Archiv für den Monat: November 2019

Les beaux moments

 

Im September 2018 hatte Glucks Orphée et Eurydice in der von Hector Berlioz bearbeiteten Fassung an der Pariser Opéra Comique begeistert gefeierte Premiere (an der man auf Arte teilhaben konnte). Ein Mitschnitte von zwei Vorstellungen ist jetzt bei Naxos als DVD erschienen, ein wahrer Glücksgriff! Bei dieser Aufnahme stimmt einfach alles, die Gestaltung auf der Bühne, Chor und Orchester des fabelhaften Ensembles Pygmalion sowie drei glänzende Gesangssolisten. Aber schön der Reihe nach: Als erstes möchte ich die Darstellerin des Orphée nennen, die junge, auf dem Weg zur Weltkarriere befindliche Marianne Crebassa. Ihre durch alle Lagen wunderbar ausgeglichene Stimme verfügt über eine faszinierende Vielfalt von Farben, die die französische Mezzosopranistin in allen Passagen gekonnt zur Entfaltung bringt, ob in den lyrisch verhaltenen Trauerphasen, bei den sehnsüchtigen Rufen nach der Geliebten oder in den dramatischen Ausbrüchen. Dazu kommt eine Gestaltung des verzweifelten Orphée, die von Beginn an anrührt. Mit kultiviert geführtem, charaktervollem Sopran gefällt Hélène Guilmette als Eurydice ebenso wie der flexible Mezzo von Lea Desandre in der kleinen Partie des Amour, hier als Frau dargestellt. Auch die szenische Verwirklichung überzeugt rundum; der Regisseur Aurélien Bory lässt auf der von ihm gemeinsam mit Pierre Dequivre gestalteten Bühne das mythologische Geschehen ohne jedes Mobiliar und ohne konkrete Ortsbestimmung ablaufen. Durch raffinierte Spiegelungen und immer wieder überraschende Lichteffekte (Arno Veyrat) entsteht eine diffuse Atmosphäre, die die Welt zwischen Diesseits und Totenreich charakterisiert. Eine wichtige Rolle spielen die Choristen sowie sechs Tänzerinnen und Tänzer, die die Gefühle der Protagonisten mitempfinden oder ihnen beim Eintritt in die Unterwelt entgegenstehen. Dabei ist der sehr homogene, exzellent ausgewogene Klang des Chores des Lausanner Ensembles Pygmalion auffällig, ganz gleich, ob die Choristen im Liegen oder sich teilweise sehr lebendig bewegend singen müssen. Dies ist auch dem Gründer des Ensembles Raphael Pichon zu verdanken, der souverän mit durchweg angemessenen Tempi für ein stets ansprechendes Musizieren des wie aus einem Guss spielenden Orchesters sorgt. Diese DVD kann man sich gut mehrmals ansehen (NAXOS 2.1106.38). Gerhard Eckels

Leidenschaft und lange Beine

 

Eines Tages rief mich eine Freundin an, mit der ich unzählige Stunden bei Musik verbracht hatte: „Schalt‘ das Fernsehen ein. Diesen Sänger musst du hören und sehen!“ Ich schaltete – hörte und sah Philippe Jaroussky. Zum ersten mal. Das ist ewig her, und ich weiß auch nicht mehr, was er sang. Das alles klingt jetzt nach Jugenderinnerung. Doch ganz so schlimm ist es nicht. Wenngleich, ein bisschen schon. Jaroussky hat seine Karriere von zwanzig Jahren begonnen. Im Leben eines Sängers ist das eine lange Zeit, zumal er nicht als Chorknabe in Erscheinung trat. Dem Anlass hat Erato gemeinsam mit Warner ein Album mit drei CDs gewidmet (0190295375553). Unter dem Titel Passion sind im wesentlichen Ausschnitte aus seinen bisher erschienen Einspielungen zusammengefasst. Wenn man so will, haben wir es mit einer schmalen Ausgabe gesammelter Werke dieses Sängers zu tun.

Wer dessen nähere Bekanntschaft bisher nicht gemacht haben sollte, ist mit dieser Auswahl sehr gut bedient. Im Idealfall folgt daraus eine intensive Beschäftigung. Die originalen Recitals sind greifbar und werden auch im Booklet vorgestellt. Jaroussky hat ein einnehmendes Wesen. Vornehmlich auf dem Konzertpodium verbreitet er Demut vor der Musik, die er gerade vorträgt. Ist er mit einem Ensemble unterwegs, versteht er sich als dessen Teil. Eher tritt er hinter die Kolleginnen und Kollegen zurück, als dass er sich in den Vordergrund schiebt. Nach Vorstellungen mit kräftezehrenden Zugaben, die sich der aufgeputschte Saal erzwang, habe ich ihn oft am Autogrammtisch im Gespräch mit seinem Publikum gesehen. Immer freundlich, stets nach den Namen fragend, um sie mit der eigenen Unterschrift in eine wenn auch flüchtige Beziehung zu setzen, als sei man befreundet. Das kommt an. Philipp Jaroussky ist immer auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern. Dabei betätigt er sich auch musikwissenschaftlich. In unserem Onlinemagazin Operalounge sind Konzerte und zahlreiche CDs, die in dem neuen Album zumindest gestreift werden, besprochen worden. Drei Beispiele dokumentieren die Vielseitigkeit des französischen Countertenors:

 

La storia di Orfeo (Erato 0190295851903). Diese CD enthält Szenen aus drei der bedeutendsten Opern, die sich der Geschichte des Sängers aus der griechischen Mythologie angenommen haben: L’Orfeo von Claudio Monteverdi und Antonio Sartorio sowie Orfeo von Luigi Rossi. Gemeinsam ist ihnen auch die Entstehungszeit im siebzehnten Jahrhundert. Jaroussky hätte zig CDs mit Ausschnitten aus thematisch einschlägigen Werken produzieren können. Allein bis 1798 sind mindesten fünfzig Opern nachweisbar. Der Stoff hat auch in den folgenden Jahrhundert Komponisten nicht losgelassen bis hin zu Ernst Krenek (1926), Philip Glass (1993) und Ricky Ian Gordon (2005). Ende offen. Auf der Basis der drei Werke hat Jaroussky „eine Art Mini-Oper zusammengestellt“, wie er im Booklet schreibt. Es handele sich um „eine Kantate für zwei Stimmen und Chor, in deren Zentrum sich wieder nur die beiden Protagonisten, Orpheus und Eurydike befinden“. Jede Oper vertiefe mehr oder weniger einen Aspekt der Geschichte. Sartorio und Rossi würden dem Glück des verliebten jungen Paares Raum geben, ebenso der Szene mit dem Schlangenbiss, der Eurydike den Tod bringt. Monteverdi konzentriere sich auf die Suche nach Eurydike in der Unterwelt, die in einer Arie gipfele, dem zauberhaften „Possente spirito“. Der Sänger nennt diese Arie einzigartig in der Geschichte der Oper und greift damit die gängige Expertenmeinung auf. Orfeo beschwört darin den sagenhaften Fährmann Charon, ihn, den Toten gleich, in die Unterwelt zu geleiteten, wo er die Gattin wiederfinden will. Denn er sei ja selbst tot, habe kein Herz mehr, nachdem ihm die geliebte Gattin gestorben sei. Jaroussky gibt sich demütig mit der Feststellung, dass er die Arie „hier mit Countertenor-Stimme zum ersten Mal auf CD zu singen wage“. Ist es geglückt? Ja. In Anbetracht die vielen Aufnahmen, die Jaroussky im Laufe seiner Karriere vorgelegt hat, fällt eine Bewertung zwar nicht leicht. Ich scheue mich aber nicht, von einer seiner besten Leistungen zu sprechen. Gesanglich und interpretatorisch. Viel mehr geht nicht. Orfeo scheint wirklich nicht mehr von dieser Welt. Daran hat das begleitende Schweizer Kammerorchester, die Barocchisti, mit seinem dunklen Klängen erheblichen Anteil. Es ist auf Barockmusik und historische Aufführungspraxis spezialisiert und wird von Diego Fasolis geleitet. Große Aufgaben sind dem Chor übertragen worden. Sie werden vom Coro della Radiotelevisione aus der italienischen Schweiz mit Delikatesse erfüllt. Partnerin von Jaroussky ist die ungarische Sopranistin Emöke Baráth. 1985 geboren, begann sie ihre Ausbildung an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest, die sie später am Luigi-Cherubini-Konservatorium in Florenz fortsetzte. Mehrfach preisgekrönt, widmet sie sich vornehmlich Barockopern und Oratorien dieser Zeit. Auch mit Liederabenden tritt sie hervor und legte bereits etliche Einspielungen vor. Beide singen Duette, die Sopranistin ist aber auch einzeln zu hören, so mit der berührenden zweigeteilten Szene „Orfeo tu dormi / Se desti pieta“ aus der Sartorio-Oper. Es hätte auch mehr sein dürfen von ihr. Platz dafür wäre auf der mit nur vierundsechzig Minuten gefüllte CD gewesen.

 

Green – Mélodies françaises: Philippe Jaroussky ist im Café Procope eingekehrt. In dieser CD spielt dieses berühmte Pariser Etablissement im Quartier Latin eine wichtige Rolle: Green – Mélodies françaises sur poèmes de Verlaine. Es gibt ein Foto, das den Lyriker Paul Verlaine, der von 1844 bis 1896 lebte, im Café zeigt. Es stammt aus seinem Todesjahr. Der Dichter allein auf einem Sofa sitzend, vor ihm der Tisch mit der weißen Marmorplatte. Darauf Schreibzeug, ein nicht näher bezeichnetes Getränk, reichlich bemessen in Glas und Karaffe, der Stock und der Hut. Hüte auf Tischen bringen Unglück, heißt es. Für Verlaine war Unglück keine Bedrohung mehr. Seine zermürbende Liebe zu dem zehn Jahre jüngeren Arthur Rimbaud endete tragisch. Verlaine schoss auf Rimbaud und musste dafür ins Gefängnis. In dieser Zeit entstanden die „Romances sans paroles“, die Lieder ohne Worte. Den Titel der Sammlung soll Verlaine bei Mendelssohn entliehen haben. Green ist ein Gedicht draus. „Hier siehst du Blätter, Früchte, Blumenspenden / und hier mein Herz, es schlägt für dich allein. / Zerreiß es nicht mit deinen weißen Händen / lass dir die kleine Gabe teuer sein.“ Verlaine gilt als typischer Vertreter des Symbolismus. Jaroussky hat die Wahl, kann sich an dem reichen Werk bedienen – und ist fündig geworden für sein Album, das aus zwei CDs besteht (Erato 0825646166954). Green ist gleich in drei verschiedenen Varianten vertreten – von Gabriel Fauré, André Caplet und Claude Debussy, der dem Dichter übrigens als Kind zufällig begegnet war. Caplet nimmt sich mit mehr als drei Minuten doppelt so viel Zeit wie Fauré, der eine Minute einundvierzig braucht. Debussy liegt mit zwei Minuten sechzehn dazwischen. Caplet (1878-1925) wiederholt die letzte Zeile „… und lass mich, da du schläfst ein wenig ruhn“. Bei ihm klingt das Lied zudem mit einem Nachspiel aus. Allein deshalb hinterlässt es die größere Wirkung.

Der Dichter Paul Verlaine 1896 im Café Procope im Pariser Quartier Latin/ Wki.

Wie Green werden viele der insgesamt zwanzig ausgewählten Gedichte Verlaines in bis zu drei unterschiedlichen Vertonungen dargeboten. Darin besteht ein großer Reiz. Der Dichter hat auf Komponisten eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Kaum ein anderer ist in Frankreich ist so oft vertont worden wie er. Jules Massent fühlte sich genauso inspiriert wie Camille Saint-Sains, Arthur Honegger, Ernest Chausson oder Reynaldo Hahn. Die Stile wechseln wie die Komponisten jünger werden. Das Verbindende ist die Sprache, die für sich genommen ein unverwechselbares Flair entfaltet. Benoit Duteurtre zitiert in seinem lesenswerten Essay im Booklet den Dichter René Chalupt aus einer Studie von 1949: „Das Originelle an Verlaine war, dass er in seinen Gedichten eine neue Musik hören ließ. Musikalisch ist der Auftakt des Albums einschmeichelnd, fast verführerisch. „Im alten einsamen Park, wo es fror, / traten eben zwei Schatten hervor. / Ihre Augen sind rot, ihre Lippen erblassen, / kaum kann man ihre Worte fassen“, lauten die ersten Zeilen von „Colloque sentimental“ in der Komposition von Léo Ferré (1916-1993). Ferré war einer der erfolgreichsten Chansonniers des 20. Jahrhunderts, der auch selbst komponierte. Seine Platten und seine Konzerte im Pariser Olympia sind Legende. Vom Streichquartett wird die Melodie aufgenommen, die das Klavier vorgibt. Jaroussky zieht seine Zuhörer auf einen Schlag tief in dieses Repertoire hinein, das er seinen „geheimen Garten“ nennt. Man kommt nicht davon los, bleibt dabei. Das Album schließt nach knapp zwei Stunden mit Colombine, von Georges Brassens in Töne gesetzt. Brassens, der bis 1981 lebte, war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller und Dichter, sondern machte sich ebenfalls als Chansonnier einen Namen weit über die Grenzen seiner französischen Heimat hinaus.

 

Mit Sacred Cantatas (Erato 08256 46491599): Mit diesem Album ist der Countertenor bei Johann Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann angekommen. Er hatte sein erstes deutsch gesungenes Programm vor Publikum in Berlin ausprobiert. Jaroussky war 2015 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt Artist in Residence. Er liebt Berlin, wie er in Interviews immer wieder bekundet. Ihm nimmt man das ab. Berlin sei so ganz anders als andere Städte in Deutschland, so der Weitgereiste in einem ihm gewidmeten Beitrag im einschlägigen Saisonheft des Konzerthauses. „Es ist die perfekte Stadt für Kunst und Künstler. Nicht zu teuer, frei und wenig reglementiert. Kunst ist hier lebendig.“ Inzwischen sind Auftritte in Berlin so etwas wie Heimspiele. Mit dem Freiburger Barockorchester, das ihn auch in Berlin begleitete, wurde die Aufnahme produziert. Jaroussky beginnt mit Bachs „Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“. Er hat auf der CD weitestgehend hinter sich gelassen, was vor Publikum nicht ganz optimal ausgefallen war. Die Stimme ist nicht mehr so unstet, tiefe Töne haben einen besseren Sitz, Verblendungen sind perfekter. Mit der Wortverständlichkeit, die bei diesen Kantaten unabdingbar ist, weil sie vom Wort her kommen, hapert es nach wie vor. Bei der Telemann-Kantate „Der am Ölberg zagende Jesus“ fand und findet Jaroussky zu seinen phänomenalen Möglichkeiten zurück. Dies dürfte auch daran liegen, dass Telemann weniger streng klingt als Bach. Opernhafte Züge mit schwungvollen musikalischen Einschüben sind allgegenwärtig. Jaroussky betont sie ausdrücklich, denn sie kommen ihm entgegen. Dieser Eindruck vermittelte sich auch bei der Passionskantate „Jesus liegt in letzten Zügen“, die ebenfalls von Telemann stammt. In diesem Werk gibt es mit der Arie „Mein liebster Heiland“ einen Höhepunkt, dem Jaroussky in der Bach-Kantate „Ich habe genug“ noch einen hinzu gibt. Mit der Arie „Schlummert ein, ihr matten Augen“ lässt er vieles vergessen, was an kritischen Einwänden vorzubringen ist.

Diese Bach-Kantate findet sich auch auf einer DVD, die dem CD-Album beiliegt und es etwas teurer macht. Mit dieser Kopplung setzt sich dieses Album von anderen Produkten mit ähnlichen Programmen zusätzlich ab. Jaroussky drückt Bach und Telemann ohnehin schon seinen eigenen Stempel auf. Nicht aus Eitelkeit, sondern nach Maßgabe seiner individuellen stimmlichen Möglichkeiten, die bei jeder Musik, die er singt, als unverwechselbares Markenzeichen durchschlagen. Er ist immer auf Anhieb zu erkennen. Ob deutsche Komponisten für ihn eine weitere Option sind, oder ob es bei einer Episode bleibt, muss sich erst zeigen. Entschieden ist offenbar nichts. Jedenfalls ist auch die DVD ein Zeugnis der Annäherung. Der schnörkellose Produktionsraum, die Musiker in schlichter Kleidung. Technik. Mikrofone, Kabel, Pulte statt Kronleuchter und Polsterstühlen. Mitten drin Jaroussky als Teil eines anstrengenden kollektiven Bemühens um Bach.

Jaroussky wäre nicht Jaroussky, hätte er nicht auch einige Neuigkeiten in diesem der Rückschau gewidmeten Album zu bieten. Für Januar 2020 ist eine CD mit Liedern von Franz Schubert angekündigt. Diese Neuerscheinung wird von einer Konzertreihe durch zahlreiche Städte begleitet. Vorab zu hören sind schon mal „Du bist die Ruh“ und „Ständchen“. Begleitet von Jerome Ducros entwickelt er eine ganz eigene musikalische Linie. Führt sie in höhere Lagen, müssen auch schrille Töne hingenommen werden, die schwerlich als Eigenart der Interpretation abzutun sind. Jaroussky wird älter. Er hat die vierzig überschritten. „Selbst nach all den Jahren ist meine Leidenschaft für die Musik nicht kleiner geworden, und ich hoffe, sie noch lange mit Ihnen teilen zu können“, schreibt er im Booklet. Das wünscht wohl auch sein Publikum. Rüdiger Winter

 

Das Foto oben ist Teil einer Porträtfolge von Simon Fowler / Erato – Warner Classics. im Booklet der Neuerscheinung.  

Gute-Laune-Platte

 

Nach„Du bist die Welt für mich“ mit Berliner Liedern der 1920er und 30er Jahre und „Dolce Vita“ mit italienischen Canzonen begibt sich Jonas Kaufmann mit seiner neuen CD „Wien“ erneut auf abseitiges Terrain (Sony 19075950402). Doch mit seiner Reverenz an die österreichische Metropole reiht er sich ein in die illustre Schar von berühmten Vertretern seiner Stimmgattung, die neben ihren Auftritten auf der Opernbühne sich immer wieder dem Genre der leichteren Unterhaltung widmeten. Dass dieses durchaus hohe Ansprüche an die stimmlichen und technischen Fähigkeiten des Interpreten stellt, beweisen die Operetten von Johann Strauß II, Franz Lehár und Emmerich Kálmán. Von letzterem Komponisten offeriert Die Zirkusprinzessin gar die Operettenversion von Leoncavallos Pagliacci mit der Figur des Mister X, der mit seinem Monolog  „Wieder hinaus ins strahlende Licht“ an Canios „Recitar“ erinnert. Kaufmann überzeugt mit diesem Titel besonders, gestaltet ihn mit imponierender Steigerung und existentiellem Ausdruck.

Von Lehár findet sich ein Ausschnitt aus der Lustigen Witwe – das Duett Hanna/Danilo „Lippen schweigen“, in welchem die amerikanische Sopranistin Rachel Willis-Sørensen die Partnerin des Tenors ist. Sie war in der konzertanten Fledermaus in der Semperoper zu Silvester, wo er erstmals (und durchaus mit zwiespältigem Ergebnis) den Einsenstein sang, seine Rosalinde. Im cremigen Ton und sinnlichen Timbre ihres hohen Soprans erinnert sie an Renée Fleming.

Allein sechs Nummern sind dem Schaffen von Johann Strauß II gewidmet. Die erste ist das Duett Graf/Gräfin„Wiener Blut“ aus der gleichnamigen Operette mit Kaufmann und Willis-Sørensen, die zu perfekter Balance von Schmelz und Schmalz finden. Mit dem koketten Uhrenduett Eisenstein/Rosalinde aus der Fledermaus erinnern sie an ihren gemeinsamen Dresdner Auftritt. Mit drei Arien aus Eine Nacht in Venedig kann der Solist besonders brillieren – die Partien des Caramello und Herzogs fanden sich im Repertoire aller gefeierten Tenöre von Tauber und Schmidt bis Schock und Gedda. Bei „Sei mir gegrüßt“ und „Komm in die Gondel“, wo er jeweils mit Spitzentönen auftrumpft, hört man bei Jonas Kaufmann am ehesten den Opernsänger heraus. Zu den weniger bekannten Werken von Strauss II zählt Die Tänzerin Fanny Elssler, doch hat sich das Lied „Draußen in Sievering“ längst einen Platz in der Hit-Liste der Operette erobert. Kaufmann singt es bezaubernd mit Charme und Nostalgie.

Neben den Beiträgen aus der klassischen Wiener Operette mit üppiger  Orchestrierung, wo sich die Wiener Philharmoniker unter Ádám Fischer schwelgerisch ausbreiten, hat Kaufmann auch eine Reihe von Wienerliedern ausgewählt, die zum Teil in kleiner Besetzung wie mit einem Salonorchester erklingen. Da gibt es zwei Kompositionen von Robert Stolz – „Wien wird bei Nacht erst schön“ (dem stimmungsvollen Auftakt des Programms) und „Im Prater blühn wieder die Bäume“  – sowie zwei Ausschnitte aus dem Film „Heut ist der schönste Tag in meinem Leben“ von 1935 mit der Musik von Hans May, die Joseph Schmidt so unvergleichlich interpretierte. Neben dem auftrumpfenden Titelsong ist „Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben“ eher von resignierter Wirkung. Hatte Kaufmann bei der Berliner Platte seinem Gesang einen Kabarett-Ton beigemischt und damit den Vergleich mit Richard Tauber von vornherein vermieden, finden sich in der Interpretation der Wiener Titel Parallelen zu Michael Heltau.

Auch Rudolf Sieczynskis „Wien, du Stadt meiner Träume“, Ralph Benatzkys „Ich muss wieder einmal in Grinzing sein“ und Peter Kreuders „Sag beim Abschied leise Servus“ sind längst Klassiker der Sparte. Eine Rarität ist das Lied „Du wärst für mich die Frau gewesen“ aus Jaromir Weinbergers Frühlingsstürme, das mit wehmütigen Kopftönen schmerzliche Erinnerungen heraufbeschwört. Der Abschluss des Programms mit Georg Kreislers hintergründigem„Der Tod, das muss ein Wiener sein“ wirkt wie ein Bonus, den hier begleitet Michael Rot den Solisten am Flügel. Der Titel fällt auch in seiner Stimmung aus dem Gesamtkonzept der Platte heraus, die aber dennoch gute Laune garantiert. Berd Hoppe

Franco Zeffirelli

Er galt vielen als Synonym für den Opernregisseur schlechthin. Zumindest in Sachen der traditionellen, naturalistischen Inszenierung suchte Franco Zeffirelli in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinesgleichen. Dabei war der am 12. Februar 1923 in Florenz geborene Künstler weit mehr als bloßer Opernregisseur. Einer breiten Öffentlichkeit dürfte er gerade auch durch seine Filme in Erinnerung bleiben, welche ein ähnlicher Monumentalstil auszeichnet wie seine sonstigen Inszenierungen. Hier muss sicherlich als erstes die schlichtweg geniale Filmadaption von Shakespeares Romeo und Julia von 1968 genannt werden, die ihm eine Oscar-Nominierung für die beste Regie sowie den David di Donatello und den Nastro d’Argento als bestem Regisseur einbrachte. Die Besetzung mit den seinerzeit noch völlig unbekannten und blutjungen Schauspielern Olivia Hussey und Leonard Whiting erwies sich als goldrichtig. Bereits ein Jahr zuvor hatte er mit Der Widerspenstigen Zähmung einen Klassiker verfilmt, in welchem die Hassliebe zwischen Elizabeth Taylor und Richard Burton kongenial im Mittelpunkt stand. Ein Kind seiner Zeit im Zuge der Hippie-Bewegung dann 1973 der Film Bruder Sonne, Schwester Mond über den heiligen Franziskus von Assisi. Den Grundstein für diese und weitere Erfolge legte freilich trotzdem die Opernregie. Nach einem Studium der Kunst und Architektur in seiner Heimatstadt Florenz kam er in den Dunstkreis des Regisseurs Luchino Visconti, der ihn stark prägte und zu dem er zeitweilig auch eine Liebesbeziehung unterhielt. Obwohl persönlich konservativ und bekennender Katholik, machte Zeffirelli seit 1996 kein Geheimnis mehr um seine bereits zuvor kolportierte sexuelle Veranlagung. Ihm, der er selbst unter schwierigen Bedingungen aufwuchs (die Mutter starb, als er sechs war, der Vater anerkannte ihn erst im Alter von 16), gelang es, sich ab den 50er Jahren an den berühmten Opernbühnen der Welt einen Namen zu machen. Er inszenierte unter anderem an der Scala von Mailand, an der Wiener Staatsoper, an der New Yorker Met, an der Arena di Verona sowie an der Comédie-Française. Seine opulenten Produktionen, vielerorts noch im Repertoire, wurden rasch zu seinem Markenzeichen, was ihm die Anerkennung eines Großteils des Publikums einbrachte, bei Kritikern aber auch den Ruf des Verstaubten und Ewiggestrigen. Spätestens mit seinem politischen Engagement für die rechtsgerichtete Forza Italia Silvio Berlusconis, für die er zwischen 1994 und 2001 im italienischen Senat saß, verstimmte er auch manchen Anhänger. Die Widersprüchlichkeit machte Zeffirelli in der Tat aus. So hatte er trotz seines Bekenntnisses zur eigenen Homosexualität kein Problem mit der Sexualmoral der katholischen Kirche. Vielfach ausgezeichnet, erhielt er schon 1977 den Verdienstorden der Italienischen Republik und wurde 2004 als Knight Commander of the Order of the British Empire ehrenhalber zum Ritter Ihrer Majestät geschlagen. Umtriebig bis zuletzt, inszenierte er noch bis zum letzten Atemzug, so für geplanten Produktionen in Verona (Sommer 2019) und gar am Königlichen Opernhaus im Oman (Anfang 2020). Franco Zeffirelli starb hochbetagt, im 97. Lebensjahr stehend, am 15. Juni 2019 in Rom. Er hinterlässt zwei adoptierte erwachsene Söhne (Foto Wikipedia). Daniel Hauser

Noch zu retten?

 

Die Umrandung des Covers mit einem kräftigen Grün, der Farbe der Hoffnung, widerspricht dem skeptischen Fragezeichen, das nach dem Titel Musiknation Deutschland steht, gefolgt von dem tatkräftigen „Ein Plädoyer für die Zukunft unserer Orchester“. Arnold Werner Jensen, geborener Österreicher, aber vor allem in Deutschland als Musikpädagoge und Musikwissenschaftler tätig, macht sich Sorgen um den Erhalt der reichen musikalischen Landschaft, die Deutschland mit seinen 129 „Kulturorchestern“, einmalig in der Welt,  immer noch darstellt.  1992 waren es immerhin 168, meistens führten Fusionen zur Verringerung der Anzahl.

Das Buch erläutert dem Leser, wie es zu der großen Anzahl von Orchestern und auch Opernhäusern kam, einer der wenigen Vorteile, den die deutsche Kleinstaaterei bot, denn jeder noch so unbedeutende Fürst wollte sich eine Kapelle leisten, ähnlich selbstbewusst, dazu aber auch kulturbeflissen war in späteren Zeiten das Bürgertum, so dass in Städten wie Hamburg oder Frankfurt von ihm getragene Institutionen entstanden. Da dürften höhere Ausgaben entstanden sein als die 0,2 % des Gesamtetats, den die Bundesrepublik nach Jensen für Kultur ausgibt. Was Länder und Kommunen beitragen, darf allerdings nicht unterschlagen werden, und am Schluss des Buches führt der Autor auch ein Gespräch mit einem Mäzen, Reinhold Würtz, der nicht nur einen Chor und eine Band, sondern auch ein Orchester finanziert, das sich sogar Anna Netrebko und Gatte als Begleiter bei ihrem gemeinsamen Konzert wünschten.

Im Mäzenatentum sieht Jensen allerdings nur eine weniger bedeutende Säule, auf der das musikalische Leben in Deutschland ruhen kann. Er nimmt den Staat in die Pflicht, der immerhin jeden Abend für jeden Sitz 257 Euro in der Berliner Staatsoper aufbringt, sieht ihn aber insofern als Gefahr für die Kulturlandschaft Deutschland an, als junge Musiker und junges Publikum nicht genügend stark durch einen regelmäßigen und dazu guten Musikunterricht vom Kindergarten bis zur Hochschulreife mit klassischer Musik in Kontakt gebracht werden. Da er selbst als Gymnasiallehrer gearbeitet hat, weiß er um den Unmut von Schülern, wenn sie sich mit einer Oper oder Sinfonie beschäftigen sollen, und schlägt deshalb einige Tricks vor, die helfen sollen, junge Menschen an klassische Musik heranzuführen. Daniel Barenboim sollte seiner Meinung nach ein Vorbild mit seinem Musikkindergarten sein.

Der Autor setzt sich ausführlich mit den Problemen auseinander, die bei der Wiedervereinigung Berlins durch die Vielzahl von Orchestern, die alle ihr Stammpublikum hatten, entstanden. Er zeichnet die Geschichte einiger Berliner Orchester, so des heutigen DSO,  nach, berichtet über das Orchesterranking, meint aber zugleich, es gäbe keine „Provinz“ im schlechten Sinne mehr, wenn sich Coburg Wagner-Opern und das Brandenburgische Staatsorchester Aufnahmen von Brahms-Sinfonien zutrauen.

Ein umfangreiches Kapitel beschäftigt sich mit den Orchestern zwischen Profilbildung und Globalisierung, die vor der klassischen Musik nicht Halt mache. Mit Christian Thielemann, der in einem umfangreichen Interview befragt wird, ist er der Meinung, dass nur noch die Dresdner Staatskapelle und die Wiener Philharmoniker, diese wegen ihrer Instrumente, ein unverkennbares Profil haben. Von Petrenko erhofft er sich, dass der den Berlinern dazu verhilft, wieder unverwechselbarer zu werden, verschweigt allerdings auch nicht, dass Qualitätssteigerung durch Verpflichtung der weltbesten Musiker die andere Seite der Medaille ist.

Das vielseitige Buch entwirft auch Berufsbilder, schildert Ausbildungsgänge, befasst sich mit der Rolle der Frauen als Orchestermitglieder, aber auch als Dirigentinnen, befragt Musiker darüber, ob viele Ausländer in einem Orchester fremde Elemente darstellten, ein anderes Musizieren bewirkten. Ein weiteres Kapitel ist den Spielstätten gewidmet, der Erörterung der Vorzüge und Nachteile von Weinberg- oder Schuhschachtel-Sälen.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit den deutschen Orchestern, d.h. der Bedeutung der DOV, der Frage, ob Unkündbarkeit gleich Qualitätsverlust sei, der Problematik von zwei Orchestern an einem Ort ( z.B. Dresden oder Wien) und der Orchestertypologie. Interessant zu erfahren ist, dass die Bamberger Symphoniker von böhmischen Musikern gegründet wurden, die Philharmonia Hungarica, inzwischen aufgelöst,  von 1956 geflüchteten Ungarn.

Aufschlussreich ist das Interview mit Christian Thielemann, der über die Funktion des Musikdirektors in Bayreuth spricht, übe  die besondere Akustik des Festspielhauses,  die Zusammensetzung des Orchesters, die Bedrohung der kleinen Theater durch die Möglichkeit für den Opernfreund, auch in der Provinz auf dem Fernsehschirm Anna Netrebko erleben zu können.  Der Dirigent strahlt Gelassenheit aus, wenn er meint, auch griechische, ägyptische und andere Kulturen seien einst untergegangen, und er lässt sich nicht aufs Glatteis führen, wenn er pauschal auf die Frage nach eventueller Veränderung des Orchesterklangs durch Frauen meint, sie seien das starke Geschlecht. Wertvoll ist sicherlich sein Ratschlag, jeder Dirigent soll an einem kleineren Theater die Lustige Witwe dirigieren und sich erst danach an die Meistersinger wagen.

Das Buch bietet eine Fülle von Informationen, wiederholt sich manchmal, gibt aber viele Anregungen und überzeugt durch Sachkenntnis und Engagement (210 Seiten, 2019 Henschel Verlag, ISBN 978 3 89487 809 2/ Abbildung oben Munari: Stillleben mit Instrumenten, galleria Palatina, Wikipedia). Ingrid Wanja   

 

Rolando Panerai

 

Seine Ausbildung absolvierte Rolando Panerai, am 17. Oktober 1924 in Campi Bisenzio bei Florenz geboren, am Konservatorium der toskanischen Hauptstadt bei Vito Frazzi, später auch in Mailand bei Giacomo Armani und Giulia Tess. Sein Debüt erfolgte 1946 als Lord Ashton in Donizettis Lucia di Lammermoor. Von da an ging es steil bergauf. Er sang an den großen Bühnen der Welt, so an der Scala von Mailand, am Royal Opera House, Covent Garden, an der Met in New York, an der Wiener Staatsoper, am Liceu von Barcelona, an der Pariser Oper sowie bei den Festspielen von Salzburg, Edinburgh und Aix-en-Provence.

Sein Repertoire umfasste zuletzt mehr als 150 Opern, darunter besonders Verdi und Puccini. In komischen Rollen feierte er seine größten Erfolge, so als Ford in Verdis Falstaff, in beiden Figaro-Partien von Mozart und Rossini, ferner als Leporello, Guglielmo und Alfonso bei Mozart, als Belcore und Dulcamara in L’elisir d’amore von Donizetti sowie in der Titelrolle von dessen Don Pasquale. Den Gianni Schichi sang er noch 2011 im Alter von 87 Jahren. Aber auch neueren Opern gegenüber war Panerai aufgeschlossen, so etwa Hindemiths Mathis der Maler und Der feurige Engel von Prokofjew. Zu seinen Gesangspartnern zählten solche Größen wie Maria Callas, Renata Scotto, Beverly Sills, Giuseppe di Stefano, Carlo Bergonzi und Nicolai Gedda. Seine womöglich berühmtesten Einspielungen machte er unter Herbert von Karajan in dessen legendärer Bohème neben Pavarotti und Freni (1973) und später auch im Falstaff  (1980). Das Gros seiner Studioaufnahmen entstand indes bereits in den 1950er und 60er Jahren. Ja sogar Wagner hat er gesungen, wie eine italienischsprachige Aufnahme des Parsifal von 1950 beweist (neben der Callas und Boris Christoff). Selbst im greisenhaften Alter war er noch als Gesangslehrer tätig und versuchte sich daneben auch als Opernregisseur, so zuletzt noch im Vorjahr in Genua mit Gianni Schicchi. 1992 wurde er zum österreichischen Kammersänger ernannt. Am 23. Oktober 2019 ist Rolando Panerai kurz nach seinem 95. Geburtstag im florentinischen Settignano gestorben. Daniel Hauser