nicht mehr existent ist die Grabstelle des einst gefeierten Baritons Desider Zador. Der gebürtige Ungar wirkte an fast allen wichtigen europäischen Opernhäusern, zuletzt an der heutigen Deutschen Oper in Charlottenburg. Noch vorhanden ist das Grab des Tenors Harry Steier, lange Jahre Ensemblemitglied des Charlottenburger Opernhauses, mit häufigen Auftritten in Bayreuth in kleinen Rollen, der unzählige Volksliedplatten hinterlassen hat, aber auch eine höchst dubiose Aufnahme: „Adolf Hitlers Lieblingsblume“, die offenbar selbst den Nazis zu kitschig war, und alsbald wieder aus dem Katalog gestrichen wurde (Grabstelle 12B-19/20).
Prominentester „Neuzugang“ ist der große Dietrich Fischer-Dieskau, Kammersänger, Ehrenbürger Berlins, und auch sonst mit allen nur erdenklichen Ehrungen überschüttet. Das am häufigsten nachgefragte und von Legenden umwobene Grab existiert nicht mehr: die aufstrebende Hochdramatische Gertrud Bindernagel, nach einer Siegfried-Aufführung an der Berliner Bismarckstraße von ihrem alkoholisierten Noch-Ehemann Wilhelm Hintze angeschossen, erlag Tage später einer Embolie. Das Leben ist zumeist erheblich trivialer als die letzten von ihr gesungenen Worte: „Leuchtende Liebe, lachender Tod“. Tausende sollen ihrer Beerdigung als Zaungäste beigewohnt haben, heute ist ihr Name nur noch Kennern ein Begriff. Bei der Versammlung so vieler unvergesslicher Stimmen verwundert es nicht, dass Gerüchte von in hellen Vollmondnächten stattfindenden Tristan-Aufführungen wissen wollen, wie die Welt sie noch nicht gehört hat….
Fotos: Sommeregger/Winter