Archiv für den Monat: August 2019

Mit Einschränkungen

 

Oberon ist die letzte Oper Carl Maria von Webers – und sie gilt als sein großes Abschiedswerk. Zu sehen und zu hören ist sie allerdings selten auf der Bühne. Der Mitschnitt einer konzertanten Aufführung aus Gießen ist jetzt beim Label Oehms Classics erschienen.

Oberon, das war der Sprung Webers ins internationale Konzertleben, ein Opernauftrag für London, die Chance des Freischützkomponisten, endlich zum allseits anerkannten Weltstar aufzusteigen – allerdings wusste Weber auch, dass dies sein letztes Werk sein würde, er war schon schwer tuberkulosekrank. Also hat er noch mal alles geben, und der Stilmix ist bis heute betörend. Elfenromantik, heroische Helden, ein Hauch Belcanto a la Rossini (Weber hatte sich mit ihm kurz zuvor in Paris ausgesöhnt). Das alles versehen mit äußerst delikaten Orchesterfarben, die noch einen Debussy inspirierten. Ganz große, eigenwillige, sehr persönliche Musik.

Die Fassung: Leider litt das Libretto an enormen Schwächen – es war ein Zauberspektakel, das nur wenig auf die Erfordernisse einer seriösen Opernpartitur einging. Schlüsselszenen tauchen nur im Dialog auf, nicht als Musiknummern. Weber wollte später für Deutschland nachbessern – kam aber nicht mehr dazu. Das Gießener Theater hat  Teile der posthumen Zusammenfassungen, Regieanweisungen und den Dialoge des ersten deutschen Bearbeiters, Theodor Hell, benutzt und diese Texte so für Erzähler arrangiert, dass sie wirklich klingen wie eine konzertante Originalfassung. Dieser Aspekt der Aufführung ist ausgesprochen gelungen.

Michael Hofstetter: Grund für den Mitschnitt war aber zweifellos der Dirigent Michael Hofstetter, der vor allem mit Opern-Wiederbelebungen der Vorklassik berühmt wurde, ihm haben wir etwa diverse Gluck-Wiederentdeckungen zu verdanken. Er gehört zu den wirklich klugen, abenteuerlustigen und unorthodoxen Dirigenten unserer Tage.

In gewisser Weise ist dies hier seine Feuertaufe auf CD – meist erscheinen nur Raritäten von Werken, bei denen es schwierig ist, Vergleiche mit anderen Dirigenten anzustellen. Hier im Oberon bleibt Hofstetter durchaus auf Augenhöhe solcher Oberon-Dirigenten wie Kubelik und Gardiner, sein Vorteil ist die perfekte Kenntnis der vorklassischen Werke, der Wurzeln, aus denen Weber hervorgeht. Bei ihm klingt Weber durchsichtig und saftig zugleich, ohne falschen Zungenschlag, man könnte ihn in der Hofstetter-Aufnahme nie mit einem obskuren Schubert oder frühen Wagner verwechseln. Manchmal arbeitet er mit provokant langsamen Tempi, die aber immer spannungsvoll blieben, und sein Gießener Orchester geht erstaunlich gut mit; da sitzt (fast) alles perfekt, auch in den Solostimmen. Also aus der Dirigentenperspektive gesehen ist das ein sehr sehr spannender Oberon.

Problematische Besetzung: Doch Oberon steht und fällt mit den Sängern. Meistens fällt er. So auch hier. Das ist keine Schande, denn die beiden Hauptpartien kaum singbar. Hüon und Rezia haben schon Sänger wie Jonas Kaufmann und Birgit Nilson den Schweiß auf die Stirn getrieben, Oberon ist gesangstechnisch ein Schreckgespenst der Operngeschichte. Aber gibt es überhaupt die ultimative CD- (oder LP-) Aufnahme dieser so problematischen Oper? Alle sind drastisch bearbeitet und keine kann zufrieden stellen.

Man muss zur Ehrenrettung von Mirko Roschkowski (Hüon) sagen, dass er diese große stimmtechnisch alptraumhafte Partie für einen lyrischen Tenor erstaunlich gut meistert. Das Problem ist: diese Rolle ist eigentlich nichts für ihn, das ist eine bizarre Mischung aus Helden- und lyrischem Tenor, eigentlich eine Partie, die der französischen Tradition näher steht als der deutschen oder italienischen. Man braucht dafür Stimmen, die die Brillanz der Musik feuerwerksartig herüberbringen, und das gelingt hier nur teilweise. Das gilt auch für Rezia. Dorothea Maria Marks‘ Sopran ist einfach zu klein, obwohl sie sich im wörtlichen Sinne heroisch schlägt – doch ich habe beim Hören mitgebangt. Und das ist eigentlich immer ein Zeichen, dass der Kampf des Sängers mit den Noten nicht ausgefochten ist und das Ergebnis offen. Die übrigen Sänger (Clemens Kerschenbauer, Garga Peros, Dmitry Egorov, Karola Pavone und Roman Kurtz) bleiben unauffällig, aber reicht das?

Leider kommt hier aber auch noch eine hochproblematische Akustik hinzu, eine schlechte Aussteuerung, die sich gerade bei den hohen Stimmen bemerkbar macht durch ärgerliche Zisch-Echos – und so ist diese Aufnahme trotz interessanter Ansätze leider nur bedingt empfehlenswert ( Carl Maria von Weber: Oberon mit Mirko Roschkowski, Dorothea Maria Marx, Marie Seidler u. a.| Chor des Stadttheaters Gießen | Philharmonisches Orchester Gießen, Chor und Extrachor des Stadtteaters Gießen | Michael Hofstetter; Oehms Classics, 2 CD OC 984). Matthias Käther/Stefan Lauter

„O, wie will ich triumphieren“

 

Gottlob Frick„der schwärzeste Bass“. Dieses Markenzeichen soll der Dirigent Wilhelm Furtwängler dem Sänger verliehen haben. Es hängt ihm bis heute an wie ein Preisschild. Das muss nicht immer von Vorteil sein. Furtwängler schätzte Frick und setzte ihn auf der Bühne und im Studio ein. Mit Hundig, Rocco und König Marke ist diese Zusammenarbeit auch auf Tonträgern dokumentiert, kann also nachgehört werden. Diese Dokumente geben Auskunft darüber, was Furtwängler unter dem schwärzesten Bass verstand. Vom Gestaltungspielraum her sind den genannten Rollen gewisse Grenzen gesetzt. Bis auf Rocco machen sie auch keine Entwicklungen durch, müssen sich in keinem Duett und in keiner großen Ensembleszene stellen. Ihre Wirkung ist vornehmlich stimmlicher Natur. Nicht, dass sie sich von selbst sängen. Mit der richtigen Tessitura und Stimmfärbung hat ein Vertreter dieser Partien aber bereits viel gewonnen. Frick brauchte nur den Mund aufzumachen, um auch als bedeutender Gestalter wahrgenommen zu werden – sogar dann noch, wenn er eigentlich kaum gestaltete. Was aus ihm tönte, trug – einer Erbmasse gleich – dramatisches Potenzial in sich.

Mit der neuen Box wird des 25. Todestages des Sängers gedacht. Den Anstoß gab der Ehrenpräsident der Gottlob-Frick-Gesellschaft, Hans A. Hey. 

Im Booklet einer neuen Portrait-Box bei Profil Edition Günter Hänssler wird Jürgen Kesting aus seinem Standardwerk „Die großen Sänger“ zitiert: „Das Timbre der Stimme von Gottlob Frick einmal gehört, verliert man nicht aus dem Ohr.“ Das ist trefflich formuliert. Auch ich schätze an Sängern die Wiedererkennung als eine der schönsten Tugenden. Und was bei Kesting zunächst wie ein hundertprozentiges Kompliment klingt, wirft auch Fragen auf. Mir kommt es manchmal so vor, als stünde diesem Sänger sein unverwechselbares Timbre gelegentlich auch im Wege. Ich erinnere mich an eine Diskussion im Freundeskreis, wobei Frick-Platten gehört wurden. Jemand sagte: „Der singt ja alles gleich.“ Mit so einem zugespitzten Urteil, das aber auch nicht völlig falsch ist, wird man Frick jedoch nicht gerecht. Die neue Edition, die auch im Titel mit dem eingangs erwähnten vermeintlichen Furtwängler-Zitat wirbt, will der Vielseitigkeit des Sängers in Oper, Oratorium und Lied Rechnung tragen. Furtwängler-Dokumente enthält sie nicht, was ich schade finde. Den Anstoß gab der Ehrenpräsident der Gottlob-Frick-Gesellschaft, Hans A. Hey, dem dafür im Booklet auch ausdrücklich gedankt wird. Wer auf ihn trifft, ob persönlich, am Telefon oder schriftlich, ist noch immer von diesem glühender Verehrer von Frick angesteckt wordenn. Kaum jemand dürfte sich so leidenschaftlich für das Andenken an den Bassisten engagieren wie er. Auch legendäre Sänger müssen im Gespräch bleiben, damit sie nicht zum Denkmal erstarren. Das weiß auch Hey.

Konkreter Anlass für die Neuerscheinung ist der 25. Todestag von Frick am 18. August 2019. Ein Tag, der sich für Rückschau genauso anbietet wie für Gedankenspiele, ob ein Künstler von seinem Schlage auch in der Zukunft noch eine Chance hat, wahrgenommen und verehrt zu werden. Dafür ist die Pflege des Nachlasses unerlässlich. Wie Maler in Gemälden, Dichter in Büchern oder Architekten in Bauwerken, leben Sänger in ihren Aufnahmen fort. Vor allem dann, wenn die Zeitzeugen, die sie noch auf der Bühne der im Konzert erlebt haben, allmählich abtreten. Es ist noch zu wenig anerkannt, dass Tonaufnahmen aller Art Teil des kulturellen Erbes sind, das es zu bewahren, wissenschaftlich zu erforschen und öffentlich zu machen gilt. Tonarchive werden im Gegensatz zu Museen und Bibliotheken meist nach Gutherrenart unter Verschluss gehalten. Es bleibt weitestgehend Firmen, Labels und privaten Initiativen überlassen, diesen Erbteil zu hegen, zu pflegen – und auch kritisch zu hinterfragen. Die Edition aus dem Hause Hänssler ist eine solche Initiative.

Bisher nur als LP greifbar gewesen: Die große Szene im Kabinett des Königs zu Madrid. Seine Auseinandersetzung mit dem Großinquisitor, den Kurt Böhme singt, ist ein Höhepunkt der Neuerscheinung.

Gottlob Frick ist sehr gut vertreten auf dem Musikmarkt. Kommt etwas hinzu, folgt die Frage auf dem Fuß: Was ist neu? Lohnt sich die Anschaffung?  Sammler dürften die meisten Titel kennen. Manche schätzen es aber auch, vertraute Aufnahmen in neuen Zusammenhängen gereicht zu bekommen. Eine Szenenfolge aus Verdis Don Carlos, einfach gezählt und nicht trackweise wie im Booklet, sind sieben Titel bisher nicht auf CD verfügbar gewesen. Dieser Carlos ist kein klassischer Opernquerschnitt wie die ebenfalls deutsch gesungene Aufnahme, die 1965 bei Eterna in der DDR erschien und nun im Katalog Berlin Classics zu finden ist. Produziert wurde 1963 das erste Bild des vierten Aktes – das „Kabinett des Königs zu Madrid“, wie es auf dem Eurodisc-Plattencover hieß. Es beginnt – in bestem Stereo – mit dem Philipp-Monolog „Sie hat mich nie geliebt“ (Gottlob Frick) und endet mit der Eboli-Arie „Verhängnisvoll war das Geschenk“ (Hertha Töpper). Dazwischen die unheimliche Begegnung des Königs mit dem blinden Großinquisitor (Kurt Böhme), die für mich zum Höhepunkt der Box wird. Es ist, als ob sich der Kampf zwischen weltlicher und kirchlicher Macht eben in dieser Szene wie ein gewaltiges Beben entlädt. Böhme agiert mit erbarmungsloser Kälte und giftigen, gar grellen Untertönen und verhilft so seinem Kollegen Frick dazu, den spanischen König auch mit menschlich-tragischen Zügen auszustatten. Das geht unter die Haut. Nur selten gelingen Opernszene im Studio so packend und realistisch wie hier, zumal die sich anschließende Auseinandersetzung Philipps mit der herbeieilenden Elisabeth (Hildegard Hillebrecht), in die auch Posa (Marcel Cordes) und Eboli einfallen, betont traditionell klingt, was zur Folge hat, dass Frick und Böhme noch mehr hermachen.

„O, wie will ich triumphieren“ Die Arie des Osmin aus Mozarts „Entführung“  sowie andere Opernszenen wurden von dieser Electrola-Single für die Edition überspielt. Das große Foto oben ist ein leicht eingefärbter Ausschnitt des Cover.  

Als Kontrastprogramm zu Carlos fallen zwei große Szenen aus Lortzings Zar und Zimmermann (Electrola) heraus, die nun ebenfalls erstmals auf CD greifbar sind: die Arien des Bürgermeisters van Bett „O sancta justizia“ und die Singschule „Den hohen Herrscher würdig zu empfangen“. Sie dürften einst als Singleplatte herausgekommen sein. Im Booklet wird zwar akribisch auf die Quellen – meist Electrola – mit ihren Veröffentlichungsnummern verwiesen, es wird aber nicht deutlich, in welchem Format bestimmte Aufnahmen ursprünglich erschienen sind. Käufer der Edition müssen – wenn sie das überhaupt wollen – selbst herausfinden, ob Arien oder Szenen als Einzel- oder innerhalb von Gesamtaufnahmen produziert wurden. Und sie müssen mitunter deutliche Unterschiede im Klangbild hinnehmen. Im Falle von Zar und Zimmermann ist die Quellenlage nicht so einfach. Frick war der Bürgermeister auch in einer Gesamtaufnahme und in mindestens einem Querschnitt. In dieser Position zieht er alle Register. Je nach Situation dreht er das Tempo seiner an sich schweren Stimme auf, um im nächsten Moment drei Gänge zurückzuschalten, wenn es gilt, ein Detail schwelgerisch auszukosten. Mühelos erhebt er sich aus den unterstes Registern hinauf ins Falsett. Er kann stimmlich penetrant, kleinkariert und verzweifelt sein, stolziert mit geschwellter Brust umher und macht sich im nächsten Moment bereits in Erwartung des hohen Herrschers klein wie eine Kröte. Selten hat ein Sänger in meinen Ohren so plastisch geklungen wie Frick. Es ist, ob er singend die Bilder der Szene gleich mitliefert. Sein rollendes R ist Legende. Bei aller Nonchalance im Vortrag, ist er ein Genauigkeitsfanatiker, der den Konsonanten noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken scheint als den Vokalen. Das versetzt ihn in die Lage, Wörtern und Begriffen den ihrem Sinn entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Er ist immer zu verstehen. In beiden Bürgermeister-Szenen entfaltet er auch sein urkomisches Talent, und ich ertappte mich – den Philipp noch im Ohr – bei der Frage, ob seine Begabung in der so genannten Spieloper am Ende nicht noch größer sei als in ernsten und seriösen Rollen. Eine Antwort wird jeder für sich finden, zumal die Edition Vorlagen in überreichem Maße bereithält.

Gottlob Frick als König Heinrich im „Lohengrin“. Die Rolle war eine seiner besten Leistungen.

Auf Osmin folgt Bartolo in Figaros Hochzeit, auf Sarastro der Commendatore im Don Giovanni –Finale als italienisches Original. Dass Basilio und Bartolo in Rossinis Barbier, Baculus in Lortzings Wildschütz, Abdul Hassan im Barbier von Bagdad sowie Falstaff in Nicolais Lustigen Weibern nicht fehlen, versteht sich von selbst.  Was noch? Mit Szenen aus Halévys Jüdin, Orffs Kluger und Egks Zaubergeige, Verdis Simon Boccanegra und Sizilianischer Vesper sowie Tschaikovskys Eugen Onegin breitet Frick die reich bemessene Aussteuer eines Vertreters seines Fachs in seiner Zeit aus. Als Bonus ausgewiesen findet sich das Lied des Henkers aus der Funkoper Tandaradei von Hans-Hendrik Wehding, der dabei selbst am Pult der Sächsischen Staatskapelle steht. Wie der Name schon sagt, wurden Funkopern nicht für die Bühne, sondern für das Radio komponiert. Ob es sich bei dem Lied, das die Virtuosität in Fricks Gesangsstil auf verblüffende Weise offenbart, um einen Ausschnitt aus der ersten Produktion dieser Funkoper, die in Dresden zustande kam, handelt, bleibt offen. Sie dürfte aber noch während Fricks Dresdner Zeit entstanden sein, denn die Stimme klingt leichter und sogar durchsichtiger als in seiner späteren Glanzzeit. Als Quelle wird lediglich ein „Band der DRA“ (Deutsches Rundfunkarchiv) genannt.

Gottlob Frick galt als bodenständiger, bescheiden gebliebener Gemütsmensch, der sich gern „in sein am Waldrand gelegenes Haus“ in Ölbronn zurückzog, „um zu jagen, zu entspannen und den großen Freundes- und Verehrerkreis … zu empfangen“, heißt es im Booklet der Box. Seine Freizeitbeschäftigung hat sich in einer LP niedergeschlagen.

Nur einmal habe ich Frick auf der Bühne erlebt. Als Hagen. Das war im Oktober 1966 an der Berliner Staatsoper. Ich als  opernbesessener Jüngling besuchte zum erstmal eine Vorstellung der Götterdämmerung. In meinem Kopf war jeder Ton einer heimischen Schallplatte mit dem Wachgesang und der Mannen-Szene gespeichert. Das erste, was mir auffiel: Der ist aber klein. Bei seiner Stimme war ich auf einen Hünen von mindestens zwei Metern Körpergröße gefasst, zumal der Siegfried Ernst Gruber tatsächliche diese Maße hatte. Eines habe ich damals gelernt: Ein Sänger braucht nicht groß zu sein, um groß singen zu können. „Meine“ Platte mit der Staatskapelle Berlin und dem Chor der Deutschen Staatsoper unter Franz Konwitschny hat auch Einzug in die Gedenkedition gehalten. Eingefasst wird sie von Pogners Ansprache aus den Meistersingern und der Arie des Daland „Mögst du, mein Kind“ aus dem Fliegenden Holländer, die beide aus den hinlänglich bekannten und weitverbreiteten gesamtdeutschen Einspielungen dieser Opern stammen. Gute alte Bekannte sind auch die Auszüge aus Haydns Schöpfung und Jahreszeiten, die von Karl Forster geleitet werden. Wer gern Lieder jenseits von Schubert, Schumann oder Wolf hört, wird bei Frick fündig. Volksliedhafte Gesänge von Conradin Kreutzer, Franz Abt, Victor Ernst Nessler, Friedrich Zelter, Carl Michael Zierer oder Robert Stolz gelingen ihm viel zu rasant, als dass es sich lediglich um Gelegenheitsarbeiten gehandelt haben dürfte. Er scheint darin zu baden.  In den Liedern offenbart sich Frick zudem als – wie es im Booklet heißt – bodenständiger, bescheiden gebliebener Gemütsmensch, der sich gern „in sein am Waldrand gelegenes Haus“ in Ölbronn zurückzog, „um zu jagen, zu entspannen und den großen Freundes- und Verehrerkreis … zu empfangen“. Besonders häufig habe der Tenor Fritz Wunderlich den väterlichen Freund besucht. Mehr aus dieser denn aus einer rein künstlerischen Perspektive sind denn auch die gut zwanzig Minuten aus Smetanas Verkaufter Braut zu verstehen, die schon auf dem Cover der Box als „World Premiere“ angekündigt werden. Frick und Wunderlich singen das Duett „Komm, mein Söhnchen, auf ein Wort“ am 29. Juni 1964 in Ölbronn zum Klavier (Josef Blaser) offenbar bei einer privaten Veranstaltung. Und das sehr frei. Die Stimmung ist gelöst. Das Publikum nimmt mit gelegentlichen Einwürfen regen Anteil, erklatscht sich ein Da Capo und ist alles in allem hoch amüsiert. Und es dürfte auch dieses und jenes Gläschen gereicht worden zu sein. Rüdiger Winter

Franco Faccios „Amleto“

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Nach Erstaufführungen im amerikanischen Albuquerque 2015 und Wilmington/Delaware 2016 (operalounge.de berichtete über beide) präsentierte Bregenz bei seinen Festspielen 2016 Franco Faccios vergessene Oper Amleto von 1865 – eine der spannendsten Opern-Wiederentdeckungen der letzten Jahre (in Europa). Dazu gab uns Antonio Barrese, eminenter Dirigent und Musikwissenschaftler, vor allem aber Wiederentdecker und Restaurator der Partitur des Amleto anlässlich seiner Bühnen-Produktionen der Oper in Albuquerque und Delaware ein ausführliches Interview zum Werk und den aufregenden Umständen der Ausgrabung in den Archiven des Musikverlages Ricordi, das wir hier aus gegebenem Anlass wiederholen. Von der Aufführung in Albuquerque gibt es inzwischen eine DVD und CD, aus Delaware zumindest einen Radiomitschnitt – Bregenz hatte also mitnichten die erste Wiederentdeckung des Amleto in moderner Zeit, wie von der Intendantin noch im Radio-Interview gerne behauptet wurde (wo auch Entdecker Barese kleingeredet wurde). Allerdings sind die amerikanischen Dokumente aus Copyright-Gründen der Universal/Ricordi nur in den USA und nicht ins Ausland lieferbar… Die Aufführung in Bregenz wurde am 20. Juli 2016 in Ö1 Radio und ORF3 TV live übertragen und liegt nun auf DVD bei C-Major/ Unitel/ Bregenzer Festspiele sowie als CD-Ausgabe bei Naxos (8.660454-55, 2 CD) vor, eine Besprechung von Matthias Käther findet sich am Schluss.. G. H.

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Franco Faccio/OBA

Franco Faccio/OBA

Amleto von Faccio – zur Einführung: Ein fünfundzwanzigjähriger Komponist, dem bisher nur eine Vorstellung vergönnt war, und ein dreiundzwanzigjähriger Librettist bei der ersten bedeutenden Erfahrung mit einer Oper: der Musik und den Worten dieser beiden jungen Burschen, die die Kunstwelt von Kopf bis Fuß erneuern wollten, galt der Beifall des Genueser Publikums des Teatro Carlo Fenice.am 30. Mai 1865. Seitdem sind knapp 150 Jahre vergangen seit der Premiere von Amleto, eine tragedia irica  in vier Akten, an die Franco Faccio, der Komponist, und Arrigo Boito, der Librettist, viele Erwartungen und Hoffnungen geknüpft hatten. Es handelte sich um ein wahres und tatsächliches Manifest der Scapliatura (= Liederlichkeit, literarische Protest-Bewegung in Mailand), aber die Aufnahme war einige Jahre danach eine ganz andere, als die Scala dieselben Noten ohne Wenn und Aber auspfiff.

Es lohnt sich, die Geschichte dieser Oper sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, um die Gründe für den Misserfolg von 1871 zu verstehen, obwohl sie ohne Zweifel innovativ und originell war. Die Geschichte des Amleto von Faccio und Boito ist alles in allem eine kurze. Leider sind die Quellen nicht so zahlreich, wie man es erwarten könnte: Zum Beispiel weiß man von der Zeit vor der Komposition lediglich, dass die beiden jungen Leute voller Pläne und Initiativen waren, nachdem sie das Konservatorium von Mailand verlassen hatten. Warum ausgerechnet eine der bedeutendsten Tragödien Shakespeares?  Es scheint so, als habe Boito begonnen, an dem Libretto noch vor I Fiamminghi zu arbeiten, das dann am 2. Juli 1862 in Polen vollendet wurde. Viel zahlreicher sind die Zeugnisse von diesem unseligen Genueser Premierenabend des Jahres 1865. Zur Besetzung gehörten bedeutende Sänger wie Mario Tiberini als Hamlet, Angiolina Ortolani-Tiberini als Ofelia, Elena Corani und Antonio Cotogni als Königin und König. Die Tatsache, dass das Teatro Carlo Felice zwei fast Unbekannte akzeptiert hatte, ist auf das persönliche Eingreifen von Alberto Mazzuccato zurück zu führen, der am Konservatorium Lehrer Boitos gewesen war und Freund des Dirigenten Angelo Mariani, ebenfalls für dieses Debüt ausgewählt.

Die Zeitschrift  Movimento schrieb damals: „Gestern Abend öffneten sich die Pforten des Carlo Felice für die  angekündigte Aufführung der neuen Partitur von Franco Faccio, den Amleto. Groß waren die allgemeinen Erwartungen, da Zweifel laut geworden waren in Bezug auf  das neue Genre, an dem sich der junge Maestro versucht hatte. Das Publikum kam in Massen und in der Haltung, dessen, der zu  einem wohl bedachten Urteil, sagen wir es offen, mit Strenge bereit war. Aber die Bereitschaft zum Zweifel flaute schnell ab, und nach genauer Prüfung fiel die Entscheidung; man applaudierte und das ganz spontan, aus Überzeugung und mit Enthusiasmus. Ebenso las an es in der Gazzetta di Genova: „Der Oper wurde allgemein nach dem ersten Akt Beifall gespendet, nach dem Duett Ofelia und Amleto, am Ende des zweiten Akts, nach der Canzone der Ofelia im dritten Akt und nach dem Tauermarsch im vierten Akt. Der junge Maestro wurde mehrmals auf die Bühne gerufen.“

Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns - Danke Ingrid!

Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns – Danke Ingrid!

Das eindeutige Talent von Faccio wurde also anerkannt. Nicht derselben Meinung war Giuseppe Verdi, nach dessen Auffassung niemand etwas hatte verstehen können bei all dem „Krach“. Die sechs Jahre, die zwischen Genua und Mailand verstrichen, waren voller Abenteuer und Erfahrungen, vor allem die Teilnahme am Dritten Unabhängigkeitskrieg im Jahre 1866, der beide (Faccio und Boito) betraf, um nicht vom Fiasko des Mefistofele zu sprechen, des es 1868 an der Scala gab. Die Kunst der „Liederlichkeit“ bedurfte also einer schönen Auffrischung, so sehr, dass man 1870 von einer möglichen Wiederaufführung des Amleto in Florenz sprach. Man entschied sich jedoch für Mailand, die Scala und die Saison 1870/71. Tiberini wurde wieder engagiert für dieselbe Rolle, aber auch der Rest der Besetzung war vorzüglich, mit Virginia Pozzi-Branzanti als Ofelia und dem Dirigenten Eugenio Terziani als Dirigenten. Leider erkrankte Tiberini, und das Debüt an der Scala wurde um zwei Wochen verschoben. Aber das reichte nicht. Der Tenor aus den Marken war vollkommen ohne Stimme und desorientiert. Sein Auftritt war ein komplettes Unglück, viele Noten brachte er überhaupt nicht heraus. Faccio zeigte sich ruhig und gelassen, aber in Wirklichkeit hatte sich Nervosität seiner bemächtigt. Es gab zwar einigen Applaus, aber alles in allem sprach man sofort von einem Fiasko. Es ist wirklich schade, dass man Amleto nicht mehr zu Faccios Lebzeiten aufgeführt hat (er starb fünfzigjährig im Jahre 1891, nachdem er in Irrsinn verfallen war). Eigentlich handelte es sich, wie der Verleger Tito Riccordi bemerkte, um einen Amleto aufgeführt ohne Hamlet, vielleicht war es auch Schicksal, dass man diese Tragödie so schnell vergaß. Aber die große Leidenschaft, die Antonio Smareglia, einer der wichtigsten Schüler von Faccio, für die Partitur hegte, ist doch zu erwähnen, für eine Musik und eine Bearbeitung des Stoffes, die in dieser Epoche für zu ehrgeizig und wenig respektvoll gegenüber Shakespeare gehalten wurden. Aber man kann auch von einem wertvollen und konkreten Zeugnis sprechen, das die „Liederlichkeit“ im 19. Jahrhundert zu schaffen versuchte.  (Übersetzung Ingrid Wanja)  

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Anthony Barrese: Dirigent, Komponist und Musikwissenschaftler/AB

Anthony Barrese: Dirigent, Komponist und Musikwissenschaftler/AB

Und nun Fragen an Antony Barrese zu Faccios Amleto: Zunächst einmal die übliche Frage: Was hat Sie zu dieser Oper und zu dem Komponisten geführt? Ich selbst bin und war immer fasziniert von diesen compositori minori im überwältigenden Schatten von Verdi – wie Apolloni oder natürlich Gomes, Montèro, Carrer.Wie sind Sie also auf diesen Komponisten aufmerksam geworden?Hamlet ist mein Lieblingsstück von Shakespeare, und das schon seit meinen frühen Teenagerjahren. Als ich anfing, die Welt der Oper zu erforschen, war ich schockiert, als ich feststellte, dass es keine glaubwürdige (meiner Meinung nach) Opernbearbeitung des Themas gab. Und dann hörte ich, dass Boito ein Hamlet-Libretto geschrieben hatte, und dass es nicht nur sein erstes Shakespeare-Libretto war, sondern sein erstes Libretto überhaupt. Ich kam also wegen des Librettos zur Oper und entdeckte dann später die Musik, aber alles wegen meiner Liebe zu Shakespeares Hamlet.

Verdi ist der Eckpfeiler dieser Periode – was unterscheidet Faccio von Verdi? Wie individuell ist seine Musik im Vergleich zu Verdi? Hat er Rossini gekannt (sicher auch G. Tell und all das, wie Verdi)? Wie sehr ist er Donizetti und den Belcanto-Komponisten verpflichtet? Ich höre mir gerade Ihre Musikbeispiele von Amleto auf Ihrer Website an – seine große Arie und Szene – Hamlet als Tenor scheint so seltsam nach Thomas und all dem. Es macht ihn sicher jünger, vielleicht weniger gewichtig und traditioneller?

„Amleto“: Antonio Cotogni als Il Re der Uraufführung/AB

Faccios Musik ähnelt in vielerlei Hinsicht der von Verdi, aber in dem Maße, in dem er einzigartig ist, ist er definitiv mehr auf die orchestralen Farben bedacht. So gibt es zum Beispiel im Vorspiel des 3. Akts vor Ofelias Wahnsinnsszene wunderbare Stellen mit hohen Streichern und Flageoletts (ganz ähnlich wie zu Beginn von Lohengrin). Außerdem verwendet er sehr subtile Techniken wie Beckenschläge ppp, ein Effekt, den man vor dem Verismo nicht oft sieht. Zweifellos kannte Faccio Rossinis und Donizettis Musik. Während Spuren von Rossini nur schwer zu finden sind, wird Donizettis Präsenz in der Wahnsinnsszene von Ofelia deutlich, in der sie von einem Flötenobligato begleitet wird (Anklänge an Lucia di Lammermoor).

Hamlet mit einem Tenor zu besetzen, erscheint mir in der italienischen Tradition sinnvoller, vor allem im mittleren und späten Verdi, wo der Held ein Tenor ist und das Böse eine tiefere, dunklere Stimme hat. In der Tat sind alle Stimmtypen perfekt besetzt. Ofelia ist ein lyrischer Sopran, Geltrude liegt irgendwo zwischen einem Sopran und einem Mezzosopran, was ihr eine dunklere, eher matronenhafte Qualität verleiht. Und der Geist ist ein Basso profundo, was seiner Figur mehr dramatisches und musikalisches Gewicht verleiht.

„Amleto“: Signora Tiberini war die erste Ofelia/DeRenzis/AB

Außerdem entspricht Hamlets Gesangslinie viel mehr den späteren Verismo-Komponisten. Es ist keine besonders hohe Rolle (B ist die höchste Note, die er hat), und es gibt einen Mangel an gehaltenen hohen Noten. Das soll nicht heißen, dass die Gesangslinie nicht ausdrucksstark ist, denn das ist sie, und zwar an sehr wichtigen Stellen. Aber Faccio achtet darauf, die Gesangslinie im Zaum zu halten und sie nur in Momenten höchster musikalischer und dramatischer Bedeutung explodieren zu lassen.

Gibt es Informationen über die Oper „Amleto“? Wurde sie oft aufgeführt? Wann und warum wurde sie nicht mehr gespielt? Amleto wurde 1865 im Teatro Carlo Felice in Genua uraufgeführt. Allem Anschein nach war es ein Erfolg, sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern. Bald nach der Premiere schlossen sich Boito und Faccio Garibaldis Armee an und kämpften für die italienische Einigung. Ihre Reisen brachten sie in engeren Kontakt mit der Musik Beethovens und Wagners (Wagner war in Italien zu dieser Zeit nur durch seine Schriften oder Klavierauszüge bekannt). Die erste Wagner-Oper, die in Italien erklang, Lohengrin, wurde erst 1871 aufgeführt). Dies trug zu den zahlreichen Überarbeitungen bei, die Faccio vornahm. Nach der katastrophalen Premiere von Boitos Mefistofele (La Scala 1868) wussten Faccio und seine Kollegen, dass sie einen Erfolg brauchten, und so wurde für 1871 eine weitere Aufführung von Amleto an der Scala geplant.

„Amleto“: Virginia Pozzi-Branzanti, Ofelia in Mailand/Fondo Antonio Cervi

Die Vorbereitungen verliefen reibungslos, bis in der letzten Woche der Sänger des Amleto (Tiberini) erkrankte und die Premiere um einige Wochen verschoben werden musste. Tiberini erholte sich, doch kurz vor der Premiere erkrankte er erneut. Die Theaterkommission der Scala befand Tiberini für gesund genug, um zu singen, und er machte weiter. Was dann geschah, war eine Katastrophe. Tiberini, immer noch sehr krank, konnte die Rolle nicht singen. Er markierte die Gesangslinie, transponierte Teile davon eine Oktave nach unten und hörte in anderen Abschnitten einfach ganz auf zu singen. Wie Giulio Ricordi sagte: „Hamlet wurde ohne Hamlet aufgeführt“. Es war ein desaströser Abend, und Faccio ließ das Stück nie wieder aufführen. Tatsächlich wurde es seit jenem Abend an der Scala, dem 12. Februar 1871, nicht mehr aufgeführt.

Der einzige Grund dafür, dass es seither nicht mehr aufgeführt wurde, ist, dass außer dem autographen Manuskript des Komponisten kein Material vorhanden war. Entgegen der üblichen Praxis wurde von Ricordi nie ein vollständiger Klavierauszug des Werks angefertigt. Als ich also auf das Material stieß, musste ich es buchstäblich Note für Note aus dem autographen Manuskript der Gesamtpartitur abschreiben. Nachdem ich die Partitur transkribiert hatte, machte ich mich daran, einen Klavierauszug zu erstellen, so dass ich sofort hören konnte, wie die Musik klang.

.Ich denke, der einfachste Grund, warum das Werk seit 1871 nicht mehr aufgeführt wurde, ist, dass 1) Faccio es nie wieder spielen ließ und 2) es nach seinem Tod kein Material (Klavierauszug, Kopien der Gesamtpartitur, Orchesterstimmen usw.) gab, außer dem autographen Manuskript des Komponisten, das nicht für Aufführungszwecke bestimmt ist.

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„Amleto“: Das Ehepaar Tiberini sang die Uraufführung in Genua/Ipernity

Einige Bemerkungen zur Oper. Struktur, Anordnung der Stimmen und Figuren, musikalische Anmerkungen. Sie sind selbst Komponist (und haben italienische Wurzeln): Worin liegt für Sie der Reiz? Die Struktur des Werks lehnt sich sehr stark an Shakespeare an, ebenso wie die Figuren. Viele Nebenfiguren werden weggelassen (Osric, Rosencrantz und Guildenstern usw.), aber viele der kleinen Figuren werden beibehalten (Spielerkönig und -königin, Lucianus, Totengräber usw.). Wie ich bereits sagte, sind die Stimmen sehr typisch für die italienische Oper des 19. Der Held (oder Anti-Held) Amleto wird von einem Tenor gesungen. Die süße, unschuldige Ofelia – ein Sopran. Die ältere und weise Geltrude wird von einem reicheren, dunkleren Sopran gesungen (im Libretto ein „Mezzosopran“). Der böse König Claudio, ein hoher Verdi-Bariton, und der Spettro, ein Basso rofundo. Auch die kleineren Rollen machen Sinn: sowohl der Totengräber als auch Polonio werden von komischen Bässen gesungen, Hamlets Freunde Orazio und Marcello von Comprimario-Bässen und Laertes von einem Comprimario-Tenor.

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Einige Bemerkungen zu Faccio? Seine Stellung in Verdis Leben, als Dirigent von Aida und so weiter. Gibt es ein gutes Buch über ihn? Es ist schwierig, Informationen zu finden. Es gibt zwei Bücher über Faccio, beide von Raffaello de Rensis, eines heißt Franco Faccio e Verdi, das andere heißt L’Amleto di Franco Faccio. Beide Bücher enthalten einen Großteil des gleichen Materials. In seiner Jugend war Faccio zusammen mit Boito eine wichtige Figur in der Scapigliatura-Bewegung junger Komponisten, Schriftsteller, Künstler usw., die die italienische Kunst radikalisieren und aus ihren traditionellen Fesseln befreien wollten.

„Amleto“: Marco Tiberini war der Uraufführungssänger/DeRensis/Ipernity

Es gibt nur sehr wenige Werke der Scapigliatura-Kunst, die Einfluss hatten. Vieles davon waren Polemiken und Manifeste. Tatsächlich wurde Amleto als der beste Versuch eines solchen Beispiels angesehen, vor allem nachdem Boitos Mefistofele bei seiner Uraufführung ein solcher Reinfall war. Trotz ihrer antagonistischen Haltung gegenüber Verdi wurden sowohl Faccio als auch Boito später offensichtlich zu großen Bewunderern und Verfechtern von Verdis Musik. Im selben Jahr, in dem Amleto an der Scala ein Desaster war, leitete Faccio die italienische Erstaufführung von Aida an der Scala. Anschließend dirigierte er die Uraufführung von Otello (neben vielen anderen wichtigen italienischen Werken) und wurde sozusagen der erste Musikdirektor der Scala, der maestro scaligero.

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1871 ist ein spätes Datum für italienische Komponisten im konventionellen Stil, die Veristen stehen an der Schwelle – ich höre in der Musik viel vom zeitgenössischen Idiom von Gomes (Fosca nämlich): War das so oder wie sehr unterscheiden sich diese Komponisten voneinander? Verdi hat eine andere Richtung eingeschlagen, denke ich – aber das führt zu Catalani und Mascagni, oder? Ich denke, es gibt definitiv Nuancen des Verismo in der Musik. Besonders in der Musik von Amleto. Zwischen der Uraufführung 1865 und der Inszenierung an der Scala 1871 gab es viele Änderungen. Am auffälligsten ist dies bei der Arie „Sein oder Nichtsein“ von Amleto, die in der ursprünglichen Fassung viel deklamatorischer war. Wie ein ausgedehntes Rezitativ. Tatsächlich lautete die Kritik an der ursprünglichen Fassung, dass es „zu wenig Melodie“ und „zu viel Rezitativ“ gebe. Eine Kritik, die sich Faccio bei der Überarbeitung zu Herzen nahm. Aber selbst bei einer größeren Überarbeitung, wie der Wahnsinnsszene von Ofelia, behielt er die deklamatorische Qualität in der Vokalmusik bei, erweiterte aber die melodische Gestaltung im Orchester.

Er war ein brillanter Orchestrator und nutzte das Orchester eindeutig, um eine Stimmung zu erzeugen. Zum Beispiel hören wir im 1. Akt, Szene 2 auf dem Schloss von Elsinore, bevor wir Hamlet, Horatio und Marcellus sehen, 4 Solocelli (Schatten von Guillaume Tell und Vorboten des Liebesduetts im 1. Akt von Otello und des Abschnitts im 3. Faccio setzt das Orchester auch sehr wirkungsvoll in der Marcia Funebre im 4. Akt ein, die dem Drama zwischen der Komödie der Totengräber und der Konfrontation zwischen Laertes und Hamlet etwas Luft zum Atmen gibt. Es ist ein faszinierendes Stück, das für sich allein stehen kann, aber auch im Kontext des Dramas funktioniert.

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„Amleto“: Der junge Franco Faccio zur Zeit der Komposition/DeRensis/Sammlung Heinsen

Meine Ausbildung als Komponist hat mir bei der Aufbereitung dieses Materials in unschätzbarer Weise geholfen. Zum Beispiel waren viele Seiten des autographen Manuskripts verblasst. Aber ich fand heraus, dass, wenn ich den Bass und die Gesangslinie herausfinden konnte, der Rest relativ einfach war, wenn man der Logik der tonalen Harmonie folgte. Wenn ich in der Bratschenstimme nicht erkennen konnte, ob es sich um ein C oder ein B handelte, ich aber wusste, dass der Bass ein Ab war und der Tenor ein Es sang, war die Bratschenstimme höchstwahrscheinlich ein C, weil es die Terz des Akkords war. Solche Dinge wurden auf fast jeder Seite sehr nützlich. Der Reiz, eine italienische Oper aus einer der größten Perioden des italienischen Musikschaffens wieder aufleben zu lassen, und die Aussicht, dass sie möglicherweise eines Tages zum Standardrepertoire gehören wird, ist sehr aufregend.

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Karikatur Franco Faccios/Sammlung Heinsen

Einige Bemerkungen zur Edition, zur Realisierung, zum Projekt? Ich wurde zum ersten Mal auf eine italienische Hamlet-Oper mit einem Boito-Libretto aufmerksam, als ich im Winter/Frühjahr 2002 zum ersten Mal für die Sarasota Opera arbeitete. Im Jahr 2003 nahm ich Kontakt zu Gabriel Dotto auf, einem in Mailand lebenden Musikwissenschaftler, der früher für den italienischen Verlag Ricordi gearbeitet hatte. Ich hatte gehört, dass viele der Archive während des Krieges zerstört worden waren, und ich war mir nicht sicher, ob Ricordi das Autogramm von Amleto noch hatte. Er antwortete mir: „Wie das Glück (und eine ziemlich heldenhafte Anstrengung der Ricordi-Leitung vor sechzig Jahren) es wollte, wurden keine Autographen des historischen Archivs im Krieg zerstört, da die Sammlung heimlich an einen sicheren Ort gebracht wurde.“ (Obwohl die „Produktionskopien“ von Partituren, Leihbibliotheken usw. bei den Bombenangriffen verloren gingen).

Da Ricordi zu dieser Zeit ein neues Domizil in der Biblioteca Brera im Herzen von Mailand bezog, schickte er meinen Brief an Maria Pia Ferraris, die leitende Archivarin des neu eröffneten Ricordi-Archivs. Es stellte sich heraus, dass Ricordi tatsächlich einen Mikrofilm des Autographs besaß, und als dieser eintraf, begann ich mit der mühsamen Aufgabe, das Manuskript zu transkribieren. Zur gleichen Zeit fand meine Frau eine Kopie (ebenfalls ein Mikrofilm) von Boitos Libretto in der Performing Arts Library in New York. Das Libretto war besonders wichtig, da Faccios Handschrift schwer zu entziffern und die Qualität des autographen Manuskripts schlecht war. Der anerkannte amerikanische Musikwissenschaftler und Verdi-Experte Phillip Gossett war unglaublich großzügig und half mir, die handschriftlichen Eigenheiten der Partitur zu entziffern.

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Franco Faccio: zeitgenössische Karikatur/Sammlung Heinsen

Wie bereits erwähnt, war die Erstellung des Zusatzes ein mehrjähriges Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist. Nachdem ich das autographe Manuskript Note für Note auf Notenpapier transkribiert hatte (ein Prozess, der weit über ein Jahr dauerte), gab ich die gesamte Partitur in ein Notensatzprogramm ein. Danach fertigte ich eine Transkription einer Klavierpartitur an, um sie leichter verwenden zu können, und gab dann die gesamte Klavierpartitur in ein Notensatzprogramm ein. Danach verbrachte ich Jahre damit, Korrekturen vorzunehmen, Fehler zu finden, die beiden verschiedenen Libretti (1865, 1871) zu vergleichen und die Partitur generell zu überarbeiten. Als beschlossen wurde, dass wir das Werk an der Opera Southwest aufführen würden, begann ich mit der Anfertigung der Orchesterstimmen. Die Anfertigung der Orchesterstimmen förderte viele weitere Fehler in der Orchesterpartitur zutage, und das Durchspielen des Stücks am Klavier offenbarte Fehler im Klavierauszug.

Franco Faccio/Karikatur/Sammlung Heinsen

Was die Umsetzung des Stücks angeht, so haben wir 2004 das Trio des dritten Akts an der Sarasota Opera in einem Konzert mit ihren Apprentice Artists aufgeführt (mit Klavierbegleitung), und 2007 habe ich Ofelias Trauermarsch in einem Konzert mit dem Dallas Opera Orchestra dirigiert. Darüber hinaus sind mir keine weiteren öffentlichen Aufführungen dieser Musik in den Vereinigten Staaten bekannt. Unser Projekt im Oktober/November 2014 an der Opera Southwest war die amerikanische Erstaufführung der gesamten Oper. Bevor wir mit den Proben in Albuquerque begannen, haben wir ein Vorabkonzert der gesamten Oper mit der Baltimore Concert Opera in Baltimore Maryland gegeben. Diese Aufführungen haben mit Klavierbegleitung stattgefunden, ohne Inszenierung, ohne Kostüme, ohne Bühnenbild, etc. Nur der Gesang und das Klavier. Bei Opera Southwest haben wir dann 2014 die komplette Oper mit Orchester, Bühnenbild, Kostümen, Licht, Make-up, Inszenierung usw. aufgeführt (Amleto / Alex Richardson; Claudio / Shannon DeVine; Geltrude / Caroline Worra; Ofelia / Abla Hamza; Laerte / Javier Gonzalez; Polonio / Matthew Curran; Lo Spettro / Jeff Beruan; Orazio / Joseph Hubbard; Marcello / Paul Bower) an der Delaware Opera zudem 2016 (Joshua Kohl/ Amleto; Sarah Asmar / Ofelia; Tim Mix / Claudius,; Lara Tillotson / Geltrude; Matthew Vickers / Laertes; Ben Wager / Lo Spettro).
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Büste Faccios in seinem Heimatort Monza/Sammlung Heinsen

Ein paar Worte über den Komponisten: Franco Faccio (8. März 1840, 21. Juli 1891) war ein italienischer Komponist und Dirigent. Der in Verona geborene Faccio wurde als Dirigent der Musik von Verdi bekannt. Er studierte Musik in Mailand und begann nach seinem Abschluss eine Karriere als Komponist. Er schrieb die Opern I profughi Fiamminghi (Mailand, 1863) und Amleto (Genua, 1865), letztere eine der vielen Opern, die auf William Shakespeare’s Hamlet basieren. Beide Opern hatten weder bei den Kritikern noch beim Publikum Erfolg. Die für den Amleto komponierte Marcia Funebre gilt jedoch als ein wichtiges Beispiel für Faccios Lyrik. Seine Popularität wird durch die Transkriptionen für Blasorchester im späten 19. Jahrhundert deutlich. Noch heute kann man diesen Teil der Oper in Korfu während der Osterzeit hören, wenn die Kapelle der Philarmonischen Gesellschaft von Korfu ihn während der Epitaph-Litanei des Heiligen Spyridon am Morgen des Karsamstags aufführt. 1867 wurde Faccio Direktor des Mailänder Konservatoriums und 1872 wurde er zum Direktor des Mailänder Teatro alla Scala ernannt. Faccio dirigierte die Uraufführung von Verdis Otello (1887), in der seine langjährige Geliebte Romilda Pantaleoni als Desdemona, Francesco Tamagno als Otello und Victor Maurel als Jago mitwirkten. Er dirigierte auch die Londoner Erstaufführung von Otello, bei der Tamagno seinen Triumph als Mohr wiederholte. Zuvor hatte er bereits die italienische Erstaufführung von Aida (1872) und die Premiere der überarbeiteten Fassung von Simon Boccanegra (1881) dirigiert. Faccio starb in Monza im Alter von nur 51 Jahren. (Übersetzung G. H.)

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Dazu Matthias Käthers Ansicht zu CD und DVD aus Bregenz bei Naxos und C-Major: Faccio war ein wichtiger Verdi-Dirigent, er leitete unter andrem die erste italienische Aida und die Otello-Premiere, und er hätte sicher auch den Falstaff dirigiert, wenn er nicht zwei Jahre vor der Premiere an Krebs gestorben wäre – also ein gewiefter Verdi-Kenner, der sich wie kein anderer mit den Finessen des älteren Maestro auskannte. Und das merkt man seiner Hamlet-Oper auch an, die ganz auf typische Verdi-Kontraste setzt.

Doch ihn einen Epigonen zu nennen wäre ungerecht. Denn das Aufregende an Faccio ist, dass sein Hamlet in groben Zügen die Spätwerke Verdis vorwegnimmt. Vieles ist so radikal in diesem Werk von 1865, dass man es eigentlich in den 1880er oder 90er Jahre verorten würde. In der Tat gehörte Faccio zu einer kleinen wilden Gruppe, die zum Teil das vorwegnahm, was die Veristen um Mascagni und Leoncavallo 25 Jahre später umsetzten. Leider kam diese Gruppe damals mit ihren Ideen viel zu früh und war wenig erfolgreich. Übrigens gehörte auch ein junger begabter Dichter und Komponist dazu, der noch viel von sich reden machen sollte – Arrigo Boito. Und der hat auch das Libretto für diesen Hamlet verfasst. Das ist deswegen spannend, weil Boito später für Verdi auch zwei Shakespeare-Bearbeitungen schreiben sollte, Otello und Falstaff.

Die Hamlet-Premiere in Genua 1865 wurde freundlich aufgenommen, fand aber wegen der Radikalität der Oper keine große Resonanz im restlichen Italien, geschweige denn der Welt.  1871 war an der Mailänder Scala ein Revival geplant. Doch der Hamlet-Sänger war so schrecklich indisponiert, dass er nicht nur schlecht sang, sondern auch verbal überhaupt nicht zu verstehen war. Es gab ein gigantisches Fiasko, und Faccio war so verletzt, dass er nicht nur alle weiteren Aufführungen untersagte, sondern nie wieder eine Oper schrieb. Das Werk blieb vergessen, bis es der Musikwissenschaftler Anthony Barrese vor wenigen Jahren wieder ausgrub – und nach einer kleinen US-amerikanischen Premiere 2014 gab es die vielbewunderte europäische Erstaufführung bei den Bregenzer Festspielen 2016. Genau diese Produktion ist hier mitgeschnitten und verewigt worden. Die Inszenierung von Olivier Tambosi war ein großer Erfolg, und es wurde sogar die Vermutung geäußert, dass diese Oper demnächst eine Repertoireoper werden könnte.

Faccios Oper „Amleto“ in der deutschen Erstaufführung in Chmenitz/ Szene/ Foto Nasser Hashemi (Staatstheater Chemnitz 18 November 2018/ Produktion aus Bregenz 2016; Dirigent Gerrit Prießnitz; Hamlet Gustavo Peña ; Claudius Pierre-Yves Pruvot; Polonius Magnus Piontek; Horatio Ricardo Llamas Márquez; Marcellus Matthias Winter; Laertes Cosmin Ifrim; Ophelia Guibee Yang; Gertrude Katerina Hebelkova; Der Geist / Ein Priester Noé Colín; Der König Gonzago / Ein Herold Tommaso Randazzo; Die Königin Giovanna Ina Yoshikawa; Lucianus / Erster Totengräber André Eckert; Zweiter Totengräber Alexander Jahn; Chor der Oper Chemnitz; Robert-Schumann-Philharmonie

Ich bin da weniger optimistisch. Auch andere visionäre Opern jenseits des Verdi-Kanons wie Boitos Mefistofele oder Catalanis La Wally haben es nicht ins Repertoire geschafft. Hamlet hat schöne Momente – allerdings sind die meisten Einfälle auch nicht besser als die in Ambroise Thomas‘ Shakespeare-Oper, und sollte jemand die (längst fällige) Hamlet-Vertonung von Mercadante reanimieren, müssten wir auch noch über ein zweites Konkurrenzwerk nachdenken. Faccios Hamlet ist ohne Zweifel visionär, und grade als gut inszeniertes Spektakel wirkt das Werk stark. Allein schon wegen Boitos genialer Adaption, die sehr viel vom authentischen Shakespeare rettet, ist es hörenswert. Aber rein musikalisch wird Faccio wohl stets eine Assoziationskette zum Verhängnis, für die er nichts kann. Man fragt sich natürlich: was wäre das wohl für eine tolle Oper geworden, wenn Boito den Text nicht Faccio, sondern Verdi angeboten hätte! Man merkt dann doch, grade an den entscheidenden Stellen: es bleibt oft bei der aufgeregten Geste der großen Oper ohne echte Schöpferkraft, es fehlt manchmal an neuralgischen Stellen der Funke des echten Genies – wie etwa im berühmten Monolog „Sein oder Nichtsein“.

Hier haben wir den seltenen Fall, dass ein Werk nicht so sehr wegen der Interpretation unbefriedigend bliebt, sondern wegen der Musik. Erstaunlich, mit welcher Leidenschaft sich die Beteiligten in die Partien werfen, der Tscheche Pavel Cernoch ein bisschen auf den Spuren von Jose Carreras, aber im positiven Sinne und großem gestalterischen Eigenanteil, Claudio Sgura als schurkischer Baritonkönig voller Emphase und großem Pathos (den es auch braucht), Dsamihla Kaiser als Mutter Gertrude beeindruckend auf dem Weg zur Eboli in Verdis späteren Don Carlos. Die Romänin Iulia Maria Dan schlägt sich mutig mit der schwierigen Rolle der Ophelia herum, meist erfolgreich und stimmschön. Sehr beeindruckend auch die Energie von Paolo Carignani am Pult der Wiener Symphoniker. Hier wurde nichts falsch gemacht, und Verdi-Fans sollten sich das unbedingt anhören. Dennoch bleibt ein wehmütiges Gefühl: da haben wir Verdis Dirigenten und Verdis Librettisten, aber das ergibt leider noch keinen Verdi. Und der wäre vielleicht der Einzige, der aus dem Stück wirklich nicht nur eine schöne Oper, sondern eine Jahrhundert-Sensation gemacht hätte. Matthias Käther

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Foto oben: Edwin Booth als Hamlet 1860/Wikipedia; Links: http://anthonybarrese.com/biography/     http://anthonybarrese.com/projects/amleto-project/excerpts/ 

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

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Raffiniertes Kunstmärchen

 

Fast hundert Jahre nachdem Wagner Die Feen abgeschlossen hatte, legte Alfredo Casella seine ebenfalls auf Carlo Gozzis La donna serpente (Die Frau als Schlange, 1762) basierende Opera fiaba vor. Während Wagners erste Oper mehrere Jahrzehnte auf ihre erste Aufführung warten musste, gelangte Casellas Märchenoper im März 1932 auf die Bühne des Teatro Reale dell’ Opera in Rom, wo sich unter der Leitung des Komponisten und in der Inszenierung von Giovacchino Forzano u.a. Alessio de Paolis und Giovanni Inghilleri der in typischer Gozzi-Manier wie eine russische Matroschka verschachtelten Handlung annahmen. Es ist eine ziemlich unterhaltsame Oper, die zwei Jahre später nach Mannheim gelangte, doch dann selbst auf italienischen Bühnen (1942 an der Scala, 1982 in Palermo) eine ausgesprochene Rarität blieb. Im Rahmen eines „Festival Casella“ erinnerte 2016 das Teatro Regio in Turin unter Verwendung einer zwei Jahre zuvor beim Festival in Martin Franca gezeigten Inszenierung von Arturo Cirillo an die einzige Oper des 1883 in Turin geborenen (und 1947 in Rom gestorbenen) Casella , der wie Alfano, Malipiero, Pizzetti und Respighi der generazione dell’ottanta, also der Generation nach Puccini und den Veristen angehörte, die zumeist auf ältere italienische Musiktraditionen zurückgriffen. Zwar zeigte sich Casella in seiner Jugend von Wagner beeinflusst, aber La donna serpente wirkt in der wendigen Stilvielfalt, den hurtigen Rezitativen, den gewitzten Parlando-Einwürfen und den mehr als fünfzig kurzen Nummern, Minuten-Arien und Duetten, Terzett, Quartett und Quintett wie ein Zwilling von Prokofjews Gozzi-Oper Die Liebe zu den drei Orangen und in den zahlreichen Nummern der als Chorballett konzipierten Oper tatsächlich wie eine neoklassizistische Widerbelebung höfischer Divertissement-Opern.

In der Abkehr von Wagner oder Verdi finden sich in der Wiederbelebung klassischer Formen und Formeln Rossini-Reminiszenzen, aufrüttelnde Strawinsky-Rhythmik, puccineske Melodien für das Liebespaar, elegante Madrigalkunst, dabei farbig und bläserstark brillant instrumentiert, was Gianandrea Noseda und das Orchester des Teatro Regio lustvoll ausspielen, wozu nicht nur die Vorspiele zu jedem Akt, die Märsche, Tänze und Kampfszenen ausreichend Gelegenheit bieten; wie von der Liebe zu den drei Orangen gibt es von der Donna serpente eine Suite, frammenti orchestrali op. 50. Die drei Akte samt Vorspiel lassen trotz aller knalligen Rezitativ-Eile auch schmalen Raum für ernste Seiten und tiefe Gefühle. Das ist mehr als eine Farce. Arturo Cirillo mischt in seiner sehenswerten Inszenierung (Naxos 2.110631 DVD, mit einem informativen englischen Text von Ivan Moody) die Commedia dell’Arte-Aktionen mit stummen Spielern auf, halb Tänzer, halb Akrobaten, mit bloßem Oberkörper und in bunten Pluderhosen, die hier nicht nur neckisches Ornament sind, sondern die instrumentalen Momente, darunter den Traum des Altidòr, poetisch ausleuchten. Mit wehenden Mänteln, Turbanen, gerafften Röcken, Federkleidern, kunstvollem Haarputz und den Fantasiegewändern der Stegreifkomödie (Kostüme von Gianluca Falaschi) wird das sowohl märchenhaft illusionistische wie stilisierte Spiel zu einem raffinierten Kunstmärchen. Das ist durchgehend sehr hübsch anzusehen. Dario Gessatis Ausstattung mit ihren Kreisausschnitten und Halbbögen, den bläulichen Stimmungen und dem blutroten Mond (Licht: Giuseppe Calabrò) ist geschmackvoll, etwas plakativ vielleicht, im wahrsten Sinn des Wortes nicht sehr tief, was vermutlich den szenischen Gegebenheiten der Freilichtbühne beim Festival della Valle d’Itria geschuldet ist.

Es geht um die Menschwerdung der Tochter des Feenkönigs Demogorgón. Miranda hat sich in Altidòr verliebt, den König von Téflis, und ist dafür bereit, ihre Unsterblichkeit aufzugeben. So sei es. Unter einer Bedingung: Miranda darf dem Gatten ihre wahre Identität nicht enthüllen, und dieser darf sie nie verfluchen. Klappt das neun Jahre und einen Tag lang, wird Altidòr Miranda endgültig zur Frau erhalten. Andernfalls wird sie für 200 Jahre in eine Schlange verwandelt. Das wird im 20minütigen Prolog erzählt. Wir erinnern uns, dass Motive aus Gozzis Märchenspiele auch bei der Entstehung von Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten eine Rolle spielten. Die Handlung setzt genau neun Jahre später ein, während der Höflinge und Feen, Ungeheuer, Amazonen, Soldaten, Priester und Ammen mit falschen Vorspiegelungen an den Nerven des Paares zehren. Tatsächlich verflucht der König seine Gattin. Das Lamento der Schlangenfrau und ihr Wechselgesang mit dem Chor, Responsorio, zu Beginn des dritten Aktes gehört zu den umfangreichsten geschlossenen Nummern der Oper, zugleich zu den schönsten. Carmela Remigio, vielleicht etwas hart im gläsernen Feenton, kann in dieser Recitar Cantando-Szene („Vaghe stelle dell’Orsa“) als Miranda ihre stilistische Vielseitigkeit ausspielen und eine eindrucksvolle Figur erschaffen. Wie das für alle Beteiligten gilt, Pierro Prettis heldisch angespitzten, pathetisch schmachtenden König Altidòr, Erika Grimaldis kriegerische Schwester Armilia, Sebastian Catanas Demogorgòn-Bariton und die vielen Buffi wie Francesco Marsiglia als Alditrúf, Marco Filippo Romano als Albrigór, Roberto de Candia als Pantúl, Fabrizio Paesano als Tartagil, dazu Anna Maria Chiuri als Feen-Schwester Canzàde und Kate Fruchterman als Smeraldina. Natürlich können alle Unbill beseitig, alle Nebel gelichtet und alle Prüfungen bestanden und fast ein Meisterwerk bestaunt werden.  Rolf Fath

BAROCKE TRAVESTIE

 

Bei den zahlreichen Einspielungen und Aufnahmen barocker Arien kann sich bei aller Begeisterung manchmal eine gewisse Monotonie einstellen, Arie um Arie, Affekt nach Affekt, Nummer folgt Nummer. Dabei wußte man schon vor 300 Jahren um den Reiz (und die Ökonomie) des Pasticcios, bei der man Opern aus vorhandenem Material so zusammenstellen wollte, daß sich der Eindruck eines Ganzen einstellen sollte. Die Doppel-CD mit dem irreführenden Titel Baroque Gender Stories ist so eine Arienzusammenstellung, die man als Ganzes wahrnimmt, als eine gelungene Kombination barocker Musik unterschiedlichster Herkunft, der man 85 Minuten sehr gerne zuhört. Es gibt Musik und Arien aus Siroe in den Versionen von Johann Adolf Hasse, Baldassare Galuppi, Georg Christoph Wagenseil, Tommaso Traetta und Georg Friedrich Händel, der auch mit Deidamia, Serse und Alcina vertreten ist, Semiramide riconosciuta von Giovanni Battista Lampugnani und Antonio Porpora sowie aus Antonio Vivaldis Orlando furioso und Hasses Achille in Scirro. Mit Mezzosopranistin Vivica Genaux und Countertenor Lawrence Zazzo hat man zwei routinierte Sänger gewählt, bei denen man weiß, was man an ihnen hat. Der gemeinsame Nenner der Arien-Auswahl ist die barocke Travestie, es geht um Figuren, die etwas verbergen oder enthüllen wollen und um Arien mit ambivalenter Situation. In manchen der ausgewählten Opern gibt es Frauenrollen, die sich als Männer verkleiden (z.B. Emire in Siroe, Amastre in Serse, Bradamante in Alcina, Semiramide) sowie den als Frau verkleideten Achill (Deidamia bzw. Achille in Scirro) und manche Rollen wurde im 18. Jahrhundert variabel von einem Mann oder einer Frau gesungen. Genaux und Zazzo singen beide Prima Donna und Primo Uomo, in zwei Duetten übernimmt Genaux die Männerrolle, Zazzo die Frau. Die Travestie in der Barockoper geschah ursprünglich aus Gründen der Sittlichkeit. Daß Kastraten die Bühnen der Barockopern dominierten lag in gewisser Weise daran, daß manche kirchliche Würdenträger singende Frauen als unsittlich empfanden. Außerhalb Roms war das anders und als dann die Kastraten verschwanden, transponierte man für einen Tenor oder Frauen sangen in Hosenrollen. Diese Werke erzählen weder „Gender Stories“ noch geht es um Geschlechterrollen – die Besetzung der Rollen hat nichts damit zu tun, kastrierte Männer sind kein drittes Geschlecht, das Verbergen der wahren Verhältnisse war nur temporär, Verwechslungskomödien und Bühnenwerke, in denen sich Frauen als Männer verkleideten, thematisieren binäre Beziehungen. Als CD-Titel wäre wohl Baroque Travesty zutreffender gewesen. Ob man mit Gender Stories mehr Geld verdienen kann, sei dahin gestellt, wichtiger ist hier die überzeugende Qualität der Konzeption und Interpretation, die diese Aufnahme über den Durchschnitt erhebt und bemerkenswerte Arien kombiniert, bspw. das verweifelte „Rendimi l’idol mio“ Galuppis, Wagenseils leidenschaftliches „Esci, crudel. d’affanno“, Traettas düsteres „Che furia, che mostro“ sowie viele weitere Arien und Duette. Genaux‘ Mezzosopran und Zazzos Alt-Counter ähneln sich in der Stimmfarbe und tragen weiter zur Geschlechterverwirrung bei, wobei es für den situationsbedingten Ausdruck beim Zuhören allerdings kaum interessant ist, ob es sich nun um Hosen- oder Rockrolle handelt. Genaux‘ Stärke bei Ausdruck und Koloratur sowie Zazzos durchdachte Stimmführung harmonieren und Wolfgang Katschner erweist sich hier als idealer Taktgeber, er läßt seine Lautten Compagney Berlin oft extrovertiert bzw. quasi handgreiflich (Lampugnanis „Tu mi disprezzi“) aufspielen. Eine Doppel-CD mit Schwung und Leidenschaft die durch die Zusammenstellung jenseits von Arien- und Affektroutine auftrumpft (2 CDs, harmonia mundi, 19075943092). Marcus Budwitius

Kontrastprogramm

 

Wieder überrascht die katalanische Sopranistin Nuria Rial bei ihrer Stammfirma dhm mit einem Recital der besonderen Art. Nach dem Programm „Muera Cupido“, das auf diesen Seiten besprochen wurde, wartet sie nun mit einer Anthologie, betitelt Mother“, auf, in welcher Arien des Barock mit Arabischen Gesängen kombiniert werden (19075936412). Die Arien stammen aus Werken von Händel und Telemann, beginnend mit Rezitativ und Kavatine aus Händels Kantate  Il pianto di Maria, die eigentlich Giovanni Battista Ferrandini zugeschrieben wird. Die Stimme der Sopranistin entfaltet sich hier mit besonderer Klarheit, Schlichtheit und Gefühlstiefe. Davon profitiert auch die Arie des First Woman aus Salomon, „Can I see my infant gor’d“, welche die ergreifende Bitte einer Mutter beschreibt, die ihr Kind zurückhaben möchte.

In der Arie „Komm, o Schlaf“ aus Telemanns Germanicus will sich Agrippina, die Mutter Caligulas, samt ihrem Schmerz in tiefer Nacht vergraben. Das folgende Duett zwischen Nitocris und Cyrus aus Belshazzar, „Great victor“, das Frieden und Versöhnung verspricht, bietet die Überraschung der CD, denn die renommierte syrische Mezzosopranistin Dima Orsho, der die Arabischen Gesänge anvertraut sind, vereint sich mit Nuria Rial auch in diesem Händel-Duett – allerdings mit befremdlicher Wirkung. Bei den arabischen Titeln, so dem syrischen Lied zum Karfreitag „Wa Habibi“, klingt ihre Stimme angemessen herb und kehlig. Darüber hinaus ist Orsho auch eine bekannte Komponistin. Eigens für diese Veröffentlichung hat sie das dreiteilige Duett „Ishtar – The greater Mother“ komponiert. Besungen wird in den Abschnitten „The Oracle“,The Fertile“ und „The Transcendent“ die Mutter der arabischen Welt, „Göttin aller Göttinnen“ genannt. Reizvoll mischen sich hier traditionelle europäische mit arabischen Instrumenten.

Die beiden Sängerinnen werden begleitet vom Ensemble Musica Alta Ripa unter Danya Segal. Instrumentalstücke wie die Musette aus Händel Il pastor fido, die Ouverture aus Israel in Egypt oder das Tamburino aus Alcina bilden stimmige Überleitungen zu den einzelnen Mutterbildern. Bernd Hoppe

Hochzeitsnacht im Büro

 

Jeder wird fündig in dieser Glyndebourne-Version von Madama Butterfly. Hochbetrieb in Goros Heiratsvermittlung. Die GIs können aus einer großen Zahl von Bildern in den Karteikästen an der Wand wählen. Einer der GIs, die bis 1952 in Japan stationiert waren und laut eines Kriegsbräutegesetzes ihre ausländischen Ehefrauen zu Amerikanerinnen machen durfte, ist B.F. Pinkerton. Bei „Goro’s“ schaut er sich das von einem Filmprojektor auf die kleine Leinwand geworfene Angebot „Yanks Marry Japanese Maids“ ebenso interessiert an wie die Japanerinnen, die sich durch eine solche Heirat und die praktischen Instruktionen („Learning tob e an American Wife“) ihren Traum vom American way of life zu erfüllen hoffen. „America for ever“: da grüßt die Freiheitsstatue.

Die alten schwarz-weiß Filme (Video Design: Ian William Galloway), die auch dem Liebesduett jede Sentimentalität rauben, gehören zu den gelungensten Momenten der Inszenierung. Mit allen Uneben- und Tumbheiten, die sich aus der Verlegung der Handlung in Goros Heiratsvermittlung ergeben, der gegenüber sich neben dem Tattoo-Studio praktischerweise ein Hotel befindet, erzählt Annilese Miskimmon Puccinis Japanische Tragödie in Glyndebourne, wo ihre 2016 on tour ausprobierte Inszenierung 2018 die Erstaufführung des Werks beim Festival markierte. Die Aufnahme (Opus Arte Bluray OA 807166) entstand am 21. Juni. Dabei bleibt Miskimmons Inszenierung, für die Nicky Shaw das japanische Büro mit allen historischen Büroutensilien ausstattete, reichlich hergebracht, wenngleich die irische Regisseurin zeigt, dass es sich nicht um ein Einzelschicksal handelte, wodurch der im dritten Akt von seinen Gefühlen übermannte Pinkerton nicht ganz als der skrupellose unsympathische Draufgänger erscheint. Er macht’s wie alle. Letztlich ein Geschäft mit Vorteil für beide Seiten, erhielten die ausländischen Ehefrauen der GIs doch durch den Bund die begehrte amerikanische Staatsbürgerschaft. Doch Pinkerton hat gar nicht die Absicht, seine Braut mitzunehmen, obwohl er ihr vor der unromantischen Hochzeitsnacht im Büro ein hübsches Kostüm schenkt. Also richtet sich Butterfly richtet sich in ein amerikanisches Puppenhaus ein.

Bereits 1983 hatte Ken Russel eine ähnlich amerikakritische Auffassung in seiner in den späten 1930er Jahren kurz vor Pearl Harbor spielenden und mit der Atombombe auf Nagasaki endenden Inszenierung geteilt, wobei seine theatralisch ungleich spannendere und krassere Umsetzung nicht die gebührende Aufmerksamkeit fand, da sie am Rand des Opernlebens beim Spoleto Festival in Amerika und Italien gezeigt wurde. Glyndebourne hat dafür die besseren Sänger. In der Titelrolle setzt Olga Busuioc in die Fußstapfen ihrer moldawischen Landmännin Biesu, die in den 1960er Jahren einen Preis als beste Cio-Cio-San errang. Busuioc ist im ersten Akt stimmlich noch ein bisschen flach, singt aber dann aber mit Beginn des zweiten Aktes mit großer Leidenschaft, Emphase, auch Brillanz, etwas spitz und scharf in „Un bel di vedremo“, doch üppig in „Trionfa il mio amor“ und mit zunehmender emotionaler Hingabe und Pathos, die rühren. Das ist Busuiocs Show. Joshua Guerreros Pinkerton sieht auf die Ferne ein bisschen aus wie Travolta, er singt mit Druck und Geradlinigkeit, gleicht fehlende Süße und spezifisches Timbre durch sensible Töne und gesteuerte Leidenschaft aus und punktet durch die Inbrunst, mit er vom „Fiorito asil“ Abschied nimmt. Vielleicht kommt im Duett auch noch keine richtige Stimmung auf, da sich Goro im Hintergrund herumtreibt und Geldscheine zählt,

Der Bassbariton Michael Sumuel scheint als Sharples nicht richtig besetzt, dafür ist die amerikanische Mezzosopranistin Elizabeth DeShong eine stimmlich geradezu luxuriöse, sehr fein klingende und behutsame Suzuki, und Carlo Bosi gibt dem Goro eine herrlich feiste Fratze. Omer Meir Wellber hält das streng klingende London Philharmonic Orchestra an den gefährlichen Stellen zurück, steuert aber bei den Bildern von einer Schiffsüberfahrt zu Beginn des zweiten Aktes Puccinis Melos pathetisch aus, verleiht dem Summchor eine schöne Melancholie und gibt der Musik ansonsten eine nüchterne Dringlichkeit.

Im zweiten Akt hat Cio-Cio-San den amerikanischen Lebensstil völlig angenommen, trägt offenbar ihr Hochzeitsgeschenk, ein türkisfarbenes Kostüm, und schminkt sich wie eine amerikanische Hausfrau. Überhaupt ist im Häuschen, dessen Rückseite wie eine Schwibbogen-Sägearbeit aussieht, alles in bester amerikanischer 50er Jahre Nüchternheit eingerichtet. Einschließlich der amerikanischen Flagge. Nur beim garstigen Goro fährt die sittsame Hausfrau aus der Haut und attackiert ihn mit ihren Absätzen. Wie ein Operetten-Husar wirkt Simon Mechlinskis unterbesetzter Yamadori, reizend ist der kleine Rupert Wade als Sorrow, im Kostüm mit Hütchen und Handtasche – allerdings in rot – wie eine Doppelgängerin Cio-Cio-Sans erscheint die toughe Kate von Ida Ränzlov. Aber Miskimmon schärft die Tragödie nicht weiter zu, setzt in den gesofteten Farben auf der Bühne die Ästhetik ähnlich gearteter Film-Melodramen fort.  Rolf Fath

Von der Kunst der scheinbaren Leichtigkeit

 

Nur absoluten Fans wird die große Elisabeth Schwarzkopf auch als Operettensängerin in Erinnerung sein, gilt sie doch als die Liedersängerin ihrer Generation und darüber hinaus als Mozart- und Strauss-Interpretin par excellence. Aber die herrlichsten und verführerischsten Operetteneinspielungen, komplett und einzeln-arig, sind unter den frühen Aufnahmen der Sängerin zu finden, namentlich unter Otto Ackermann in den Fünfzigern in London mit einem vom Ehemann Legge handverlesenen Ensemble. Dazu kam die die Fledermaus unter Herbert von Karajan 1955. Neben der wunderbaren und hochsuggestiven Einzel-Arien-Operetten-LP/CD mit solchen Perlen wie Giuditta, Der Vogelhändler, Die Dubarry, Casanova u. a. (von 1959, alle Columbia) sind es die Gesamtaufnahmen der Fünfziger, Der Zigeunerbaron, Die Lustige Witwe (I)Das Land des Lächeln, Die Fledermaus  sowie Eine Nacht in Venedig (ach dies köstliche „Frutti di mare..“), auf denen das ganze Talent des unerreicht Scheinbaren sichtbar wird (Die Lustige Witwe von 1963 unter Lovro von Matacic ist da schon recht reif und nicht mehr so spielerisch, man nimmt mehr an der harten Arbeit teil).

Das DELBARRE Abendkleid von Elisabeth Schwarzkopf: Abend- oder Ballkleid aus gelber Moiré-Seide, ca. 1897. Londoner Label: (Frau) „Delbarre, Elizabeth Street, 73. Eaton Square“, ca. 1897; getragen von Elisabeth Schwarzkopf, abgebildet in „The Woman in Fashion“, 1949 von Doris Langley-Levy Moore,  bei Batsford; 1St Edition edition (1949);  LXXI und LXXII, Seite 132 / in Antique Gown/ s. auch  Amazon; Joseph A. Admire schreibt: The hook for this long-out-of-print book is that the vintage fashions, mainly from the 19th century, are modelled by the British celebrities of the day. Thus, you get luminaries such as Vivien Leigh and a young Vanessa Redgrave dressed in the height of Regency, Victorian, Edwardian and flapper costumery. Numerous high-quality full-page photos in B&W (photographed by Felix Fonteyn, husband of Margot Fonteyn, who also appears as one of the models). Every outfit is accompanied by a page-length discussion. Highly recommended as a fashion and classic-film collectible!

Kunst ist Können und nicht Realität – die Schwarzkopf macht uns glauben, sie sei diejenige selbst, deren Arien und Couplets sie singt. In diesem Moment ist sie die fremde Rolle, die mit ihr als reale Person herzlich wenig zu tun hat. Sie verfügt über das Geheimnis, uns eine lebendige Gestalt vorzustellen, die in diesem Moment der Präsentation (und die war ganz sicher keine spontane, sondern hart erarbeitete) uns völlig überzeugt und gefangen nimmt. Sicher, mancher würde andere vorziehen – ich z. B. Sena Jurinac als Saffi, die erdiger und „realer“ scheint. Und der Schwarzkopf wird immer wieder ihre „Manier“ vorgeworfen, eine gewisse „Zickigkeit“ – was blanker Unsinn ist, denn die künstlerischen Ausdrucksmittel eben dieser Sängerin führen zu eben diesem, für mich wie für viele, überzeugenden Ergebnis. Das gilt auch für andere operettennahen Rollen wie ihre hochpersönliche Arabella und selbst für die recht späte und nur durch die Absage von Maria Callas zustande gekommene Giulietta (Les Contes d’Hoffmann  von 1965 unter Cluytens), die noch einmal (und auch da für mich unerreicht) von ihrer großen Kunst der scheinbaren Sinnlichkeit profitiert.

Nachstehend haben wir – apropos Offenbach und sein Jubiläumsjahr 2019 (gewiss ein etwas angestrengtes á propos) – ein Gespräch „ausgegraben“, das Schwarzkopf-Kenner Thomas Voigt mit ihr zum Thema Operette geführt hat und das im März 1995 in der Opernwelt erschien. Es gibt noch einmal die immense Einsicht dieser großen Sängerin in ihre Kunst wider. Danke Thomas für den Text!

 

Elisabeth Schwarzkopf: die Operetten-LP bei Columbia

Frau Schwarzkopf, Sie haben einmal gesagt: Eine Operette gut aufzuführen, ist beinahe noch schwieriger als eine Mozart-Oper. Was macht denn das Leichte so schwer? Operette verlangt viel mehr Improvisation. Das heißt, dem Zuhörer soll alles improvisiert erscheinen, aber es darf natürlich niemals improvisiert sein. Und dazu braucht man vor allem einen erstklassigen Dirigenten, der dem Sänger Freiheiten läßt, der diese Rubato-Kunst, dieses „give-and-take“ beherrscht. Einer, der das fabelhaft gekonnt hat, war Otto Ackermann, mit dem wir den Großteil unserer Operetten-Aufnahmen gemacht haben. Wir Sänger durften uns Freiheiten herausnehmen, mußten aber immer im Rahmen bleiben. Und das ist halt die große Kunst: genau zu wissen, wie weit die Freiheit gehen darf.

 

Diese Aufnahmen, die ihr Mann Walter Legge in den 50er und 60er Jahren produziert hat, gelten nach wie vor als Maßstab. Es sind überaus feinsinnige, kunstvolle Interpretationen – vielleicht sogar Verfeinerungen der Stücke. Nein, nein, diese Qualität steckt schon in den Stücken; es steht alles da, man muß es nur herauslesen. Und selbstverständlich haben wir Operette mit derselben Sorgfalt – auch mit derselben Technik – gesungen, mit der wir Mozart und Strauss gesungen haben. Jedenfalls haben wir uns bemüht, unsere Partien mit der größtmöglichen vokalen Eleganz abzuliefern. Das können Sie auch in den sogenannten Buffopartien hören, die sonst oft in den Sprechgesang abrutschen. Das hat bei uns der Erich Kunz gesungen, und er hatte nun wirklich eine bildschöne, sinnliche Stimme.

 

Also könnte jeder gute Mozartsänger auch mit Erfolg Operette singen? Oder braucht man nicht doch „das gewisse Etwas“? Natürlich muss der Witz, die Ironie und all das, was zwischen den Noten steht, dauernd anklingen. Das war ja bei den Aufnahmen unser Bestreben: An Ausdruck hörbar zu machen, was man sonst eher nur im Gesicht und in der Gestik sehen würde – so dass man die Figuren vor Augen hat, wenn man sie nur hört. Eine klangliche Dramaturgie vor dem Mikrophon, das war das ZieI. Und das heißt nicht, dass da etwa eine Stimme zurechtfrisiert wurde. Mein Mann wollte immer, dass jede Stimme so klingt, wie sie live in einem Haus mit sehr guter Akustik gehört wird. Und da können Sie zum Beispiel auf den Aufnahmen hören, dass meine Stimme gar nicht riesig war.

 

Elisabeth Schwarzkopf: LP-Ausgabe des „Land des Lächelns“/ Columbia

Hätten Sie die Rosalinde oder die Lisa in Lehárs Land des Lächelns denn auch live singen können – und wollen? Die Rosalinde hätte ich schon gerne auf der Bühne gesungen, mit einem Dirigenten, der die Möglichkeiten meiner Stimme hätte einschätzen und das Orchester durchsichtig machen können. Da kommt es eben darauf an, daß der Dirigent weiß, bei welchen Stellen und in welcher Lage der Sänger Gefahr läuft, vom Orchester zugedeckt zu werden.

 

Braucht man für die Lisa nicht fast schon eine Tosca-Stimme? Nicht ganz. Man kann sie schon mit einer schlanken, biegsamen Stimme singen. Viele große Operetten-Sängerinnen haben ja in der Oper das Repertoire von der Susanna bis zur Gräfin gesungen haben. Nehmen Sie zum Beispiel Esther Rethy, die eine wundervolle Sophie im Rosenkavalier war und die später dann das große Operetten-Fach gesungen hat.

 

Lehárs erste Lisa war Vera Schwarz, die unter anderem eine Lady Macbeth singen konnte. Und sie konnte auch Mozart singen. Aber das ist eine große Ausnahme. Und ich glaube, dass es nicht so sehr auf die Größe der Stimme ankommt wie auf den Umfang. Denken Sie zum Beispiel an den Csárdás der Rosalinde. Da gibt es wohl kaum eine Sängerin, die sich nicht davor fürchtet – weil man außer der Höhe auch eine grundsolide Mittellage und eine klingende Tiefe braucht.

 

Elisabeth Schwarzkopf: „Eine Nacht in Venedig“/ Columbia-LP

Haben Sie überhaupt jemals Operetten auf der Bühne gesungen? Nur in meinen Anfängerjahren in Berlin. Da war zum Beispiel die Arsena im Zigeunerbaron, wo ich als Einlage den Frühlingsstimmenwalzer singen durfte. Und ich glaube, ich habe auch einmal die Adele gesungen.

 

Spaß ist für Sie ein Reizwort. Aber gehört nicht die Freude, die Lust am Singen bei der Operette einfach dazu? Nein, die Freude kommt immer erst hinterher, wenn es einem gelungen ist, dem Stück gerecht zu werden. Ich habe nur ein einziges Mal in meinem Leben mit Freude gesungen, und das in Così fan tutte unter Josef Krips in Chicago. Selbstverständlich müssen Sie die Freude, die Lust, das Lachen und das Lächeln in die Stimme legen können – aber das ist etwas ganz anderes. Die Lust am Singen ist eher den Italienern, den Spaniern und den Slawen gegeben – aber nicht uns Nordeuropäern. Und das kommt sicher von der Sprache her.

 

Ihre Operetten-Aufnahmen haben im Ausdruck. vor allem eines: Ironische Distanz. Diesen etwas süffisanten, raffinierten, ironischen Ton, den man für die Operette unbedingt mitbringen muß, hatte ich auf Platten von Fritzi Massary und Yvette Guilbert gehört.

 

Elisabeth Schwarzkopf: auf mehreren Schellacks der Querschnitt vom „Wiener Blut“ mit Rupert Glawitsch und den Kräften des Deutschen Opernhauses Berlin unter Walter Lutze bei Telefunken

Die aber in Stimme und Ausdruck. ganz anders waren: chansonhaft, fast kabarettistisch. Natürlich haben Sänger dieser Generation ihre Stimme anders eingesetzt, als wir sie dann später eingesetzt haben, aber sie hatten eine grundlegende Stimmschulung. Was ja auch notwendig war, denn sie haften ja täglich auf der Bühne zu singen – und ohne Mikrophone, wohlgemerkt. Und natürlich auch ohne klammheimliche Verstärkung seitens der Tontechnik, wie es heute in manchen Opernhäusern fast schon an der Tagesordnung ist – ein Betrug am Publikum, für den ich keine Worte finde. Das ist ein Verlust an Integrität, wie er schlimmer nicht sein kann.

 

Was sind, außer der Improvisationskunst, für Sie die Kriterien für eine gute Operetten-Aufführung?  Ein Schlüsselbegriff ist sicher „Geschmack“ – leider ein Wort, das aus dem heutigen Sprachgebrauch fast verschwunden ist. Dazu könnte man einiges sagen. Doch auf Regisseure und Inszenierungen will ich in diesem Zusammenhang lieber nicht zu sprechen kommen. Wenn Sie Glück haben, werden Sie für eine Operetten-Produktion schon noch einen großen Dirigenten und auch geeignete Sänger finden; aber in erster Linie brauchen Sie einen großen Regisseur, der das Können hat – und eben Geschmack. Wie zum Beispiel Giorgio Strehler. Von dieser Qualität müßten Operetten-Inszenierungen sein.

 

Elisabeth Schwarzkopf: die späte „Lustige Witwe“ von 1963 bei EMI, vom Coverfoto oben ein Ausschnitt

Nun läßt sich nicht immer alles so dezent und diskret zeigen. Nehmen Sie den zweiten Akt der Fledermaus: Müßte da nicht ein Regisseur etwas deutlicher werden, indem er zeigt, was da mit den braven Bürgern passiert? Ach, so viel passiert auf dem Ball ja gar nicht. Natürlich ist da die große Verbrüderung am Schluß – aber da spricht eben die Musik die Hauptsprache, und in der Musik ist wirklich nichts Obszönes drin.

 

Und. was ist mit Zweideutigkeiten wie in Fritzi Massarys Aufnahme von „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“? Da besteht der Reiz gerade in der Andeutung. Und das ist für mich fast das Hauptkriterium für eine gute Operetten-Aufführung: Andeuten – und nicht mit dem Holzhammer arbeiten. Da kann ich nur mit Hofmannsthal sagen: „Und in dem wie, da liegt der ganze Unterschied.“

 

(aus: Opernwelt, März 1995; mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion Opernwelt)