Archiv für den Monat: Juli 2024

Conradin Kreutzers „Taucher“

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Eine neue Oper von einem so scheinbar Bekannten/Unbekannten sollte doch eigentlich für Opernfreunde ein Grund zum Aufhorchen sein. Sollte eigentlich! Denn Conradin Kreutzer (* 22. November 1780 in der Thalmühle bei Meßkirch im Fürstentum Fürstenberg; † 14. Dezember 1849 in Riga, nicht zu verwechseln mit dem älteren Franzosen Rudolphe Kreutzer/* 16. November 1766 in Versailles; † 6. Januar 1831 in Genf), dessen Namen unsere Groß- und Urgroßeltern wie ein Haushaltswort ihr eigen nannten,  hat nicht nur seine heute einzig bekannte Oper Das Nachlager in Granada (nebst Ohrwurm für jeden antiken Bariton von Rang) geschrieben. Neben einigen Aufnahmen davon (mit und ohne Hermann Prey aber auch mit Jörn W. Wilsing) gibt es zudem einen Radiomitschnitt der Alpenhütte von 1965 aus Freiburg und einen privat gehandelten Mitschnitt seiner Oper Melusina aus Linz 2023,  aus Rastatt  gab´s im Radio 2021 Gesänge aus Goethes Faust mit vier Solisten zum Klavier, zudem Kammer- und einige Sinfonische Musik auf CD, was nicht gerade viel ist, bedenkt man Kreutzers ehemaligen Ruhm. Aber …

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Nun hat die Firma Carus die Vertonung von Schillers Ballade Der Taucher in der Fassung von 1813 in einer Aufnahme des SWR herausgegeben (Leitung: Frieder Bernius. Mitwirkende: Sarah Wegener, Philipp Mathmann/Countertenor, Johannes Hill, Pacal Zurek, Daniel Schmidt, Hofkapelle Stuttgart, Kammerchor Stuttgart, 1 CD 83536).

Das ist ein sehr gemischtes Glück, Tauchen in flachen Gewässern sozusagen, und lässt mich ratlos, schon weil die ursprüngliche Damen-Hosenrolle des Tauchers mit einem Counter (dem mit einer erstaunlichen Vita behafteten Philipp Mathmann) besetzt wird, was nicht nur unverständlich a-historisch, sondern (natürlich nur für mich allein) auch nicht wirklich erfreulich ist. Zumindest entlockt Frieder Bernius seinem Orchester schöne, historisch orientierte Klänge. Aber  reicht das? Zumal dies auf 64 Minuten reduzierte Singspiel fragwürdiger Provenienz auch im Ganzen nicht viel hermacht. Armer Kreutzer.

Dazu schreibt die Firma mutig: Frieder Bernius ist es ein großes Anliegen, vergessene Werke in den Archiven aufzustöbern und dem Publikum vorzustellen. Conradin Kreutzers zweiaktige Oper Der Taucher (frei nach Schiller) ist solch eine Rarität. Sie besticht durch wunderbar eingängige lyrische Melodik und farbenreiche, frühromantische Orchestrierung. Entstanden ist das Werk ursprünglich für eine Aufführung im Stuttgarter Hoftheater im Jahr 1813. Heute ist vor allem eine zweite Fassung bekannt, die Kreutzer für spätere Aufführungen in Wien erstellte. Erstmalig liegt nun eine Einspielung der ursprünglichen, originalen Fassung vor.

Wirklich? Counter? Im Stuttgarter Hoftheater 1813? 64 Minuten only? Und wo kann man die einsehen? Keine Quellenangabe! Wer hat die Partitur erstellt? Im Netz gibt´s nur die Wiener Fassung von 1824 und die von Bürde für Reichardt (1811). Im Programm zum gleichnamigen Konzert in Backnang 2023 (vom SWR mitgeschnitten und bei Sammlern vorliegend) wird immerhin von „Ausschnitten“ gesprochen. Der Beitext zur Carus-CD hält sich da sehr bedeckt: Wo ist da der Sinn einer ausführlichen Betrachtung über die Wiener Fassung 1824, wenn hier die „originale“ (?) von 1813 (in welcher Form auch immer) eingespielt wurde? Weiss man dazu nichts? Wer hat gesungen? Wann genau wurde das Operchen aufgeführt? Keine Quellen, keine Zeitungsberichte? In Stuttgart, damaliger Hauptstadt des Landes? Schlampig, sorry. Da ist man doch als Käufer recht mürrisch …

Aber da es sowenig von Kreutzer gibt, seufzten wir einmal durch und baten den Wiener Musikwissenschaftler Gerrit Waidelich (und die Firma Carus) uns seinen Einführungstext aus der 1-CD-Ausgabe über die spätere und hier nicht aufgenommene Wiener Fassung zu überlassen. Zumindest lernt man da was, wenn auch nicht das Gewünschte. G. H.

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Nun also Gerritt Weidelich: Conradin Kreutzer (1780–1849), der Sohn eines Mühlenpächters aus Meßkirch in Baden, war als einer der produktivsten deutschen Opernkomponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt und beliebt. Nach Erfahrungen mit geistlichen Singspielen während seiner Schulzeit in Zwiefalten und Schussenried sowie mit Opernkompositionen während seiner Freiburger Studienzeit entschloss sich Kreutzer 1804 zu einem Wechsel nach Wien, wo er bis 1810 verblieb.

Conradin Kreutzer, Daguerrographie/Ipernity

Aufführungen von großen Opern in den dortigen Theatern, aus dem Umfeld Schikaneders, von Antonio Salieri, Luigi Cherubini und insbesondere auch von Beethovens Fidelio, begeisterten ihn derart, dass er neben seiner Tätigkeit als Musiker und über seine Kompositionsstudien bei Albrechtsberger hinaus Ambitionen entwickelte, nun auch selbst „große Opern“ komponieren zu wollen. In seinen Briefen an Freunde, Mäzene, Verleger und Mitarbeiter äußerte sich Kreutzer ständig über seine Aktivitäten. Hier wird sehr viel Wissenswertes mitgeteilt über konzeptionelle und ästhetische Erwägungen, über das Feilen an der Struktur seiner Werke, bis hin zu den komplizierten Vertriebswegen, damit seine Opern auf die Bühne gelangen konnten. Nach wenigen Jahren in Wien hatte er mehrere Opern fertiggestellt, und er konnte davon ausgehen, dass sie auch auf die Bühne gelangen würden, berichtete er doch 1808: „Dieses Jahr habe ich für das National-Theater eine heroische Oper geschrieben, die so eben einstudirt und längstens in 3 Wochen aufgeführt werden wird. Mir pocht jetzt schon das Herz, denn dieß ist wirklich in Wien ein gewagtes Werk. Seit ich hier bin haben schon mehr wie 10 Kompositeure gescheitert, selbst Beethoven hat mit seiner Oper nicht reüßirt, er hat über der schönen Instrumentirung den Sänger vergeßen und oft selbst der Instrumentirung den Instrumentisten.“

Bei der von ihm erwähnten eigenen Oper könnte es sich um die verschollene Frühfassung des Taucher handeln. Aber aufgrund der wirtschaftlich und politisch heiklen Situation dieser Jahre hatte er als freier Komponist ohne offiziellen Kapellmeisterposten keine Chance, eines seiner großen Werke wirklich auf die Bühne zu bringen.

„Der Taucher“/Illustration zur Schillerausgabe 1880/Wikipedia

Außerdem hatte Kreutzer in Joseph Weigl, einem seinem Naturell durchaus wesensverwandten Tonsetzer, wohl seinen stärksten Konkurrenten und zog es daher vor, sein Glück wieder anderenorts als ausübender Musiker zu versuchen. Seine Reisen führten ihn nach Belgien, in die Niederlande und nach Paris, wo er sogar Gaspare Spontini erstmals persönlich begegnete. Auf dem Rückweg erlangte er dann in Stuttgart die Position eines Hofkapellmeisters, die er vier Jahre lang bekleidete. Dort brachte er zwar mehrere eigene Opern erfolgreich auf die Bühne, musste aber das ganze Repertoire betreuen und die lokale Einrichtung von Opern italienischer und französischer Meister arrangieren, wobei er bei fremden Werken vielfach Rezitative oder die Orchestrierung ergänzte, so dass er sie in der „großen Form“ Spontinis Vestale oder anderen Vorbildern seiner Zeit anglich. Nach Auflösung seines Vertrags in Stuttgart und einem Engagement in Donaueschingen strebte er wieder nach Wien. Und seine Vorliebe für die Schiller-Ballade Der Taucher, die ihn schon um 1808/1809 in Wien und 1813 in Stuttgart zu Opern inspiriert hatte, ließ ihn dieses Sujet nochmals neu bearbeiten. Über sein neues Werk nach der großen Oper Libussa und dem spektakulären Monodram Cordelia für Wilhelmine Schröder(-Devrient) schrieb er an mehrere Verleger, seine Musik zum Taucher habe „sehr viel Gesang […] ich habe darin zwischen Weber und Roßini die Mittelstraße eingeschlagen!“ Diese Orientierung schien nach der umstrittenen Uraufführung von Webers Euryanthe und der Absage von Schuberts Fierrabras taktisch klug zu sein.

Ende 1823 berichtete Kreutzer: „Den Sommer über habe ich nun wieder eine neue große Oper, der Taucher, geschrieben […]  ich verspreche mir hievon noch größeren Succès – weil ich nun die Richtung des hiesigen musikalisch-theatralischen Geschmakes näher kennen lernte – dem ich zwar niemals auf Unkösten der hohen Kunst fröhnen werde, allein kleine Modificationen muß sich ein kluger Componist wohl gefallen lassen – Im ganzen ist hier doch noch immer, trotz den schrecklichsten Roßiniaden, sehr viel Liebhaberey für schön gedachte, warm und wahr empfundene Compositionen – nur fehlt es wie überall der deutschen Oper an bessern Sängern – mit den Sängerinnen – wenigstens mit 3 bin ich sehr gut zufrieden – das sind eine Mll: Sontag – Sopran – und Mlle. Unger, und Mad: Schütz 2 herrliche MezzoSoprane –“

Die hochbegabten, bald auch international erfolgreichen Sängerinnen inspirierten ihn dazu, die vokalen Ansprüche der Partien virtuos auszugestalten. Zugleich betonte er gegenüber den Liebhabern der „großen romantischen Oper“, sein neues Werk sei „durchaus in höherem pompeuserem Style geschrieben ist, und durchaus in Musick ohne Prosa –“ In der Wiener Theaterzeitung wurde dann gleich moniert, Kreutzer habe sich in dieser Hinsicht zu sehr an der Euryanthe orientiert, hier sei »Weber’s Manier besonders sichtbar. Wir glauben sogar, daß manche Musikstücke besser imponiren und aus der Masse hervortreten würden, wenn nicht das ganze Orchester in immerwährenden Figuren bewegt, in beständiger Anstrengung gehalten wäre.« Kreutzer wies diesen Vorwurf zurück, da er sein Werk verfasst habe, bevor er Webers Oper kennen habe können. Selbst wenn seine Orchesterbehandlung in der Regel als gewandt und originell eingestuft wurde, wenn auch gewiss nicht als so eigenwillig und brillant wie jene Webers, nahmen die Zeitgenossen wahr, dass es für Kreutzers Inspiration entscheidend war, stets in Melodien zu denken, wodurch er letztlich ähnlichen Idealen huldigte wie eine ganze Reihe zeitgenössischer Exponenten der italienischen oder auch französischen Oper dieser Zeit. In einer Besprechung über Kreutzer heißt es denn auch: „Seit je her ist bei Kreutzer der Gesang immerdar der Alles umschlingende Zaubergürtel, der eben sowohl in seinen reizenden Cantilenen als vielstimmigen Combinationen sich entfaltet, dann weiß er die Melodie des italienisches Styles mit französischer Eleganz und teutscher Kraft zu vereinen; sein Instrumentalspiel endlich ist feurig, brillant, voll Leben und höchst wirksam, ein Resultat erprobter Kenntnisse.“

„Der Taucher“, Ballade (1797) von Friedrich Schiller, Holzschnitt, 1876/Wikipedia

Kreutzer komponierte anfangs im Stil der Wiener Klassiker und Frühromantiker, aber er beschritt alle für ihn gangbaren Wege der Entwicklung einer differenzierten und effektvollen Instrumentation wie auch arios-rezitativischen Deklamation, und setzte sich erfolgreich dafür ein, zu beweisen, dass auch in der deutschen Oper neben dem motivisch-semantisch durchgestalteten Orchestersatz die Gesangsmelodie ihre Berechtigung hat.

Durch das Metier seines Vaters, eines Mühlenpächters, seit frühester Jugend vertraut mit dem Wasser als einem energetischen Element des Lebens an und für sich und dessen wirtschaftlichem Aspekt, hatte Kreutzer zeit seines Lebens eine ganz besondere Affinität zur Donau und dem Rhein, den Strömen seiner Heimatgegend. Dies thematisierte er immer wieder, und auch die großen Flüsse Elbe, Moldau und Düna (bei Riga) hat er kennengelernt. Über eine Wahrnehmung des Meeres oder auch großer Seen scheint er sich nicht näher geäußert zu haben, ob er jemals geschwommen oder gar getaucht ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Friedrich Schillers Ballade Der Taucher schien für ihn und andere Musiker der Zeit jedoch ein sehr reizvolles Objekt zur Vertonung. Aber anders als Schubert ließ er sich weder in durchkomponierter noch melodramatischer Form auf Schillers Originaldichtung ein.

Wie Kreutzer an das Libretto des Breslauer Autors Samuel Gottlieb Bürde (1753–1831) geriet, ist nicht überliefert. Er dürfte es in handschriftlicher Form zur Kenntnis genommen haben, da es vor der Vertonung durch Kreutzer und dem in Berlin wirkenden Johann Friedrich Reichardt nicht im Druck erschienen ist. Bürde entwarf im Grunde eines der zahlreichen Opernbücher, die von Shakespeares letztem Drama Sturm (The Tempest, 1611) inspiriert waren und verknüpfte dieses mit Schillers Ballade, von der er jedoch fast nur ganz am Schluss jenes Moment heranzog, dass die Titelfigur ins Wasser springt. Ansonsten geht es, wie in den meisten Opern dieser Epoche, um Liebesdinge und Heiratssachen sowie um berechtigte und unangemessene Machtansprüche von Herrschern und Usurpatoren.

Conradin Kreutzer: Das Stuttgarter Hoftheater, Ort der Uraufführung seiner Oper „Der Taucher“1813/Wikipedia

Aber zurück zum Titel der Oper: Der Tatsache, dass beim Prozess des Tauchens durch den Sauerstoffmangel Halluzinationen entstehen können, trägt der Aspekt Rechnung, dass das Textbuch eine Fata Morgana und eine Feen-Erscheinung thematisiert. Luftspiegelungen kann es zwar nur beim zerstäubten Wasser – etwa bei dem Kreutzer aus heimatlichen Gefilden vertrauten Rheinfall bei Schaffhausen – geben und nicht in der Meerestiefe selbst, aber es ist ja keineswegs nötig, in romantischen Opernlibretti realistische Szenarien zu thematisieren. Beim ersten Anlauf Kreutzers, das Libretto zu vertonen, war es in seiner Eigenart und der expliziten Bezeichnung „romantisch“ noch vergleichsweise untypisch, während es später in der Zeit des Biedermeier zahllose „romantische“ und „pseudoromantische“ Handlungen auf den Bühnen gab.

Bürdes Libretto entsprechend, gab es in den ersten Versionen noch zwei später völlig ausgeschiedene Hauptrollen, nämlich eine Erzieherin (Alt) der Alphonsine und die explizit komische Rolle für einen Baßbuffo. An Stelle der umfangreichen Episoden und Ensembles mit diesen Charakteren wurde in die späteren Fassungen ein Nebenbuhler des Tauchers im Wettstreit um die Prinzessin eingeführt, der junge Antonio, Herzog von Calabrien, als anspruchsvolle Partie für einen Tenor, weshalb die ursprünglich alternativ vorgesehene Besetzung des hohen Mezzosoprans Ivo (eine sogenannte Hosenrolle) mit einer Tenorstimme verworfen wurde.

Das Wiener Kärntnertortheater, langjährige Wirkungsstätte Kreutzers als Dirigent, mit acht Uraufführungen zwischen 1810 und 1838/Wikipedia

Bei seinem dritten Versuch, das Süjet in Musik zu setzen, hatte Kreutzer an der Wiener Hofoper eine durchaus beachtliche Stellung inne. Die wesentlichen Verantwortlichen dieses Opernhauses waren zu der Zeit jedoch ein italienischer Impresario (Barbaja) bzw. ein französischer Tänzer (Duport). Man wartete von dieser Seite zunächst ab, ob sich deutschsprachige Werke rechnen oder gar etablieren konnten. Kreutzer standen die Sterne des Ensembles zur Verfügung, namentlich die später auch international äußerst erfolgreichen jungen Damen Henriette Sontag und Caroline Unger. Darüber hinaus trat Therese Elßler, Schwester der berühmten Tänzerin Fanny Elßler, in der Rolle der Fee in Erscheinung. Auch die männlichen Protagonisten waren umjubelte Darsteller aller markanten Rollen des Repertoires. Im Bereich der Szene setzte man auf höchsten Aufwand in der Ausstattung, auf optische Effekten, Ballett, Chor und Statisterie: Auf der vergleichsweise kleinen Bühne des Kärntnertortheaters traten ungefähr 60-80 Darsteller|innen in Erscheinung.

Theater in der Josephstadt, hier fanden 1834 –1837 acht Kreutzer-Uraufführungen statt/Wikipedia

1824 an der Hofoper und dann auch wieder 1834 im Theater in der Josefstadt setzten sich zahlreiche Journale mit Kreutzers Werk auseinander, und man verglich es mit anderen Opern seiner Zeit, in erster Linie mit jenen italienischer und französischer Provenienz, aber auch Webers Freischütz und der in Wien jüngst uraufgeführten Euryanthe: „Die ganze Composition zeugt von einem fleißigen, sehr lobenswerthen Studium der neuesten Erscheinungen, welches vielleicht auch durch öfteres Dirigiren dieser Werke veranlaßt wurde. Ein sehr lieblicher Fluß der Melodien bezeichnet die meisten Piecen dieser Oper, eine dankbare Führung der Singstimme, welche besonders die Tonlage der singenden Individuen schön berücksichtigt, ist an ihr sehr lobenswerth, und in dieser Hinsicht verdient sie vor manchem neuesten Werke den Vorzug. […]“

Als Kreutzer den Taucher Ende 1834 noch einmal herausbrachte an jenem damals als Opernhaus sehr erfolgreichen und mit der Hofoper konkurrierenden Vorstadttheater in der Josefstadt, hatte er sich dort bereits als Schöpfer des Nachtlager in Granada (nach einem Sujet des Freischütz-Librettisten Friedrich Kind) und mit der Schauspielmusik zu Ferdinand Raimunds Verschwender etabliert. Man brachte seinen neuen Bühnenwerken inzwischen große Wertschätzung entgegen, und das über viele Jahrzehnte (bis ins 20. Jahrhundert hinein) erfolgreiche Nachtlager begründete – neben seinen Chören und dem Liedschaffen – seine langjährige Beliebtheit. Gerritt Waidelich/Carus

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Noch einmal sehr herzlichen Dank an Gerritt Waidelich, dem renommierten Wiener Musikwissenschaftler und Spezialisten zur Musik des frühen 19. Jahrhunderts, für seinen Artikel und vor allem für die ausgiebige Erschließung der weiteren Quellen und des Bildmaterials! G. H.

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Hier ein paar Kritiken 1823/4: Conradin Kreutzer – Der Taucher/ Theaterzeitung (Wien), 29. Januar 1823, Nr. 13, S. 51ff./ K. Kärnthnerthortheater. Endlich wieder eine neue deutsche Oper, welche allgemein gefiel; dies ist die am 24. Jänner zum ersten Mahl gegebene Composition; sie heißt: »der Taucher,« romantische Oper in zwey Aufzügen, Musik von Hrn. C. Kreutzer, Kapellmeister des k. k. Hoftheaters nächst dem Kärnthnerthor.

„Der Taucher“, Ballade (1797) von Friedrich Schiller, Holzschnitt, 1876 veröffentlicht

Das Buch machte eine vortheilhafte Ausnahme von andern Opernbüchern. Es kommt in selbem ein schwermüthiger Herzog Lorenzo vor, welcher seinen Bruder vertrieb, und nun von Gewissensbissen verfolgt wird. Der vertriebene Bruder erscheint als Pilger, und dessen, vielleicht mitpilgernder Sohn, als Schützling der Fee Morgana. Diese zeigte ihm des Herzogs Lorenzo Tochter im Traume, und als sich diese im Walde auf der Jagd verirret, erkennet der junge Ivo sogleich sein geliebtes Traumbild in ihr. Die Prinzessinn findet an dem Vetter auch mehr Behagen als an dem ihr zugewiesenen Bräutigam, dem Herzoge von Calabrien. Selbst der Herzog Lorenzo findet sich von dem Jünglinge so angezogen, daß er ihn an seinen Hof mitnimmt. Als der Herzog Lorenzo seinen pilgernden Bruder sieht, wird zwar die Erinnerung an sein Benehmen gegen denselben wach, doch ohne daß er ihn eigentlich erkennet. Ein Traum aber bestimmt ihn, seinen goldenen Becher in der Charibde Schlund zu werfen, damit ihm mit demselben auch Gemüthsruhe und Versöhnung mit dem Bruder herauf geholet werde. Auf das Versprechen, die Tochter als Preis dem Kühnen zu geben, stürzt sich Ivo hinab, und bringt den Becher. Die Verbindung der Liebenden und die Versöhnung der Brüder ist der Lohn. Der Bräutigam war schon früher durch das Zureden der Braut aus dem erbitterten Gegner der Freund ihres Liebhabers geworden. Das Ganze endet nach Wunsch.

Die Musik ist angenehm, leicht, verständlich und heiter. Der geachtete Compositeur mahlet alle Situationen aus, ohne den Zuhörer zur besonderen Anstrengung zu nöthigen. Seine Instrumentation ist höchst effektvoll und die Musik erhielt vielen Beyfall. Hr. Kreutzer wurde nach jedem Akte gerufen. Unter den Tonstücken ist keines, welches lange Weile machte, mehrere gefielen besonders, wie ein Chor im ersten Akte, ein Duett, ein Terzett und das Finale desselben, sodann ein Duett und Terzett des zweyten Aktes so wie auch ein Chor desselben.

Bey den folgenden Darstellungen soll noch über mehrere Details dieser Oper gesprochen werden. Jetzt nur noch, daß die Aufführung sehr brav war. []

Die Ausstattung der Oper ist sehr angenehm; schöne Dekorationen, reitzende Tableaux zieren das Ganze. Nur die Charybdis gleichet einem Ringel-Spiel-Mechanism, oder einer horizontalen Windmühle. Solche Phänomene nachzuahmen, kann der Dekorateur nicht wagen, hier thut ein bescheidenes Versteck noch die beste Wirkung. Hoffentlich wird diese Oper viele Wiederholungen erleben.   M–r.

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Gedenktafel für Conradin Kreutzer in der Wiener Dorotheengasse 9/Wikipedia

Wiener Zeitschrift, 3. Februar 1824, Nr. 15, S. 123ff. Oper. [] Der Stoff, so wie er hier dramatisch behandelt, man darf wohl auch sagen, größten Theils erfunden worden, scheint die Einbildungskraft des Tonsetzers wenig angeregt, und noch weniger begeistert zu haben. [] Das Recitativ – denn die Handlung ist nur an einigen Stellen in Prosa dialogirt – hat den Vortheil einer verständigen, und den Vortrag oft sehr begünstigenden Declamation.

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Theaterzeitung (Wien), 10. Februar 1824, Nr. 18, S. 70f. Noch etwas über die Oper, »der Taucher.« Von einem geschätzten Kunstfreund eingesendet. Wir haben uns mit Beurtheilung der Musik des Herrn Conradin Kreuzer deshalb nicht übereilen wollen, weil bey den neuesten Erscheinungen im Gebiethe der deutschen Oper beynahe gewöhnlich der Fall eintritt, daß ohnerachtet des manchen Musikstücken gezollten Beyfalls, doch immer noch ein großer Theil des gebildeten Publikums eines andern Sinnes ist, und so manche Forderung, welche an ein neues Tonwerk gemacht werden könne, nicht darin erfüllt findet.

Wenn bey Weber’s »Euryanthe« der außerordentliche Kunstaufwand, der in mehreren Scenen bis zur Verschwendung getrieben und nicht selten dem genialen Fluße der Musik höchst nachtheilig ist, als ein Mangel der neuen Schöpfung erkannt, und dieselbe von vielen wahren Kennern dem »Freyschützen« deshalb nachgesetzt wurde, so tritt hier ein ganz anderer Fall ein. Weber zeigte in seiner Musik ein all zu sichtbares Streben nach Originalität, und daraus entstand wirklich eine gewisse düstre Farbe seiner Composition, eine gewisse Steifheit vieler Tonstücke, welche sich in seinem »Freyschützen« nicht vorfindet. Kreuzer hat überall eine liebliche Melodie anzubringen, und dieselbe noch obendrein stets mit einer recht blumigen Instrumentirung zu schmücken gesucht. Hierbey ist er aber oft in den Fehler gefallen, daß er nach einem fremden Muster gearbeitet und sich öfters selbst copirt hat.

Conradin Kreutzers Ruhestätte auf dem Friedhof in Riga (Die Gartenlaube, 1868)/Wikipedia

Ja wenn diese Oper ganz so in die Scene gegangen, und in den vielen Proben von der Hand eines geschickten Kenners nicht in vielen Theilen beschnitten worden wäre, so würden besonders mehrere Reminiscenzen aus der »Libussa« der Aufnahme geschadet, und vielleicht gar den ersten günstigen Eindruck vernichtet haben. Der Mangel an Originalität zeigt sich unverkennbar, und wird nur auf den ersten Moment durch die fleißige Arbeit des geschickten Compositeurs überdeckt. Sehr lieblich sind viele Melodien, sehr lebendig die Bewegungen, welche den Gesang im Orchester begleiten, aber die Töne, welche aus der Tiefe der Seele hervorklingen, sind darin nicht aufzufinden.

Weber’s »Euryanthe« ist in manchen Scenen allzudeutlich zum Grunde gelegt. In den instrumentirten Rezitationen aber ist Weber’s Manier besonders sichtbar. Wir glauben sogar, daß manche Musikstücke besser imponiren und aus der Masse hervortreten würden, wenn nicht das ganze Orchester in immerwährenden Figuren bewegt, in beständiger Anstrengung gehalten wäre. Das Thema eines Duetts, einer Arie würde weit besser hervortreten, wenn diese ewige Bewegung unterbrochen, und durch gehörige Ruhepunkte getrennt wäre. Ein immerwährendes Streben verbannt die Ruhe, welche doch bey jeder Bewegung erst die nöthige Steigerung möglich macht, ganz aus dem Werke.

Die Leistungen der Sänger sind vom Tonsetzer mit so viel Umsicht und Geschick behandelt, und der Gesang gewöhnlich sehr dankbar geführt. Als ein Vorzug muß ebenfalls angeführt werden, daß der Gesang gewöhnlich nicht so sehr in der Tiefe sich verliert als dieß oft bey Weber der Fall ist. Hr. Kreuzer hat die Individualität seiner Sänger sehr genau beachtet und dadurch die freundliche Mitwirkung derselben erzielt, ein Umstand, der seiner Musik viel genutzt hat.

Dem. Sonntag, welche darin sehr glänzend aufgeführt ist (sie gab die Alphonsine) trägt auch in der That sehr viel zum Gelingen dieses Werks bey, und man darf annehmen, daß es ohne ihre liebenswürdige Persönlichkeit seines größten Reitzes ermangelt hätte. Gleich ihr erster Auftritt in der Introduktion sichert ihr den Beyfall für den Abend. Sie singt so gefühlvoll, und zeigt in jeder Bewegung ihrer Stimme die gebildete treffliche Sängerinn. Im Duett mit Ivo (welcher von Dem. Unger gegeben wurde) herrscht eine anmuthige Frische der Melodie, und beyde Sängerinnen rivalisirten mit Glück im Vortrage dieses Tonstücks.

Gerade in diesem Musikstücke, wo Ivo Alphonsinen seinen Arm zum Schutze anträgt, ist auch Dem. Unger sehr glücklich in ihrer Leistung. Hr. Forti, der den König gibt, zeigte sich im ganzen Stücke äußerst brav, aber als ein höchst ausgezeichneter Sänger erschien er im Duett mit Lorenzo (Hr. Preisinger). Diese Scene besonders erinnert sehr an die »Euryanthe.« Hr. Preisinger stand sehr brav an der Seite des genannten Sängers. Er befriedigte ganz im Gesange und wenn auch sein Spiel weit hinter dem eines Vogel zurück blieb, so kann man doch ohne Unbilligkeit von einem so jungen Operisten nicht mehr Routine verlangen. Im Komischen übertrifft er unsre Erwartungen gewöhnlich. Seine Arie im ersten Akt hat einen recht natürlichen Melodienfluß und liegt gut für die Stimme. Er trug sie brav vor.

Hr. Haitzinger zeigte sich sehr vortheilhaft. Gleich seine erste Scene im ersten Akte gab seiner hellen, hohen Tenorstimme treffliche Gelegenheit hervorzutreten. Die Scene mit Chor im Anfang des zweyten Akts entwickelt noch mehr Kraft und wird von ihm brav executirt. Hr. Kreuzer hat mit kluger Vorsicht die tieferen Lagen ganz vermieden. In den Ensemblestücken trat der sonore Tenor dieses Sängers gut hervor. Doch gestehen wir, daß das Gefühl seinem Vortrage in solchem Grade mangelt, als es Hr. Jäger besitzt. Der Chor zeichnet sich im Vortrage des Fischerliedes aus durch Präcision und ein gutes Verhältniß im Forte und Piano. Der Jagdchor wollte nicht so recht ansprechen. Es fehlt ihm an Einfachheit und Originalität, das erste Finale hat einige kräftige Momente gegen das Ende, doch imponirt es zu wenig durch Größe des Styls.

Die Ouverture hat zu wenig entschiedenen Charakter. Als die Oper das vierte Mahl zu Hrn. Kreuzers Einnahme gegeben wurde, war das Haus wenig besucht. Parterre und Logen waren nur zur Hälfte besetzt.

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Gedenkmarke für Conradin Kreutzer für die Französische Zone Baden 1949/Wikipedia

Der Sammler (Wien), 12. Februar 1824, Nr. 19, S. 75f./ Notitzen. Schauspiele. (Hoftheater nächst dem Kärnthnerthor.)/ [] Um von der Musik eine vorläufige Übersicht zu geben, müssen wir sagen, daß Hr. Conradin Kreutzer durch dieselbe bewiesen hat, wie er die Fortschritte der neuesten Zeit geschickt zu benutzen, und zu verfolgen versteht. Weber und Rossini haben bedeutenden Einfluß auf seine Manier gehabt. Das eigentliche Recitativ, welches hauptsächlich in Webers »Euryanthe« in einen fortgesetzten, melodischen Fluß verwandelt, und beständig mit der ganzen Maße der Instrumentirung in Verbindung gesetzt ist, erscheint auch hier ganz in derselben Gestalt. Manches wird bey dieser Manier gewonnen, manches verloren. Verloren wurde die Deutlichkeit, Charakteristik und oft auch die Wahrheit. Gewonnen wird die Aufmerksamkeit des Publicums auf jeden einzelnen Moment, in welchem bald dieser, bald jener individuelle Reitz der Instrumentirung das Interesse fesselt. Die vier Waldhörner geben durch ihre gestopften Töne so manchen effectvollen Moment, und die neue Methode, welche ein immerwährendes Umstecken der Bogen für gar keinen Mißbrauch mehr hält, erhöht diese frappanten Momente bey unerwarteten Transitionen.

Die Clarinetten, Oboen, Fagots ec. nahmen auch ihren Antheil bey der fortgesetzten, nie unterbrochenen Mitwirkung des Orchesters. Die Sänger sind genöthigt, einer ununterbrochenen Cantilena ihre physische Kraft zu widmen, aber eben deßhalb treten die lyrischen oder dramatischen Momente der Oper, in denen die Musik in ihrer ganzen melodischen Kraft und Gewalt erscheinen, in denen also eine Arie, Duett oder Ensemblestück beginnen soll, etwas mehr in den Hintergrund, als bey der Oper, wie sie sonst war.

Wir haben es schon öfter erfahren, daß ohne Textbuch deßhalb der Inhalt der Opern etwas unverständlich wird. Daß bey manchen Textbüchern eine Oper dadurch gerade gewinnen kann, weil der Zuhörer gar nicht in den Stand kommt, das Ganze zu verstehen – dieß gehört auf eine andere Rechnung.

Was den Charakter der Kreutzer’schen Recitative sowohl, als der ausgeführten melodischen Tonstücke betrifft, so wird Niemand läugnen, daß er auf der von Rossini und Weber vorgezeichneten Bahn mit Vorliebe fortgegangen, nicht selten aber so fest in ihre Fußstapfen getreten ist, daß man seinen Gang für einen und denselben Schritt halten sollte. Nahmentlich die Euryanthe wäre bey mehreren Stellen zu citiren, ganz augenscheinlich aber in der Scene zwischen Alphonso und Lorenzo, vor dem zweyten Finale.

Sehr klug verfuhr der Tonsetzer, daß er seinen Tonstücken so viel melodischen Reitz als möglich zu geben bemüht war, und dieses Verdienst wird ihm jeder unpartheyische Kenner und Freund der Kunst zugestehen; doch wird auch Niemand läugnen, daß der schöpferische Genius, die originelle, hohe Kraft, vor welcher die Mit- und Nachwelt freudig staunt, daraus gar nicht hervor leuchtet.

Die ganze Composition zeugt von einem fleißigen, sehr lobenswerthen Studium der neuesten Erscheinungen, welches vielleicht auch durch öfteres Dirigiren dieser Werke veranlaßt wurde. Ein sehr lieblicher Fluß der Melodien bezeichnet die meisten Piecen dieser Oper, eine dankbare Führung der Singstimme, welche besonders die Tonlage der singenden Individuen schön berücksichtigt, ist an ihr sehr lobenswerth, und in dieser Hinsicht verdient sie vor manchem neuesten Werke den Vorzug.

In Betreff der Instrumentirung, wie wir sie jetzt am ganzen Werke betrachten, ist das Verfahren des Hrn. Kreutzer eben so lobenswerth, denn er hat die Virtuosität der meisten Mitglieder, nicht selten in Anspruch genommen.

Sein Violinen-Orchester steht beynahe stets in dem Verhältnisse eines verzierten Contrapuncts gegen die Singstimmen, ja man kann dreist sagen, daß es beynahe zu oft in einer laufenden oder trippelnden Bewegung erscheint.

Hieraus wird einiger Maßen der Mangel erklärbar, den ein großer Theil des Publicums aufrichtig empfand, wenn er hohe Einfachheit, Würde und originelle Kraft vermißte.

Was die Charakteristik der einzelnen Rollen betrifft, so läßt sich nach dem Gesagten eigentlich der Schluß schon von selbst machen. Der individuelle Reitz hebt die ideale Schönheit schon von selbst auf. []

Conradin Kreutzers Ruhestätte auf dem Friedhof in Riga zum 175. Geburtstag/Wikipedia

Der Jägerchor ist wohl unter den Chören einer der schwächsten. Die Solostimmen arbeiten viel hinein, dann sind die Modulationen auch etwas zu gesucht für eine Musik, welche durch Klarheit und Charakteristik imponiren, nicht aber durch Virtuosität der Solosänger reitzen soll.

Im Allgemeinen ist der zweyte Act besser gehalten und reicher an musikalischer Kraft. Hierunter sind aber auch die Scenen verstanden, welche wir schon als der Euryanthe Webers entlehnt, bezeichnet haben.

Die Vorzüge, die wir an diesem Werke gerühmt, und worunter wir besonders die Lieblichkeit der Melodie bezeichnet haben, errangen ihm vorzüglich dadurch das Glück des Beyfalls. Hr. Kreutzer wurde zweymahl hervorgerufen, und der Beyfall erhielt sich auch in den nächsten Vorstellungen. (Gerritt Waidelich)

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Abbildung oben: Ausschnitt/“Der Taucher“/Illustration zu Schillers Ballade von Ary Schaeffer (1795 – 1858)/Aquarell/Artnet/ Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper finden Sie  hier

Rossini in Wien

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Viel zu verdanken hat der italienische Opernkomponist Gioacchino Rossini dem unermüdlichen Schweizer Opernforscher Reto Müller, (operalounge-Lesern wegen seiner Veröffentlichungen im Umfeld eben dieses Komponisten kein Unbekannter), der nun auch für die Herausgabe des zwölften Bandes der Schriftenreihe der Deutschen Rossini Gesellschaft und zwar des Tagungsbands mit dem Titel Rossini in Wien verantwortlich zeichnet. Die Tagung fand 2022, genau zweihundert Jahre nach dem Gastspiel Rossinis und seiner aus Neapel stammenden Operntruppe, die auch die ihm frisch angetraute Sängerin Isabella Colbran umfasste, in Wien statt, und das Buch beleuchtet das Ereignis in überaus vielseitiger, mehr oder weniger erhellender Art.

Abgedruckt sind das Programm der Tagung und das eines im Zusammenhang mit derselben stattgefunden habenden Konzerts mit Mitgliedern der Opernklasse  des mdw. Es schließt sich ein Vorwort des Vorsitzenden der Rossini Gesellschaft, Jakob Lehmann, an, das dem Leser wohl das erste zustimmende Nicken abnötigt, denn auch er wird sich wie der Verfasser fragen, warum Wien, nicht aber Bologna, Pesaro, Neapel oder Paris zum Gegenstand der Tagung wurde. Immerhin gibt es gewichtige Gründe für die Wahl Wiens, das als Ort der Vermittlung zwischen Nord und Süd gelten kann und wo Rossini während des monatelangen Aufenthalts bedeutende Erfolge erzielte. Es folgt unter dem Titel Vorbemerkungen ein Bericht Reto Müllers über die durch Corona erschwerten Vorbereitungen der Tagung, die Gewinnung von 24 Referenten und die die Lektüre erleichternde Übersetzung der fremdsprachlichen Beiträge ins Deutsche.

Jeder Leser des umfangreichen, immerhin fünfhundert Seiten umfassenden Bandes wird den Schwerpunkt seines Interesses bei unterschiedlichen Artikeln finden, die eng am Thema Rossini und Wien verharrenden bevorzugen oder ihen ausweichen, dem weit ausschweifenden, das Thema verlassenden etwas abgewinnen oder ihn als unpassend empfinden, so dass auch eine Beurteilung des Gesamtbandes schwer und nicht einheitlich ausfallen kann.

Viel Gewinn und neue Erkenntnisse ziehen kann der Leser sicherlich aus dem Beitrag Reto Müllers, der sich mit der eng begrenzenden Frage befasst, ob es eine Begegnung zwischen Rossini und Beethoven im Jahre 1822 gegeben hat. Der Beitrag ist spannend wie ein Krimi und gewissenhaft abwägend wie eine wissenschaftliche Abhandlung, konfrontiert den Leser mit einer Fülle von Quellen, die kritisch beäugt  und nicht ohne Humor dargestellt werden, so die Aussagen des wortreichen Edmond Michotte, der Rossini Jahrzehnte mach dessen Wienaufenthalt befragte.

Eine Art Gegenpol zu diesem so sachlichen wie unterhaltsamen und humorvollen Beitrag bietet Anke Chartons Die Italienerin in Wien: Performativität und verkörperte Vokalität im Rossini-Gesang, in dem gendernd über „gegenderte Darstellung“ geschrieben, über „Gruppenhierarchie nach Fachprinzip“ referiert  und zur Schlussfolgerung gekommen wird, dass Rossinigesang lesbar sei als „gegenderte, verkörperte Vokalität“.  Da kehrt man gern zurück zu sich tatsächlich an Wien und 1822 haltende Beiträge wie Melanie UnseldsSuper Coupleoder „Compositeur, sammt Gattin“, wo sich an Quellen gehalten wird, wie in Martina Gremplers Beitrag über den Übersetzer Grünbaum, wagt gern auch einen Blick ins von Rossini verlassene Neapel in Paolo Fabbris und Maria Chiara Bertiers Aufsatz.

Beachtenswert ist auch Ilaria Naricis Einsicht, dass Rossini durch seinen Erfolg in Wien den endgültigen Durchbruch als europäischer Komponist vollzog, sind die Erkenntnisse über das Wirken von Impresarii wie Domenico Barbaja, das Auf und Ab, was die Aufführungszahlen von Rossiniopern in Wien betrifft, denn nach dem Rossini-Fieber setzte eine schlimme Vernachlässigung ein, ehe durch Pesaro und Alberto Zedda eine Wiederentdeckung stattfand.

Marco Beghellis Beitrag über den Tenor Giovani David kann man entnehmen, welche Anforderungen die Musik Rossinis an die menschliche Stimme stellte und wie der gefeierte Sänger diese erfüllte, ob Falsett oder nicht zum Rossinigesang gehört, wer nun eigentlich als Erster von ihm Abschied nahm. Das geht zwar über das Tagungsthema hinaus, erfreut aber durch die „Praxisnähe“ zum Singen.

Gewinn ziehen kann der Leser auch aus dem Vergleich der beiden Fassungen von Elisabetta, regina di Inghilterra, die eine für Neapel, die andere für Wien bestimmt. Vincenzo Borghetti ist der Autor. Verzichtbar, wenn auch amüsant ist Guido Johannes Joergs Beitrag über Kanone und Kanon trotz der niedlichen Kanönchen im Text, müßig ist es, sich zu fragen, warum Rossini als Opernkomponist erfolgreicher war als Schubert. Auch das Verlagswesen wird kontaktiert von Fabian Kolb, wenig Berührungspunkte gibt es zwischen Raimund und Rossini (Bernd-Rüdiger Kern), und dem Vermarkten auch von Rossini-Ouvertüren für den Gebrauch beim Musizieren zu Hause wird Rechnung getragen (Simone Di Crescenzo).  Joachim Veit hingegen widmet sich dem Vergleich mit Weber in Wien 1822/23 und das Verhältnis von deutschem und italienischem Ensemble der Hofoper.

Der Band bietet ein überaus breites Spektrum von vielen mehr oder einigen weninger das Thema berücksichtigenden Beiträgen, die stilistisch ebenso breit gefächert erscheinen und ein vielfarbiges Bild des Schwans von Pesaro und des Wiener Opernlebens malen.

Ein umfangreicher kritischer Apparat  und ein Anhang, bestehend aus Personenregister, Werkregister und Sachregister vervollständigen das Buch (Rossini in Wien/ Tagungsband/ Herausgegeben von Reto Müller/ Leipziger Universitätsverlag 2024/ 500 Seiten / ISBN 978 3 96023 576 7/ 10. Juni 2024 ). Ingrid Wanja 

Noch eine „Romantische“

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Bruckner-Zyklen gibt es viele, darunter nicht wenige gute, und ihre Zahl hat sich zumal in letzter Zeit noch einmal gesteigert (Jubiläumsjahr). Und doch stechen einige besonders heraus. Die Akribie, mit der sich Gerd Schaller und „sein“ Label Profil/Hänssler der diskographischen Erschließung des sinfonischen Schaffens Anton Bruckners widmen, ist in seiner Breite ohne Frage bewundernswert. Oberflächlich mag man sich bei der jetzigen Neuerscheinung (PH23086) fragen: Schon wieder die Vierte? Gab es die nicht bereits? Und die Antwort lautet sowohl ja als auch nein. Zum einen ja, denn tatsächlich spielte Schaller mit der Philharmonie Festiva besagte Sinfonie Nr. 4 alias die Romantische, bis heute eine der beliebtesten und vermutlich auch die am häufigsten aufgeführte, schon mehrfach ein: Bereits 2007 in der gängigen Fassung von 1878/80/Edition Nowak (PH11028), sodann 2013 wiederum in dieser Fassung, allerdings mit dem sogenannten „Volksfest-Finale“ (PH13049), und zuletzt 2021 in der Erstfassung von 1874/Edition Nowak (PH22010). Allerdings auch nein, weil die jetzige Neuaufnahme die Letztfassung von 1888 enthält, editiert von Benjamin Korstvedt. Nichtbrucknerianer werden sich nun vielleicht denken: Braucht’s das? Und sogar manch ein Bruckner-Enthusiast mag darob insgeheim schmunzeln. Fakt ist allerdings schon, dass diese Korstvedt-Edition, die vor 20 Jahren entstand, bis heute relativ selten eingespielt wurde. Den Anfang machte 2005 der Japaner Akira Naito (Delta Classics), gefolgt von Osmo Vänskä (BIS, 2009), Franz Welser-Möst (Arthaus, 2012), Jakub Hrusa (Accentus, 2020), Remy Ballot (Gramola, 2021) und Markus Poschner (Capriccio, 2021). Wie man sieht, erst in jüngster Zeit eine gewisse Häufung. Und in der Tat, Gerd Schallers Lesart liefert neue Aspekte. Das liegt schon einmal an den vergleichsweise flotten Tempi. Mit 59 Minuten Gesamtspielzeit unterbietet er den bisherigen Rekordhalter Poschner noch einmal um zwei Minuten. Ballot benötigt, gleichsam „celibidachesk“, sage und schreibe über 19 Minuten mehr als Schaller. Gerade im langsamen Satz nimmt Schaller die Tempobezeichnung Andante genauer als alle anderen, denn es ist eben kein Bruckner-typisches Adagio. Ein frischer Zugang, der sich in den übrigen Sätzen nicht weniger widerspiegelt. Naturgemäß fällt der Tempounterschied im Scherzo zwischen den verschiedenen Interpretationen am geringsten aus, stets zwischen neun- und knapp zehnminütig; einzig Ballot kommt auch hier auf elf. Im Booklet (auf Deutsch und Englisch) einmal mehr ein informatives Interview mit dem Dirigenten. Keiner der vielen Fassungen will Schaller einen eindeutigen Vorzug geben. Da spricht der profunde Kenner. Die schon traditionell sehr gut eingefangenen Produktionen des Bayerischen Rundfunks – Studio Franken lassen klanglich kaum zu wünschen übrig, was auch am erwiesenermaßen adäquaten Aufnahmeort, der Klosterkirche Ebrach, liegt (Aufnahme: 20. August 2023). Die Philharmonie Festiva kann es in Sachen Bruckner-Exegese problemlos mit berühmteren Klangkörpern aufnehmen und brilliert in allen Gruppen. Kurzum: Empfehlung obligatorisch. Daniel Hauser

Lando Bartolini

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Am 11. April 1937 in Prato in der Toskana in eine Familie mit fünf Geschwistern geboren, lernte der spätere Tenor Lando Bartolini Akkordeon und arbeitete zunächst im elterlichen Textilbetrieb. Nach seiner Heirat 1966 und seinen Umzug in die Vereinigten Staaten verdingte er sich als Mechaniker, bevor er, relativ spät berufen, 1967 an die Music School of Philadelphia ging. Nach bereits einem Jahr gewann Bartolini den Mario-Lanza-Wettbewerb und bewies trotz kurzer Studienzeit seine angeborene Gesangstechnik. Eine Aufnahme in die Academy of Vocal Arts unterstrich dies. Sein Operndebüt erfolte sodann am 17. Oktober 1968 am St. Joseph Theatre in Philadelphia in Il tabarro. Binnen weniger Jahre war er an vielen prestigeträchtigen Bühnen gefragt. Den Beginn machte ein Auftritt am Gran Teatre del Liceu in Barcelona (1973). Sein erster fester Vertrag führte ihn nach St. Gallen in die Schweiz, bevor er an die New York City Opera wechselte. 1982 schließlich debütierte er in seinem Heimatland Italien und zwar gleich an der Mailänder Scala in Ernani. Nun ging es Schlag auf Schlag. Weitere Debüts folgten: Teatro Colón in Buenos Aires (1983), Arena di Verona (1983), Teatro di San Carlo in Neapel (1986), Lyric Opera of Chicago – als Einspringer für Pavarotti – (1986), Teatro Nacional de São Carlos in Lissabon (1987), Opéra National in Paris (1987) und Metropolitan Opera in New York (1988). In den frühen 1990er Jahren konzentrierte sich Bartolini auf Italien (Parma, Turin, Florenz, Rom), sang aber auch in San Francisco (1992), Washington (1993), Sydney (1994) und abermals in New York (1995). Weitere Gastspiele führten ihn u. a. nach London, Wien, München, Hamburg, Berlin, Tokio, Warschau und Athen. Zu seinen Paraderollen zählten der Radames (240 Vorstellungen), der Calaf (179 Vorstellungen) und der Manrico (160 Vorstellungen). Insgesamt hatte er nicht weniger als 49 Rollen im Repertoire, besonders von Puccini und Verdi. Am 28. Juni 2024 ist Lando Bartolini im Alter von 87 Jahren in Pistoia, Toskana, verstorben. Daniel Hauser