Archiv für den Monat: Mai 2018

Letzte Rose

 

Mit einer Verspätung von acht Jahren erschien eine zwischen 7. und 9. Juni 2009 aufgezeichnete Produktion des Opernhauses Chemnitz bei cpo (777 500-2): Hans Pfitzners selten gespielte Oper in zwei Akten Die Rose vom Liebesgarten. Tatsächlich gehört dieses 1901 in Elberfeld uraufgeführte Werk zu einer der fünf Opern des nicht unumstrittenen Komponisten, von denen sich einzig Palestrina einigermaßen im Standardrepertoire halten konnte. Bereits die Entstehungszeit (komponiert zwischen 1897 und 1900) ortet sie im Fin de siècle ein.

So kurios (um nicht zu sagen abstrus) die Handlung aus heutiger Sicht auch anmuten mag – für das Libretto war James Grun verantwortlich –, sind die wagnerischen Einflüsse doch offenkundig. Thematisiert wird gleichsam der Widerstreit zwischen Himmel und Hölle, der beiden Hauptprotagonisten das Leben kostet, aber doch endlich zu einer wundersamen Auferstehung durch die im Titel genannte Rose führt. Trotz der unübersehbaren Vorbildwirkung des Bayreuther Großmeisters findet Pfitzner doch zu einem eigenen Stil, verschließt sich zeitgenössischen modernen Strömungen mitnichten und straft seine Kritiker, die ihn später einen Erzreaktionären heißen sollten, Lügen. Gar ein gewisser französisch-impressionistischer Einfluss ist zu verspüren – im Zeitalter des Wilhelminismus, in welchem Frankreich als Erbfeind schlechthin galt, nicht unbedingt selbstverständlich. Freilich, bereits 1904 bezeichnete der französische Komponist Gustave Charpentier das Sujet des Werkes allerdings trotzdem als zu keusch, um wahrhaft dem seinerzeit aufblühenden naturalistisch-veristischen Operngenre in Frankreich und Italien zugerechnet zu werden.

Für die Diskographie ist diese Einspielung von kaum überschätzbarem Wert, handelt es sich doch tatsächlich um die erste Komplettaufnahme in Stereo. Dass cpo der Studioproduktion den Vorzug vor dem Chemnitzer Premierenmitschnitt von 2008 gab, darf als vorteilhaft gelten. Die gesanglichen Leistungen sind insgesamt absolut adäquat, wobei der Tenor Erin Caves als Siegnot besonders herausragt. Als sein weibliches Gegenstück agiert die Sopranistin Astrid Weber als Minneleide. Der Bassist Kouta Räsänen gibt als Nacht-Wunderer den Bösewicht. Die restliche Besetzung präsentiert das gute Niveau des Ensembles des Theaters Chemnitz. Tadellos der von Mary Adelyn Kauffman einstudierte Chor und Kinderchor der Oper Chemnitz. Der damalige Generalmusikdirektor Frank Beermann, der sich als Dirigent bereits längst einen Namen gemacht hat, spornt die Robert-Schumann-Philharmonie an und liefert ein Plädoyer für diese Oper. Somit wird auch Max Regers („ganz großes, herrliches Werk“) und Gustav Mahlers („Seit der Walküre, erster Akt, ist etwas ähnlich Großartiges nicht geschrieben worden!“) Respekt vor demselben nachvollziehbar.

Warum aber konnte sich Die Rose vom Liebesgarten nicht dauerhaft im Repertoire halten? Da mag vor allem die doch etwas krude Handlung benannt werden. Auch Pfitzner selbst war sich der Schwächen des Librettos durchaus bewusst, wie der seinerzeitige Karlsruher (und spätere Münchner) GMD Joseph Keilberth 1937 festhielt: „Namentlich im II. Akt (Nachwunderer-Szene) macht er [Anm.: Pfitzner] sehr ausgedehnte Striche, die ich von seiner Hand noch besitze.“ Selbst der enthusiastische Mahler nahm Kürzungen im Orchestervorspiel vor.  Und doch dienten diese changierenden Klangfarben später Komponisten wie Anton von Webern, Alban Berg und Arnold Schönberg als Vorbild. Man könnte also fast meinen: Die Fachwelt war sich stets des Wertes dieser Pfitzner-Oper bewusst, einzig das Publikum erkennt diesen (letztlich bis heute) mitnichten. Die insgesamt sehr gelungene cpo-Produktion trägt ihren Teil dazu bei, hier ein Umdenken anzuregen. Daniel Hauser

„Let´s misbehave“

 

Viele große Opernsänger packt im Laufe ihrer Karriere die Lust, Seitenpfade zu betreten und mal was anderes zu singen. Zum Beispiel Jazz oder Musical. Nicht immer sind diese Ausflüge von Erfolg gekrönt. Jetzt hat sich Mezzosopranistin Magdalena Kožená an ein Cole Porter-Album gewagt. Ein Heimspiel. Dieses Album ist in Tschechien entstanden, wo Magdalena Kožená viel von ihrer Strenge abschütteln kann – sie ist hörbar zu Hause. „Let´s Misbehave“ – wenn sie diesen Porter-Song singt, spürt man die Selbstironie – sie probiert es halt mal aus mit dem Danebenbenehmen, ausgerechnet sie, die Meisterin der Selbstdisziplin. Es will nicht immer gelingen – aber manchmal schon. Und dann sind alle glücklich: Die Sängerin, das Ensemble und der Hörer, der hier mit dem abgefahrensten Kožená-Album ihrer bisherigen Karriere gewiss keinen Fehlkauf begangen hat.

Amerika mit einem Touch Brno. Sehr charmant. Überhaupt war es eine kluge Entscheidung, die ausgezeichneten Melody Makers für die Zusammenarbeit zu wählen und kein großes klassisches Orchester. Die sind so genial, dass sie manchmal die Kožená in den Hintergrund spielen – diese Big-Band ist schon mal die halbe Miete. Jetzt kann nicht mehr viel schiefgehen. Außerdem hat man historische Jazz-Instrumente gewählt und sehr schöne Arrangements aus Porters Zeit, oder doch zumindest welche im Stil der 30er- und 40er-Jahre. Die Songs werden mehr in die Richtung ihrer Originalpräsenz in den Musicals gerückt – spätere allzu verjazzte Varianten bleiben die Ausnahme. Vermutlich zur Enttäuschung manch eines Jazz-Fans, der dieses Album wohl mit spitzen Fingen anfassen wird wegen des klassischen Beigeschmacks. Doch man darf nicht vergessen, dass unser Bild von Cole Porters Musik heute verzerrt wird durch die späten Adaptionen solcher Ikonen wie Frank Sinatra oder Ella Fitzgerald – die Originalkompositionen waren oft für Sänger und Sängerinnen mit gut ausgebildeter Operettenstimme: Irene Bordoni oder Gertrude Lawrence, um nur zwei zu nennen. Magdalena Kožená klinkt sich in diesen Stil ein, erinnert in den besten Momenten beglückend an die Lawrence und schlägt sogar einige Original-Porter-Sängerinnen wie Lisa Kirk (die erste Bianca in „Kiss me Kate“) um Längen.

Sicher – nicht jede Nummer gelingt ihr gleich gut, und manches Arragement ist Geschmackssache. Beispielsweise hätte mir bei „I’ve got you under my Skin“, da der Song ja ursprünglich für eine hohe Frauenstimme komponiert war (Virginia Bruce 1936), die leise lyrische Originalversion besser gefallen als die Annäherung an die überschätze lärmende Fassung von Sinatra. Man spürt – das ist ein liebevolles Experiment. Was gäbe ich darum, wenn Frau Kožená ins Labor zurückkehrte, um aus einem großartigen Versuch mit kleinen Anfangerschwächen ein ausgereiftes Produkt zu machen. Dann vielleicht mit Irving Berlin oder George Geshwin… (Magdalena Kožená, Ondrej Havelka & His Melody Makers, Brnofon BRF001-2). Matthias Käther

Henri Rabauds „Mârouf“

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Endlich kommt sie doch, die Karawane, auf die Mârouf nie zu hoffen wagte. Sie war nur ein Trick, um in Khaitan und beim dortigen Sultan als reicher Kaufmann Eindruck zu schinden. In Kairo gab es für den armen Flickschuster kein Halten mehr, nachdem ihn die zänkische Gattin Fattoumah beim Kadi wegen angeblicher Brutalität verleumdete und man ihm die Bastonade gegeben hatte. Und das alles nur, weil er ihr statt eines Kuchens mit Honig einen mit Zucker brachte. Mârouf schließt sich Schiffsleuten an, schippert den Nil hinunter, führt sich dank der Überredungskunst seines Jugendfreundes Alt glänzend beim Sultan ein und heiratet dessen Tochter Saamcheddine. Man stattet ihn reich aus, leert für den reichen Schwiegersohn die Schatzkammern. Nur die Kamele und mit ihnen die Reichtümer treffen nie ein. Mârouf gesteht Saamcheddine seinen Schwindel, sie findet das nicht weiter schlimm, da sich beide aufrichtig lieben, und flieht mit ihm vor dem leicht beunruhigten Vater und seinem geifernden Vizir. Wir wären nicht in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht, wenn es für das kleine Problem nicht eine Lösung gäbe. Ein Zaubergeist erscheint, erfüllt Mârouf ein Wunsch. In allerletzter Minute, als die Mamelucken bereits die Säbel wetzen, um ihn und Ali zu köpfen, erscheint die Karawane. Die Zweifler sinken in den Staub, alle preisen Allah.

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Rabauds „Mârouf“ an der Opéra-Comique/ Szene/ Foto Photo wie auch oben : Vincent Pontet

Zwei Monate vor Ausbruch des Ernsten Weltkriegs war Henri Rabauds Mârouf, Savetier de Caire die späte Blüte eines Orientalismus, der in Frankreich von Rameaus Indes galantes bis zu Lakmé und Les pêcheurs des perles Tradition hatte und sich um Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt der Kolonisation in den algerisch, maurischen, arabischen Raum verlagerte, etwa mit Félicien Davids Sinfonie Le désert,. Reyers Poem Le Sélam, Lalos Ballett Namouna und vielen anderen erlebten oder erdachten musikalischen Reisebeschreibungen. Als die Zeiten der Märchen vorbei schienen, bildet Mârouf als durchkomponierte komische Oper eine Ausnahme, so federleicht und witzig der Text von Lucien Népoty, so großartige die Musik, die man, wie jetzt an der Opéra-Comique, unter Marc Minkowski gehört haben muss, um sie in ihrer Schönheit und Sinnlichkeit zu schätzen. Die vorhandenen CDs wirken vergleichsweise farblos und blutarm. Der malerische Orientalismus hielt sich noch in der Zwischenkriegszeit tapfer auf den Bühnen. An der Opéra wurde Mârouf 1928 gegeben, wo Georges Thill die von Jean Périer, der auch der erste Pélleas war, kreierte Titelpartie übernahm, woraus wir ersehen, dass sie sowohl mit einem Tenor wie einem hohen Bariton, Bariton-Martin, besetzt werden kann.  Bereits 1917 war die Oper in New York unter Pierre Monteux mit Giuseppe de Luca und Frances Alda erklungen, 1929 dirigierte sie Franz Schalk in Wien. Später wurde sie in die Provinz abgedrängt, wo Mârouf 1975 in Nantes (wovon es eine CD gibt), 1981 in Straßburg und 2000 in Marseille gespielt wurde.

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Rabaud, ein Großneffe der Meyerbeer-Halévy-Auber-Sängerin Dorus-Gras, war Schüler Massenets, errang 1894 mit einer Daphne den Rom-Preis, wirkte ab 1904 als Dirigent an der Opéra-Comique, später auch an der Opéra und hatte 1918/19 nach Karl Muck und vor Pierre Monteux die Chefposition beim Boston Symphony Orchestra inne. 1920 schließlich wurde er als Nachfolger Faurés Direktor des Pariser Conservatoire. Als einer der ersten schrieb er 1924 und 1927 Musik für zwei Filme. Das hört man bereits seinem Mârouf an, wird mancher sagen. Tatsächlich wirken die manchmal in reine Vokalisen sich auflösenden Gesangsmelismen, die illustrative, stimmungsvolle arabischen Buntheit, die niemals vordergründig ist, wie ein Soundtrack zum Kalif von Bagdad. Pentatonik und ein rhythmisiertes Sprechsingen à la Pélleas sind weitere Kenzneichen der Partitur,  durchzogen vom französischen Wagnerisme, der aufgrund der Hurtigkeit, des bizarren Humors und der grotesken Wendungen des Fünfakters nie öde wird.

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Langweilig wird es in der Inszenierung des Opéra-Comique-Chefs Jérôme Deschamps ohnehin nicht. Wie Onkel Jacques Tati weiß er, wie man aus schlichten Situationen komödiantische Funken schlägt, dabei in der Regel geschmackssicher und subtil bleibt. Was anderes als ein Bilderbuch lässt sich bei dem Werk aufschlagen. Leicht scheint es sich Olivia Fercioni mit ihren Spielhäuschen und Pappwürfeln zu machen. Das das reicht aber völlig aus, um mit wenigen Strichen das Armenviertel in Kairo, den Sultanspalast oder die Wüste zu skizzieren, denn Vanessa Sannino greift bei den Kostümen in die Vollen, setzt auf die aufgetürmten Turbane immer noch ein charakterisierendes Accessoire drauf, beispielsweise einen Fuchs bei intriganten Vizir, bläst die Mamelucken zu Popanzen auf und gibt dem Sultan und seiner Tochter eine Kopfbedeckung und ein Kleid so riesengroß und seidig aufgeplustert, als wollen sie gleich wie ein Ballon abheben. Türkisfarbene Odalisken, Eunuchen, Marktbetreiber, Muezzin, possierliche Esel, spuckende Kamele, ein Hamam und die Sphinx – alle sind da. Eine liebevolle Parodie.

Rabauds „Mârouf“ an der Opéra-Comique/ Szene/ Foto Photo wie auch oben : Vincent Pontet

Und das in einer Farbenpracht, die an Leon Baksts Kostüme für die Ballets Russes denken lässt, die im Jahr vor Mârouf in Paris mit Scheherazade für Furore gesorgt hatten und 1914 die Josephslegende und einer Ballett-Version des Goldenen Hahns. brachten – die andere Sensation des Jahres war der erste Pariser Parsifal. Mârouf an der Opéra-Comique, in einer Produktion von 2013, die mittlerweile auch in Bordeaux zu sehen war, wo Minkowski amtiert, ist ein federleichtes Schauvergnügen. Jean-Sébastian Bou ist der Mârouf unserer Tage, ein charmanter Verführer und Tagträumer, dem seine Lüge kurzzeitig zur Verzweiflung bringt, ein bezwingender Schauspieler, der auch in einer modernen Filmromanze reüssieren könnte, und ein Sänger, der Maroufs schmeichelnde Liedchen mit feinnerviger Intensität  singt Mârouf hat, wie auch alle anderen Personen, keine Arie im traditionellen Sinn, sondern eine Folge subtiler Chansons und schmeichelnder Kurzarien, die einen lockeren Interpreten brauchen. Vannina Santoni sang die Saamcheddine mit hinreichendem, leicht verschleiertem Sopran, Jean Teitgen war ein Sultan von gewaltiger Komik, Aurélia Legay eine nur keifende Fattoumah und Franck Leguérinel ein stimmloser Vizir. Die Mischung aus Impressionismus, Wagnerisme und Oeintalismus brachte Marc Minkowski mit Chor und Orchester aus Bordeaux zu derart überzeugender Wirkung als habe auch ihn der Zaubergeist aus der Wüste berührt. Rolf Fath

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Dazu auch der Hinweis auf einige Aufnahmen: mit Henri Legay beim ORTF 1964; mit Henri Clement und Lina Dachary unter Gustave Cleoz ORTF 1961; mit Géori Boué und RToger Bourdin bei Malibran ORTF 1951; mit Michel Lecoq unter Jesus Etcheverry bei Vega/Accord ca. 1965 / G. H.

 

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Das Yiddish Theatre in New York

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Aktueller denn je sind die Zeugnisse einer gelungenen Integration von Auswanderern/ Flüchtlingen/ Migranten in ihrem Gastland – über kaum ein Thema wird ja gegenwärtig so viel diskutiert wie genau darüber. Deshalb ist es spannend zu sehen, wie sich die jüdischen (russischen und polnischen) Auswanderer des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf der Flucht vor Verfolgung und Progromen in den USA einrichteten (namentlich New York als Anlaufstelle), wie sie ihre eigene Sprache, Kultur, Folklore und Gewohnheiten institutionalisierten und im Laufe der Zeit zu einer der beherrschenden Life-Style-Formen der USA machten. Sie verhalfen – wie viele ihrer Zeitgenossen – dem jüdisch geprägten Unterhaltungstheater (namentlich dem Musiktheater) zu ungeahnter Blüte. Das ist eine Periode des amerikanischen Theaterlebens, von der bei uns in Europa und Deutschland kaum etwas bekannt ist.

Das National Yiddish Theatre in New York ist so ein Ort, an dem  heute der jiddischen Traditionen aus Osteuropa gedacht wird. Eine mit viel Beifall bedachte Aufführung des Musicals  Di goldene Kale (Die goldene Braut) von Joseph Rumshinsky war dem auf dem Theatergebiet spezialisierten Steven Ledbetter, Autor, Musikkritiker und Musikwissenschaftler von Rang, einen langen Artikel zum Jiddischen Theater in Amerika wert, den wir von unseren Freunden des ORCA (Operetta Reserach Center Amsterdam/ Kevin Clarke) mit Dank in unserer eigenen deutschen Übersetzung übernehmen. G. H.

Cover for the catalogue of New York’s Yiddish Theater „From the Bowery to Broadway“ Columbia University Press, ISBN-10: 0231176708, ISBN-13: 978-0231176705

Steven Ledbetter: Ein unwahrscheinlicher Hit, das 1923 entstandene jiddische Musical Di goldene Kale (Die goldene Braut) von Joseph Rumshinsky, kam nach jahrelangen Recherchen, ausgelöst durch eine Partitur, die in der Harvard Music Library gefunden wurde, in einer exzellenten Produktion des National Yiddish Theatre Folksbiene in der Edmond J. Safra Hall im Museum of Jewish Heritage (Manhattan, New York City) heraus. Ich fand die Show so reizend und zufriedenstellend wie alles in der Stadt und war damit nicht allein. Die New York Times bedachte sie mit einer sehr positiven Rezension und inkludierte einen Videoclip mit Auszügen aus verschiedenen Liedern, die einen Eindruck vom Werk und der Inszenierung geben.

Obschon der ursprüngliche, monatelange Zyklus vorüber ist, wurde von möglichen Auftritten in Philadelphia und vielleicht anderswo, einer kommerziellen Aufnahme oder gar eine DVD-Produktion gesprochen. Ich habe die Entwicklung des wissenschaftlichen Projekts von seinem Ursprung in der Harvard Music Library bis zu seinem unerwarteten Aufblühen in New York verfolgt, und da nahezu niemand den Komponisten oder die Musik mehr kennt, biete ich diesen Artikel als kleinen Einblick in einen reichen und weitgehend vergessenen Teil des amerikanischen Musiktheaters.

Grand Theater advertising Jacob P. Adler in “The Jewish King Lear,” c. 1905. (Photo Byron Company Museum of the City of New York, J. Clarence Davies Collection)/ ORCA mit Dank

Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts war das jiddische Theater sehr erfolgreich, besonders in New York, wo im Laufe von etwa drei Jahrzehnten eine große Anzahl neuer Einwanderer aus Osteuropa eintraf. Die meisten von ihnen sprachen Jiddisch, eine Sprache, die wie Englisch eine Verschmelzung verschiedener Quellen darstellt – in diesem Falle aus Mittel- und Osteuropa, einschließlich einer starken Portion Deutsch, gefärbt mit Obertönen das Russischen, Polnischen, Litauischen und Rumänischen sowie Überresten des Hebräischen. Jiddisch wurde zu einer lingua franca für die Ankömmlinge aus weiten Teilen Osteuropas, wo die Behörden ihr Bestes gaben, um die Juden zu vertreiben.

In Amerika standen diese neu angekommenen Immigranten, wie Neuankömmlinge aus anderen Kulturen und Ländern vor ihnen, vor der Herausforderung, eine neue Sprache und neue kulturelle Praktiken zu erlernen, während sie, so gut sie konnten, an ihren bekannten und beliebten Traditionen – sozial und religiös – festhielten.

Von den 1890er bis in die 1920er Jahre mussten die neuen Immigranten in ihrer neuen Heimat Fuß fassen, was sie durch eine Verschmelzung alter und neuer Erfahrungen schafften. Das Theater bot einen einfachen Weg für die Sprecher einer bestimmten Sprache, die eine bestimmte Kultur teilten, sich der Neuheit der Neuen Welt zu stellen und gleichzeitig so viel vom Mitgebrachten zu bewahren wie möglich. Das jiddische Theater, ein ziemlich neues Genre, erfunden im östlichen Europa der 1880er Jahre und vom zaristischen Regime großflächig unterdrückt, bot Unterhaltung und Ablenkung, Beispiele für eine erfolgreiche Lebensweise sowie eine Unterweisung in dem, was sie in Amerika erwartete.

ORCA-Chef Kevin Clarke vor dem Yiddish Theatre/ ORCA

Einige der Stars wurden, zumindest innerhalb ihres eigenen ethischen Zirkels, hochberühmt. Zwei der größten Stars waren Boris und Bessie Thomashevsky, die von einer großen Fangemeinde, darunter der junge George Gershwin, zum Idol stilisiert wurden, aber in der Welt außerhalb der jiddischen Sprache fast unbekannt blieben. Boris und Bessie waren die Großeltern von Michael Tilson Thomas, und für die meisten Menschen, die nicht in New York City aufgewachsen waren, wo die Mehrheit der neu eingewanderten Juden wohnte, wäre ihre erste bedeutende Verbindung zur Tradition höchstwahrscheinlich ein Konzertprogramm gewesen – im Wesentlichen ein Vortrag mit einer Vorstellung von singenden Schauspielern –, zusammengestellt und dirigiert von Michael Tilson Thomas im Laufe des letzten Jahrzehnts, schließlich ausgestrahlt von PBS (The Thomashevskys: Music and Memories of a Life in the Yiddish Theater)

Composer Joseph Rumshinsky (1881-1956)/ORCA).

Und dann gab es noch andere, die ein breites Publikum erreichten, wie Molly Picon und Jacob Adler, deren Tochter Stella Marlon Brando, Robert De Niro und vielen anderen die Schauspielerei beibrachte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts engagierte Boris Thomashevsky einen jungen Komponisten, der neu aus Wilna, Litauen, eingetroffen war: Joseph Rumshinsky (1881-1956), der später zum vielleicht bedeutendsten Komponisten des jiddischen Theaters werden sollte. Sein Erfolg war so groß, dass er „der jüdische Victor Herbert“ genannt wurde.

Rumshinsky gehörte zur ersten Generation bedeutender Komponisten des jiddischen Musiktheaters, die vom Ethnomusikologen Mark Slobin von der Wesleyan University in seinem Buch Tenement Songs: The Popular Music oft he Jewish Immigrants (Illinois Press, 1982) diskutiert wurde. Hierbei handelt es sich scheinbar um die bis heute einzige substanzielle Studie über den musikalischen Aspekt des jiddischen Theaters. Diese frühe Gruppe dieser Komponisten wuchs in Osteuropa mit den musikalischen Traditionen der Shul (Synagoge) und des Khazn (Kantor) auf, die einen musikalischen Jungen als einen Meshoyrer (Chorknaben) akzeptierten. Wenn sich sein Talent als ausreichend erwies, erhielt er Gesangsunterricht und lernte später Noten zu lesen und Elemente der Theorie und Komposition zu studieren, um sich so den Rahmen für eine Karriere zu schaffen.

Joseph Rumshinsky:“Di goldene Kale“ am Yiddish Theatre/ Foto Moody/ ORCA

Der junge Rumshinsky erwies sich beim fortgeschrittenen Unterricht als so geeignet, dass er den Spitznamen „Yoshke der notnfresser“ (Joey der Notenfresser) bekam. Er erinnerte sich später, dass diese musikalischen Erfahrungen in Verbindung mit der Anbetungstradition „für Juden, die Oper, die Operette und die Sinfonie“ standen. Eine spätere Generation der Komponisten des jüdischen Liedes in Amerika, deren Ausbildung weltlicher und theaterorientierter war, wurde allgemein bekannter, als einige ihrer Lieder (wie Sholom Secundas „Bei mir bist du sheyn“ von 1932) in der allgemeinen Musikkultur Amerikas populär wurden.

Trotz seines späteren Erfolges als Hauptkomponist des jiddischen Theaters in Amerika, fehlte Rumshinsky sowohl in der 1980er wie auch in der 2000er Ausgabe des New Grove als auch in der ersten Auflage des New Grove Dictionary of American Music. Schließlich erschien er erstmals in der zweiten Auflage des American Grove mit einem kurzen Artikel – indes ohne ein Werkverzeichnis, das angeblich um die 90 Musicals umfasste.

Angesichts des Mangels an allgemein zugänglichen Informationen über ihn werde ich einige wesentliche Details seines Hintergrunds kurz aufführen, die aus Slobins Buch stammen, das auch Zitate aus den Memoiren des Komponisten enthält (Auszüge werden in Anführungszeichen stehen).

Rumshinskys Vater war Hutmacher, aber ein musikalischer Mann, der seine Lehrlingen zum Singen ermutigte – manchmal hebräische Lieder, die er ins Jiddische übersetzte und dann „die Musik auf seine eigene Weise improvisierte“.  Wenn das Geschäft schlecht war oder andere Schwierigkeiten drohten, sangen sie Passagen aus den Psalmen „mit dem Wohlklang der Lehrlinge: es brachte dein Herz mit seiner Süße und Traurigkeit zum Schmelzen“. Aber wenn das Hutgeschäft gut lief, leitete er einen Frage-und-Antwort-Typ des Liedes mit jedem, der mitsang. „Die fröhlichen Lieder waren halbrussisch, halbpolnisch, vermischt mit Jiddisch und Hebräisch, und das Werk sollte dem Tempo und der Stimmung der Musik folgen.“ Rumshinskys Mutter war eine Gesangslehrerin – „Nicht, Gott verbiete es, für Geld!“ Sie lehrte Hochzeitslieder für die Mädchen vor Ort. Die Beschreibung macht klar, dass es sich um eine sehr vielseitige Gesellschaft in sozialer und musikalischer Hinsicht handelte.

Joseph Rumshinsky:“Di goldene Kale“ am Yiddish Theatre/ Foto Moody/ ORCA

Der junge Yoshke wurde zum Kantor in Wilna gebracht, wo er sang und zu seiner großen Freude zum ersten Mal einen vollen Chor hörte. Eine musikalische Karriere war klar erkennbar. Er überredete seinen Vater, ihn an eine Schule mit einer säkularen Ausbildung zu schicken, wo er Berichten zufolge binnen eines Monats Notenlesen lernte und das Klavierspiel begann. Von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem Umzug nach Amerika verfolgte er verschiedene Arten musikalischer Aktivitäten. Manchmal schrieb er für eine Synagoge, fand sich aber zunehmend vom Theater angezogen. Er war begeistert von einer Aufführung von Shulanis, einem Stück von Abraham Goldfadn, dem Begründer des jiddischen Theaters in Litauen um 1880 herum. Aber als diese Tradition vom Zaren verboten wurde, konnte sie nur in der Neuen Welt gedeihen. Inzwischen lebte er ein vagabundierendes Musikleben und lernte Musik aus verschiedenen Traditionen, darunter russische Operette und deutsche Lieder. In Lodz gründete er einen nationalistischen jüdischen Chor, der seinen offenen Nationalismus unterdrücken musste, um Probleme mit der zaristischen Polizei zu vermeiden, und einen Skandal bei der älteren Generation auslöste, sangen doch Jungen und Mädchen zusammen.

Die Gefahr, in die Armee des Zaren eingezogen zu werden, motivierte ihn schließlich zu schneller Flucht nach London und nicht lange danach nach New York. Dort war sein vielseitiger Hintergrund hilfreich. Er wurde zunächst damit beauftragt, einen Chor zu trainieren, der Rubinsteins Oper Der Dämon auf Russisch singen sollte, und eine neue Orchestrierung zu besorgen, da es schwierig war, Material aus Russland zu bekommen. Er schrieb auch leichte Klavierstücke für S. Goldberg, einen Musikverleger mit einem Geschäft in der Lower East Side. Er gab einer Vielzahl an Einwanderern Klavierstunden, von denen viele in ihrem Bestreben, der Mittelschicht anzugehören, ein Klavier gekauft hatten. (Die Gershwins waren eine solche Familie, die es für den schüchternen Bücherwurm Ira gekauft hatten; aber kaum dass das Klavier im Apartment stand, nahm es dessen Bruder George in Beschlag und ließ nicht mehr davon los.)

Molly Picon in the Yiddish film The Jolly Orphan, 1929. From New York’s Yiddish Theater From the Bowery to Broadway.

Aber der Umzug nach New York brachte Rumshinsky auch in eine Region, in der das jiddische Theater florierte. Nicht lange nach seiner Ankunft wurde er von Boris Thomashevsky angestellt, um an seinen Shows zu arbeiten, womit eine lange Karriere begann, die zu Dutzenden Musicals und anderen Werken führte, darunter eine ernste Oper, Ruth, in den späten 1940er Jahren, die unaufgeführt blieb.

Es ist sein 1923er Hit Di goldene Kale (Die goldene Braut), die kürzlich in New York elegant und clever in einer außerordentlich schönen Version wiederbelebt wurde und sich durch eine exzeptionelle Präsentation der Lieder und Tänze auszeichnet. Dieses Werk hat diesen Aufsatz motiviert. Kurz vor dem Ende der freien und offenen Einwanderung aus Osteuropa entstanden, muss das Libretto heute ziemlich modern erscheinen, mit zwei kontrastierenden Akten, die Charaktere zunächst in ihrem Heimatland präsentierend und die meisten davon dann bei ihrem neuen Leben in den Vereinigten Staaten. Gleichzeitig wird an die große Operettentradition angeknüpft. Am auffälligsten war für mich die Ähnlichkeit mit der Situation in Lehárs Lustiger Witwe: Die weibliche Hauptprotagonistin ist eine unverheiratete Frau mit großem Reichtum (bei Lehár ist sie die Witwe eines sehr vermögenden Mannes; bei Rumshinsky ein armes jüdisches Mädchen, das von seiner Mutter getrennt wurde, aber deren kürzlich verstorbener Vater nach Amerika gegangen war und ein Vermögen gemacht hatte). In der jiddischen Show fühlt Goldele, dass ihre Mutter nach wie vor am Leben sein muss, und sie versprach, denjenigen Verehrer zu heiraten, der sie ausfindig machen kann (trotz der Tatsache, dass sie einen favorisierten Geliebten hat).

Der Weg zur Wiederbelebung war lange und nahm nicht weniger als sechs Jahre wissenschaftlicher Arbeit in Anspruch. Quellen für Theaterstücke und Musicals, die am Kessler’s Second Avenue Theater und anderen Häusern in der jiddischen Tradition gespielt wurden, sind meist verloren oder verstreut. Die erste Aufgabe besteht schlichtweg darin, die große Menge an fehlendem Material zu finden.

Molly Picon in a Yiddish Theater production, 1919/ ORCA

Der erste Anstoß zu einer Rekonstruktion von Di goldene Kale war eine Konferenz amerikanischer Musikwissenschaftler im Raum Boston 1984, als Michael Ochs, der damalige Musikbibliothekar in Harvard, eine handschriftliche Kopie eines Klavierauszuges fand. Wie bei solchen Partituren üblich, ist kein gesprochener Dialog enthalten und hat man keine Vorstellung, wie die Orchestrierung aussieht. Gleichwohl stellte er die Partitur bei einer Ausstellung für die jährliche Konferenz der damaligen Sonneck Society (heute Society for

Poster for the “Hassidic” operetta “The Rabbi’s Temptation” at Manhattan Theatre, 1932. The show by Sholom Secunda and Sholem Steinberg was first produced in 1924-25./ Ledbetter/ ORCA 

Nachdem er sich aus Harvard zurückgezogen hatte, beschloss er, ein Projekt zu dieser Operette zu machen und begann, die Texte zu übersetzen. Am YIVO Institute for Jewish Research in New York (das eine außergewöhnliche Sammlung von Materialien zum jiddischen Theater besitzt) fand er ein Schreibmaschinenmanuskript des Librettos unter den Papieren, welche die Enkel der Librettistin Frieda Freiman und die Kinder der Schauspielerin Flora Freiman gestiftet hatten.

Was es ermöglichte, die Partitur zu rekonstruieren, war ein Geschenk von Manuskripten aus Rumshinskys Nachlass, die von seinen Kindern Murray Rumshinsky und Betty Rumshinsky der UCLA vermacht wurden. Hier fand Ochs die Vorlage (keine vollständige Orchesterpartitur!), mit der der Komponist 1923 die Uraufführung dirigierte, sowie die einzelnen Orchesterpartien. Diese Materialien ermöglichten es ihm, die gesamte Partitur wiederherzustellen, indem er alle Einzelteile zusammenfügte. (Ein Operndirigent an der Met würde niemals ohne Partitur arbeiten, aber es ist sehr selten für den Dirigenten einer kommerziellen Show, etwas Ausführlicheres als eine Klavierpartitur zu haben.)

Wie Michael Ochs mehrfach lächelnd beschrieb, ist es Ironie, dass er aus einer älteren jüdischen Familie mit deutschen Wurzeln stammt, einer Gruppe von Menschen, die im späten 19. Jahrhundert dazu tendierten, auf die verarmten Neuankömmlinge aus den Schtetls herabzublicken, die nicht einmal richtiges Deutsch sprachen. Seine Vorfahren hätten sich nicht dazu herabgelassen, die Vorstellungen im Second Avenue Theater zu besuchen. Doch ein Jahrhundert später ist er zum Hauptakteur bei der Wiederentdeckung der Brillanz von Joseph Rumshinsky und seines entzückenden Hits von 1923 geworden. Jetzt, wo die Partitur wiederhergestellt ist, wird sie in der Reihe Music oft he United States of America (MUSA) erscheinen, herausgegeben von der American Musicological Society, und wird das erste wissenschaftliche Aufführungsmaterial eines jiddischen Musicals überhaupt darstellen. Laut Michael Ochs spielten Rumshinsky und diese Operette „eine wichtige Rolle in der Entwicklung des amerikanischen Musicals. Irving Berlin, Yip Harburg und die Gershwins besuchten, wie viele andere Broadway- und Tin-Pan-Alley-Persönlichkeiten, regelmäßig die jiddischen Theateraufführungen.“

Der Autor Steven Ledbetter/ ORCA/ Facebook

Die wunderbare Gelegenheit, die Ergebnisse all dieser Jahre wissenschaftlicher Arbeit tatsächlich zu sehen und zu hören, wurde durch die Hilfe von Chana Mlotek von YIVO möglich, die Michael Ochs ihrem Sohn Zalmen, dem künstlerischen Leiter des National Yiddish Theatre Folksbiene, vorstellte, der Musikdirektor dieser Produktion wurde. Zunächst wurde die Show im Mai 2014 auf minimalistische Weise mit einer klavierbegleiteten Aufführung der Lieder präsentiert. Dann wurde die Partitur im August 2015 mit Orchesterbegleitung an der Rutgers University aufgeführt. Die offensichtliche Qualität im Konzert führte direkt zur Inszenierung von Bryna Wasserman und Motl Didner von 2. Dezember 2015 bis 3. Januar 2016. Etwa 300 Sänger/Schauspieler haben für die acht Soloparts und das Ensemble vorgesprochen, was Spielraum für den Aufbau einer prächtigen Besetzung gab, die sowohl den Anforderungen einer Oper als auch dem ethnischen Kitsch gerecht wurde. Das Titellied offeriert einige Aromen dieses stilistischen Schmelztiegels. Die Aufnahme stammt aus einer Reihe von Liedern des jiddischen Theaters von Naxos in der bedeutenden Reihe Jewish Music in American Life. Es sind neun Lieder von Rumshinsky von neun verschiedenen Werken enthalten, eine willkommene Einführung in die Arbeit dieses Meisters des Musiktheaters.

Die Edmond J. Safra Hall wurde zu seinem stilvollen Garten geschmückt, der im ersten Akt als Schtetl diente, bevor sie sich zu unserer großen Belustigung im zweiten Akt in eine elegante New Yorker Wohnung verwandelte. Diese Transformation war eines der Highlights der Produktion. Die Charaktertypen wurden in ungemeiner Detailfülle dargeboten. Der amerikanische Cousin Jerome, gespielt von Glen Steven Allen, trainierte sogar sein Jiddisch mit amerikanischem Akzent. Der stattliche Adam Shapiro verkörperte Pavlova denkwürdig während des Kostümballs. Zalmen Mlotek leitete die rund 20 Spieler mit echter Hingabe und stilistischem Elan. Die Platzierung des Orchesters hinter einem Glitterstoff gab ihnen die Möglichkeit, zur entsprechenden Zeit aufzutauchen.

Als Musikwissenschaftler, der manchmal Jahre damit verbracht hat, staubige Materialien zu bearbeiten, kenne ich das Gefühl, ein wissenschaftliches Projekt zu sehen, das zu einer ansehnlichen Menge an gedruckter Musik führt, die dann niemand aufführt – wodurch der Zweck all dieser Bemühungen weitgehend untergraben wird. Aber in diesem Falle haben es die glücklichsten Umstände möglich gemacht, dass dieses lange, komplexe Projekt von Tausenden gehört und gesehen wurde – in der Hoffnung, dass dies auch für zukünftige Produktionen gelten möge. Steven Ledbetter

Dank an ORCA und Kevin Clarke, vor allem aber an Steven Ledbetter für die Freundlichkeit, uns seinen Artikel zu überlassen/ Übersetzung Daniel Hauser. Steven Ledbetter is a free-lance writer and lecturer on music. He got his BA from Pomona College and PhD from NYU in Musicology. He taught at Dartmouth College in the 1970s, then became program annotator at the Boston Symphony Orchestra from 1979 to 1997. Foto oben: The original Playbill for Di goldene Kale, 1923. Photo Steven Ledbetter Archive/ ORCA

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Liebe und Frühling

 

Der Bariton Benjamin Appl hat sich dem Liedgesang verschrieben. Vieles deutet darauf hin, dass er diesen Weg konsequent weitergeht. Auftritte, die er auf seiner eigenen Homepage ankündigt, sind ausschließlich diesem Genre verpflichtet – ob nun in Moltrasio am Comer See, in Ho Chi Minh Stadt, Hong Kong, Kassel, Dublin, Glasgow, Seattle, Utrecht oder Hamburg. In Bregenz wird im August 2018 eine – wie es in der Ankündigung der Festspiele heißt – „riesige Symphonie für Bariton und Orchester des Tiroler Komponisten Thomas Larcher“ von Appl uraufgeführt. Operntermine finden sich nirgends. Dabei hat dieser Sänger durchaus einschlägige Erfahrungen beispielsweise als Graf in Mozarts Figaro in London oder als Aeneas in Purcells Oper Dido and Aeneas beim Aldeburgh Festival gesammelt. Er sieht blendend aus, ist groß gewachsen, charmant und sympathisch im Auftreten. Schon rein äußerlich bringt er also alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn mit. Sängerisch sowieso. Opernhäuser wären gut beraten, den jungen Bariton mit einer passenden Aufgabe zu locken. Wann, wenn nicht jetzt?

Stets wirkungsvoll in Szene gesetzt ist er auf den Titelbildern seiner CDs. Neu ist eine Produktion aus London, aufgenommen im Dezember 2016 für das englischen Label hyperion. Appl bestreitet die siebte Folge der Gesamtaufnahme der Lieder von Johannes Brahms (CDJ33127). Angelika Kirchschlager hatte mit Vol. 1 die Edition eröffnet, gefolgt von Christine Schäfer (Vol. 2), Simon Bode (Vol. 3), Robert Holl (Vol. 4), Christopher Maltman (Vol. 5) und Ian Bostridge (Vol. 6). Begleiter und Inspirator des Unternehmens ist der Pianist Graham Jonson, der auch schon bei der Hyperion-Produktion aller Schubert-Lieder am Flügel gesessen hatte. Er begleitet Appl auch bei Konzerten. Mit achtundzwanzig Titeln in fast achtundsiebzig Minuten ist das Fassungsvermögen der CD erreicht. Berücksichtigt ist fast die gesamte Schaffensperiode von Brahms. „Liebe und Frühling I und II“ aus den Sechs Gesängen für eine Tenor- oder Sopranstimme op. 3, die der Zwanzigjährige der verehrten Schriftstellerin Bettina von Arnim, die damals im achtundsechzigsten Lebensjahr stand, widmete, bilden den Auftakt. Am Schluss stehen acht Nummern aus den 49 Deutschen Volksliedern, mit deren Zusammenstellung und Ordnung sich Brahms gegen das Ende seines Lebens beschäftigt hatte. Warum nur acht? Wenn hyperion so verfährt wie bei der Aufnahme der Schubert-Lieder, dann dürften die zunächst jeweils einem Künstler gewidmeten CDs in der abschließenden Gesamtausgabe in der Reihenfolge ihres Entstehens neu angeordnet werden. So finden dann auch die Liedgruppen zusammen, die zusammen gehören.

Um bei den Volksliedern zu bleiben. Vier hatte Angelika Kirchschlager aufgenommen, sechs Christine Schäfer, drei Simon Bode. Mit Appl sind es nun schon einundzwanzig. Fehlen also noch achtundzwanzig. Einzeln betrachtet ergeben die bisherigen Veröffentlichungen noch kein geschlossenes Bild des Liedwerks. Während Bostridge mit den Liedern und Gesängen op. 32 und den Vier Liedern op. 96 und Holl mit den Vier ernsten Gesängen mehrere Liedgruppen geschlossen darbieten, muss sich Appl bisher mit Stückwerk begnügen. Es sei denn, er wird noch für weitere Aufgaben herangezogen. Das Projekt ist ja noch nicht abgeschlossen. Brahms liegt Benjamin Appl. Seine Stimme ist technisch perfekter geworden. Das weiche, sensible Timbre mit hohem Wiedererkennungswert findet bei diesem zur Schwermut neigenden Komponisten womöglich noch mehr inhaltliche und formale Entsprechung als bei Schubert. Getragene Passagen gelingen besser als die schnellen Läufe. Geht die Stimme nach oben, scheint sie etwas an Halt zu verlieren und büßt auch an Wohlklang ein. Appl sollte sich mehr zurücknehmen, etwas ökonomischer agieren und nicht alles Pulver zu früh verschießen. Es muss gestalterisch immer noch eine Reserve nach oben sein. Er neigt dazu, Passagen zu übersingen. Kritische Anmerkungen gelten zudem technischen Details. Konsonanten sind eine Herausforderung für Sänger. Das wird gleich beim ersten Liedanfang der CD deutlich: „Wie Rebenranken schwingen“. Satt „Wie“ ist da „Whie“ zu hören. Das eingeschobene h sollte weg. Und stört!

 

Benjamin Appl, 1982 in Regenburg geboren, inzwischen vornehmlich in London lebend, ist auf seiner vorangegangenen, ersten Sony-CD auf der Suche nach Heimat. Was ist Heimat für einen, der noch ein Kind war, als der eiserne Vorhang in Europa fiel, der sich immer völlig frei bewegen konnte, heute hier, morgen dort. Der nie etwas anderes gekannt hat als diese grenzenlose Freiheit. Ist Europa schon die Heimat geworden für einen wie ihn? Oder schwingt da im tiefsten Innern doch eine Sehnsucht nach einem ganz konkreten Ort mit? Nach einer Stadt, einem Dorf, einem Landstrich. Heimat ist ein schwieriges Wort. Es wurde und wird noch immer missverstanden und missbraucht. Dabei ist es ein schönes Wort. Bei jungen Leuten, die sich nicht mit dem historischem Ballst der Großväter herumschleppen müssen, hat es wieder eine Chance, völlig unverkrampft gebraucht zu werden. Seiner ersten CD bei Sony hatte er den Titel „Heimat“ gegeben (88985393032). Seit einiger Zeit ist der Sänger Exklusivkünstler der Firma. Daran knüpfen sich viele Hoffnungen, für ihn wie auch für sein Publikum. Eine neue CD ist fällig. Nach Überzeugung des „Gramophone Magazins“ stieg Appl bereits zum „Spitzenreiter der neuen Generation der Liedersänger“ auf. So weit würde ich nicht gehen. Noch nicht. In diesen Blumenstrauß der Huldigung ist Vorschusslorbeer eingebunden. Der Kreis der Konkurrenten ist groß. Immer mehr talentierte junge Sänger drängen auf den Markt und legen auch CDs vor. Appl hat seine eigenen Möglichkeiten bislang nicht ausgeschöpft. Was auch auf der Sony-CD zu hören ist. Die Register sind noch nicht ausgeglichen. Hohe Töne reißt er mitunter nach oben, anstatt sie aus den unteren Lagen anschwellen zu lassen. Appls Stimme klingt etwas älter und gesetzter, als es seine Fotos erwarten lassen. Er ist sehr gut zu verstehen. Das sind beste Voraussetzungen für einen Liedersänger. Wenn er intensiv an der Vervollkommnung seiner Technik weiterarbeitet, wird er zur Spitze aufsteigen, wo ich ihn noch nicht sehe.

Und dennoch soll das Werturteil des Musikmagazins nicht kleingeredet werden. Vor allem jene Musikfreunde dürften es gern zur Kenntnis nehmen, die sich mit Liedern beschäftigen, die ihren Fischer-Dieskau, Prey, Wunderlich, Goerne oder Gerhaher sehr gut kennen und schätzen, die aber immer auf der Suche nach neuen Eindrücken und Stimmen sind. Appl lässt Gefühle zu, nicht nur sublimiert als Kunst, sondern in Wort und Schrift. Für das Sony-Booklet hat er einen persönlichen Text verfasst: Jeder von uns kennt aufgrund verschiedener Erfahrungen die Empfindung von Geborgenheit, die einen durch einen Ort, eine Situation oder Personen vermittelt wird. Manchmal erfährt man aber auch Einengung, Vorurteil oder Schmerz“, schreibt er. Dichter und Komponisten, hätten sich seit Jahrhunderten damit beschäftigt. „In unserer Zeit ist diese Thematik noch aktueller und drängender denn je, wo viele ihre Heimat verlieren oder aufgeben.“ Heimat sei etwas, was Menschen wirklich bewege. In den Liedern der CD sieht er ein Stück seiner Lebensreise. Es seien Texte, die trösteten, Freude bereiteten, Erinnerungen wachriefen, aber auch Lieder, die von Aufbruch und Findung berichteten, „nicht zuletzt aber als Wegbegleiter und Wegbereiter von Vertrautheit und Halt“. Andere wiederum spiegelten Momente wieder, in denen ein Stück Heimat verlorengegangen sei. Entsprechend ist die Auswahl getroffen. Die Literatur zum Thema Heimat ist groß. Dichter und ihre Komponisten fühlten sich zu allen Zeiten ausgestoßen, an den Rand der Gesellschaft in Außenseiterpositionen gedrängt. Auf einen Prolog mit Franz Schuberts „Seligkeit“ folgen die Themen Wurzeln, Räume, Menschen, Unterwegs und Sehnsucht, ausschließlich von deutschsprachigen Komponisten bestritten. Zu Schubert, der mit Liedern am häufigsten vorkommt, treten Max Reger, Johannes Brahms, Franz Schreker, Hugo Wolf, Richard Strauss und Adolf Strauss hinzu. Adolf Strauss? Über diesen 1902 geborenen Komponisten ist wenig bekannt. Er schrieb den Tango „Ich weiß bestimmt, ich werd’ dich wiedersehen“ im KZ Theresienstadt unmittelbar vor dem Todestransport in die Gaskammern von Auschwitz. Musikalisch kann dieser Titel, der an Barmusik denken lässt, mit den anderen Liedern nicht mithalten, zumal er zwischen „Wanderer an den Mond“ und „Heimweh“ von Schubert geklemmt ist. Durch die tragischen Umstände seines Entstehens schon. Appl hat gut daran getan, in seinem Programm, das man sich auch als Liederabend vorstellen kann, mit diesem Lied auf nachdenkliche Weise innezuhalten bei seiner Suche nach Heimat. Zugleich aber empfiehlt er sich als Begabung für dieses leicht gestrickte und eingängige Genre jenseits der hohen Schule des Liedgesangs. Appl hat Sexappeal in der Stimme. Die abschließende CD-Abteilung „Grenzenlos“ wird vom Franzosen Francois Poulenc und den Engländern Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams, Sir Henry Bishop (1786-1855), Peter Warlock (1894-1930), John Ireland (1879-1962) bestritten, bevor das Programm mit einem Prolog ausklingt, bestehend aus zwei Liedern des Norwegers Edvard Grieg – „An das Vaterland“ und „Ein Traum“. Hier schließt sich der Kreis. Heimat und Vaterland als immerwährender Traum. Ein schöner Gedanke.

 

Als erstes hatte Benjamin Appl bei Champs Hill diverse Lieder aufgenommen. Dem Vernehmen nach ist er der letzte Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau gewesen. Zwischen 2010 bis 2013 studierte er an der Guildhall School of Music and Drama in London, wodurch sich auch der Kontakt zu diesem englischen Label ergeben haben dürften. „Stunden, Tage, Ewigkeiten“ ist die CD mit Liedern nach Heinrich Heine betitelt (CHRCD112). Heine, der als der letzte Dichter, der Schlusspunkt der Romantik gilt, hat Komponisten magisch angezogen. Franz Schubert sind einige seiner bedeutendsten Lieder auf seine Texte gelungen: „Der Atlas“, „Ihr Bild“, „Die Stadt“, „Der Doppelgänger“. Diese vier Titel aus dem Schwanengesang hat Appl aufgenommen. Sie gelingen ihm gut. Appl lässt sich Zeit beim Singen. Dadurch kann er textlichen und musikalischen Details ausbreiten. Bei der Programmauswahl haben sich die Produzenten nicht nur auf Altbekanntes verlegt. Auftakt ist das Lied Gruß in der Vertonung von Edvard Grieg, gefolgt von den Sechs Liedern von Heine des russischen Komponisten und Pianisten Anton Rubinstein, der viele Lieder hinterlassen hat. Die erweisen sich als Entdeckung und mehren den Wert dieser CD. Seinem Höhepunkt strebt die Programmauswahl mit Roberts Schumanns Dichterliebe zu. Begleiter ist – wie auch bei der ersten Sony-Produktion James Baillieu. Im hübsch aufgemachten Booklet kommt der Sänger, wie bei der Sony-CD ebenfalls zu Wort. Obwohl er ja durch seine Stimme und nicht durch das geschriebene Wort erklärend Eindruck machen soll, ist das für sich genommen eine gute Idee. Zumal Appl auch hier sehr persönlich wird: „Mit meinen Deutungen suche ich bewusst einen jungen, frischen Interpretationsansatz für die vorwiegend liebesbezogenen Textvertonungen.“ Und weiter: „Die Komponisten waren im vergleichbaren Alter, meistens jedoch noch jünger als ich jetzt. Ihre persönlichen Erlebnisse hatten sie sicher damals dazu bewegt, vorliegende Texte auszuwählen und in ihre musikalische Sprache einzukleiden. Durchlebt man doch in jungen Jahren erfüllte wie auch enttäuschende Stunden der Liebe besonders intensiv.“ Sein Vortragsstil auf dieser CD wirkt selbstbewusst und frisch, und doch nicht nassforsch. Er vergeht nicht vor Erfurcht vor diesen Meisterwerken, er nähert sich mit einer gewissen Lockerheit an. Das macht die Aufnahme zum Hörvergnügen. Nur hier und da hinterlässt er noch einen akademischen Eindruck. So, als würde er die Lieder in einem Seminar vortragen, in dem auch andere Studenten und Professoren sitzen. Und in Gedanken der gestrenge Fischer-Dieskau. Habe ich alles richtig gemacht? Er hat! Dieser Sänger ist auf einem sehr guten Weg. Es besteht nicht der geringste Zweifel für mich, dass noch viel von ihm zu hören sein wird. Rüdiger Winter  

Gemischtes Glück

 

Erst jetzt veröffentlicht Naxos/Unitel die bereits vor drei Jahren in der Oper Stuttgart aufgenommene Produktion von Jommellis Dramma per musica  Il Vologeso (2 DVD 2.110395-96). Die Württembergische Staatsoper hatte in der Saison 2014/15 den 300. Geburtstag des Komponisten zum Anlass genommen, den Vologeso als eines seiner zentralen Werke unter dem Titel Berenike, Königin von Armenien herauszubringen. Es war die erste szenische Aufführung nach fast 250 Jahren. Dabei hatte der Komponist im Dienste des Herzogs von Württemberg Stuttgart von 1753 bis 1768 zu einer Metropole europäischer Opernkultur erhoben, doch gerieten seine Werke später in Vergessenheit. Vor 20 Jahren realisierte Frieder Bernius in Form einer konzertanten Aufführung (mit CD-Einspielung) die Wiederentdeckung der Oper in moderner Zeit.

Ein Jahr hat Berenice um ihren vermeintlich gefallenen Verlobten Vologeso, König der Parther, getrauert. Fast gibt die Königin dem Werben des siegreichen römischen Feldherrn Vero, der sich in sie verliebt hat, nach, da kehrt der tot geglaubte Geliebte schwer verstümmelt zurück. Berenice steht nun zwischen zwei Männern, aber auch Vero ist im Konflikt zwischen Berenice und seiner Verlobten Lucilla. Der letzte Akt bringt das traditionelle lieto fine – Vero bittet Lucilla um Vergebung und wird römischer Kaiser; Berenice und Vologeso sind wieder glücklich vereint

Jommelli in Stuttgart/Szene/Foto A. T. Schaefer

Liest man die Namen des Stuttgarter Produktionsteams, muss man sich auf einen Regietheater-Abend einstellen. Denn das im Dauereinsatz befindliche Duo Jossi Wieler/Sergio Morabito (Inszenierung) und die mit ihm untrennbar verbundene Anna Viebrock (Ausstattung) haben schon manchem Klassiker des Repertoires ihren eigenwilligen, oft befremdlichen Stempel aufgedrückt. Auch hier warten sie mit einer sehr divergierenden Optik auf. Im Hintergrund der Bühne ist ein Prospekt mit maroden Neubauten zu sehen, davor stehen Säulen von historischer Architektur, ein Brunnen und ein stufenförmiges Theaterpodest, auf dem das Spiel um Liebe und Macht gezeigt werden soll. Die Sänger in Jogging-Anzügen, T-Shirts und Turnschuhen legen ihre Kleidung teilweise ab und wechseln zu historischen Gewändern mit Gehröcken, Hüten und Perücken. Der Mix aus beiden Stilen bleibt während der gesamten Aufführung erhalten, immer wieder steigen die Sänger aus ihrer barocken Gewandung aus und legen ihre Perücken ab mit dem Ergebnis einer extrem auseinander klaffenden Ästhetik. Auch die Personenführung ist konfus, denn die Regisseure beziehen neben der Bühne auch den Orchestergraben und den Zuschauersaal in das Geschehen ein, was stets für Verwirrungen sorgt. Das lieto fine wird gebrochen, wenn Vero, den Lucilla mit Schärpe und Krone schmückt, sich von der Situation überfordert zeigt und bedrohlich schwankt. Eine Szene der Auflösung folgt, in der auch die Musik stockt, und die Sänger sich ihrer Kostüme entledigen.

Eine Besetzung von recht unterschiedlichem Niveau ist in Stuttgart versammelt. Den stärksten Eindruck hinterlässt der Tenor Sebastian Kohlhepp in der Rolle des Lucio Vero. Optisch ist er mit seiner strohblonden Haartolle und in der Physiognomie fast ein Trump-Double (eine erstaunliche Vision des Produktionsteams  – war doch 2015 noch keine Rede vom neuen amerikanischen Präsidenten). Darstellerisch muss er Berenice mit albernen Spielchen, ob mit einem Fisch oder anderen ausgestopften Tieren, necken und sich in Begleitung seiner Verlobten Lucilla huldvoll dem Volk präsentieren wie der amerikanische Präsident. Gesanglich beweist er hohes Niveau in der perfekten Stimmführung und der Formung der Koloraturen. Seine Arie im 1. Akt, „Luci belle“, klingt schwärmerisch und lockend, die im 2., „Sei tra’ ceppi“, ist ein wilder Zornesausbruch, weil Vologeso sich weigert, ihm Berenice zu überlassen. Der deutsche Tenor meistert dieses Stück von heroischem Charakter mit Glanz. Die von Streichern zart umspielte Cavatina „Che farò“ zeigt dagegen seine lyrischen Qualitäten. Und zu Recht empfängt er für seine bravouröse Interpretation der Arie im 3. Akt, „Uscir vorrei“, die zwischen schmerzlich-klagender und grimmiger Stimmung wechselt, den stürmischen Beifall des Publikums.

Die weibliche Hauptrolle der Berenice nimmt Ana Durlovski mit einem interessant timbrierten Sopran wahr, dessen erregtes Vibrato für den Seelenzustand der Figur steht. Mit heftiger Attacke geht sie ihre Arie „Se vive il mio bene“ an, die einem verzweifelten Aufschrei gleicht. In „Tu chiedi il mio core“ weist sie energisch Veros Werben zurück, schwankt dabei immer wieder in ihrem Entschluss aus Angst um Vologesos Leben, was zu lyrischen Einschüben führt. Die Situation ist vergleichbar Konstanzes Martern-Arie in Mozarts Entführung im Anspruch an den dramatischen Affekt und die lyrische Emphase. Im Terzett am Ende des 2. Aktes eskaliert die Situation, denn Berenice hat Vero ihr Herz versprochen, das er ihr freilich aus dem Leib reißen müsse. Dieser fühlt sich getäuscht und rast, während Vologeso und Berenice in unerschütterlicher Liebe zueinander stehen. Der 3. Akt hält für die Sopranistin nach einem ausgedehnten Recitativo accompagnato eine große, vom Orchester filigran umspielte  ombra-Arie bereit, in der Berenice von Visionen gepeinigt wird, Vologesos abgeschlagenes Haupt zu sehen.

Der Titelheld ist eine klassische Hosenrolle und Sophie Marilley setzt dafür einen passend strengen Mezzosopran ein. Mit vehementer Attacke schleudert sie die Koloraturen ihrer ersten Arie, „Invan minacci“, heraus, scheut als Ausdrucksmittel auch nicht verfärbte Töne oder Schreie. Die untere Lage ist etwas schwächer ausgebildet, wovon die Arie im 2. Akt, „Cara, deh“, zeugt. Mit Helene Schneiderman ist die Lucilla zu reif besetzt. Der Mezzo klingt ältlich und hat Mühe mit der Ausformung des vokalen Zierwerks, der Ausdruck wirkt verhärmt. Die Arie im 2. Akt, „Partirò“, schildert die Enttäuschung der Zurückgewiesenen, das Solo im letzten Akt, „Amor non sa“ ist ein munterer Diskurs über die Liebe. Eine akustische Prüfung ist Catriona Smith als Flavio, die zwar engagiert spielt und singt, aber mit grellem, jaulendem Klang nervt. Gleich die erste Arie „Crede sol“, bringt sie technisch an Grenzen, die im 2. Akt, „Rammentagli chi sei“, kann den Eindruck kaum verbessern. Die Besetzung ergänzt Igor Durlovski als Aniceto mit einem Counter von durchschnittlicher Qualität, der in seiner Arie „So ben comprenderti“ gleichfalls in Bedrängnis gerät.

Das Staatsorchester Stuttgart spielt Jommelis Musik in ihrer Mischung aus höfischer Galanterie, fein ziselierter, kammermusikalischer Transparenz und straffem Impetus unter Gabriele Ferros kundiger Führung engagiert und klangvoll. Bernd Hoppe