Archiv für den Monat: März 2019

Renata Scotto

Genau drei Zentimeter vor dem Matinée-Radio-Mikrophon starb Manon Lescaut in der stimmungsvoll-konservativen Inszenierung an der Met 1979 – Renata Scotto hatte sich durch Pappe und Wüstenersatz genau zu diesem eklatanten Punkt der großen Bühne hindurchgerobbt, um vor dem diskret aufragenden Mikrophon von Texacos Opernübertragung unendlich wirkungsvoll ihre letzten Worte zu verhauchen. Das war Kunst, das war Chuzpe, das war Können und Raffinement. Das Publikum (und auch ich) erstarrt, mesmerisiert, sprachlos, um dann in frenetischen Jubel auszubrechen. Diese zierliche Gestalt, die da ebenso gekonnt wie gerührt ihren unendlichen Applaus entgegen nahm („Wie? Ich? Wirklich?“ „Aber nein…“), schien nicht aus dieser Welt zu sein. Und dennoch hatte sie, Renata Scotto, uns drei Stunden lang Magie vorgeführt (Pausen an der Met sind lang), hatte uns glauben gemacht, sie sei ein junges Ding voller Sehnsucht nach dem Leben, voller Unschuld bis zum Schluss, voller Kraft in der in diesem Stück stark geforderten Stimme.

als Francesca da Rimini in New York/Youtube

Ich werde auch nicht ihre Francesca da Rimini vergessen, wie sie in dieser unendlich luxuriösen Produktion (dto. 1984 recht reif an der Met und auf DVD bei DG) neben dem extrem sexy Domingo eine Jugendstil-Elfe gab, voller Poesie, voller rollengerechter Manier und erneut voller Sehnsucht nach der Liebe, nach Sterben auf höchstem Niveau, stimmlich von einer Perfektion der kleinen Noten, der schimmernden Valeurs, die sie mit sprasamen, mädchenhaften Gesten unterstrich. Ihre Desdemona neben Domingo oder Vickers am selben Haus hatte für mich diese Modena-Entschlossenheit, dieses unglaublich Italienische, das ans Resolute grenzte, und gleichzeitig mit festem Glauben am Fatalen festhielt – eine wunderbare Charakterstudie einer Frau, die offenen Auges in ihr Verderben stürzt, die wie Carmen weiß, was passieren wird.

Merkwürdiger Weise habe ich bei der Scotto selten nach dem Wie oder Womit gefragt – natürlich, die Stimme als solche wäre eigentlich fast immer zu klein für diese großen Partien gewesen, und die Höhe konnte auch sehr scharf klingen, manchmal auch sauer. Aber die Scotto kompensierte ihre sehr lyrische Herkunft (wie man sie auf frühen Aufnahmen als Lucia oder Gilda hört) mit ungeheurer Intelligenz der Gestaltung, beherrschte ihr Instrument perfekt und über dessen natürliche Grenzen hinaus und machte aus jeder Phrase ein Ereignis, ein Puzzlestück im funkelnden Ganzen. Keine wie sie, möchte man sagen, folgte der Callas dichter nach. Keine wie sie beherrschte die Diktion so unglaublich raffiniert zur Gestaltung eines Charakters, keine wie sie machte beim Singen einen solchen Zauberladen an Illusion und Kunst auf. Sie war eine Magierin. Andere wucherten vielleicht mit mehr Kraft oder runderen Stimmen – die Scotto überzeugte durch Überzeugung, ihr Illusionstheater war einfach perfekt.

Renata Scotto als Marschallin in Catania/ Foto Teatro Bellini Catania

Über ihren Werdegang kann man alles bei Wikipedia nachlesen, sie wurde am 24. Februar 2019 erstaunliche 85 Jahre jung  – eine Frau ohne Skandale, privat immer eine Dame und immer eine Künstlerin, immer eine ebenso charmante wie entzückende Person. Dazu eine neugierige, die die Grenzen ihres Mediums vor allem gegen Ende ihrer Gesangskarriere auslotete mit der Frau von Poulenc, sogar mit Straussens Marschallin (in Palermo) und Klytämnestra (in Schwerin – che coraggio!) und Wagners Kundry (dto.), letzere sehr eindrucksvoll konzentriert und erstaunlich wortdeutlich, selbst wenn dies nicht wirklich ihr Metier war. So zollte man doch der Künstlerin große Achtung.

Dieser konsequente Werdegang von der Lyrischen zur Spinto-Sängerin zeitigte so viele glückliche Auftritte und Platteneinspielungen, dass sie für die Nach-Callas-Ära die ganz bestimmende Sängerin war, auch durch ihren klugen Schachzug, die Nachfolge der Tebaldi unter James Levine an der Met anzutreten, wo sie ihre größten Erfolge hatte. Aber eigentlich trat sie, außer als Einspringerin für die Callas-Sonnambula in Edinburgh 1978, mit ihrer allerersten Norma unter Muti 1979 in Florenz ins Rampenlicht der Welt (die entzückende Margherita Rinaldi als Sopran-Adalgisa nicht zu vergessen). Von nun ging´s voran. Und es gibt manche ihrer Einspielungen, ohne die ich nicht leben möchte – ihre Abigaille/EMI, Traviata/EMI, Butterfly/EMI und Sony, Francesca da Rimini/DG, Manon Lescaut/DG und Luisa Miller/DG, dazu ihre Lady Macbeth aus London und New York und vielleicht noch die für mich unerreichten Porträts liebender Frauen großen Formats. Renata Scotto hat exemplarisch vorgeführt, was man mit Willenskraft, einer bombigen Technik und vor allem größten musikalischen Intelligenz erreichen kann: die künstlerische Wahrheit. Grazie Signora – felici auguri per il Suo compleanno. G. H.

Nicht vergessen werden soll ihre pädagogische Tätigkeit in zahlreichen Meisterkursen, vor allem aber auch nicht ihre bedeutenden Regiearbeiten. Dazu fand sich im Archiv ein Gespräch mit Samuel Zinsli anlässlich von Scottos Arbeit an der Wally Catalanis am Stadttheater Bern von 2005, das wir nachstehend in Auszügen bringen./G. H.

Renata Scotto als Verdids Elisabetta an der Met/ Foto Davidson

„Die Oper ist für Emotionen gemacht!“: Gerade mal zwei Stunden vor der Premiere ihrer „Wally“­ Produktion am Stadttheater Bern erschien die Künstlerin blendend aufgelegt im stilvollen Foyer des Theaters und nahm sich viel Zeit für ein Gespräch über’s Regieführen, über Catalanis Wally – und natürlich auch über sich selbst.

Lange sind Sie als Sängerin in allen Opernhäusern zu Hause gewesen – nun kommen Sie als Regisseurin. Ist das ein großer Unterschied? Inszenieren ist schwierig. Als Sängerin habe ich die Musik, die mich führt. Auch beim Inszenieren kann ich mich von der Musik führen lassen, aber als Regisseurin bin ich noch jung … Ich habe nun eine neue Karriere, die ich ebenso liebe wie das Singen, aber es sind zwei sehr verschiedene Dinge – jetzt trage ich die Verantwortung für die ganze Produktion, auch für die Auswahl des Bühnenbildners, des Kostümbildners, des Theaters, der Beleuchtung … Und aufs Bühnenbild lege ich besonderen Wert. „La Wally“ in Bern ist nun meine vierte Produktion mit Carlo Diappi, der mein Lieblingsbühnen- und Kostümbildner ist. Ich mag Theater, das modern ist – und auch wieder nicht modern. Das heißt, ich vertraue auf die Musik, deshalb ziehe ich einfache, stilisierende Bühnenbilder vor, die eine klare Idee von der Handlung vermitteln. Und der romanticismo, den die Musik vorgibt, wird in den Kostümen und der Lichtgestaltung wiederaufgenommen. Mich interessiert das Ganze – da sind die Solisten und der Chor, und alle sind Menschen, die es zu respektieren und zu führen gilt. Die Arbeit mit den Sängern fällt mir verhältnismäßig leicht, weil ich ja selbst Sängerin war – sie vertrauen darauf , dass ich die vokalen Anforderungen verstehe und ihnen Bedingungen schaffe, in denen sie singen und spielen können. Denn für mich ist der perfekte Sänger der, der es schafft, singend darzustellen und darstellend zu singen.

Friolous Renata Scotto sings Christmas Songs

Wie sind Sie Regisseurin geworden? Ach, ganz zufällig! Ich hatte die Butterfly an der Met schon unzählige Male gesungen und wurde wieder dafür angefragt. Aber ich wollte es nicht mehr machen und sagte: „Gebt mir eine andere Oper!“ Und da kam die Antwort von der Met: „Dann geben wir dir die ganze Produktion – mach damit, was du willst!“ Ich hab drei, vier Monate lang überlegt. Das war eine sehr schöne Inszenierung von einem Japaner, in der ich oft aufgetreten war, die ich also sehr gut kannte. Aber im Laufe der Zeit hatten andere Regisseure und Assistenten sie verdorben, lauter unnützes Zeug dazugetan. Deshalb habe ich mir schließlich gesagt: Vielleicht könnte man zurück zum Original gehen – und dann habe ich eingewilligt. Das war ziemlich mühsam, aber an der Met kriegt man ja alle Hilfe, die man braucht. Das war 1986. Ich bin also – mit der Met! – ziemlich weit oben eingestiegen. Dann hat man mir schon für’s nächste Jahr eine neue „Butterfly“ in der Arena di Verona angeboten. 80 Choristen, 45 Geishas, 25 ballerine! Und einen künstlichen See haben wir konstruiert – ein schönes, untraditionelles Bühnenbild. Das war eine Erfahrung… Ich habe dabei fünf Kilo abgenommen. Aber man wächst ja mit seinen Aufgaben. Von da an habe ich versucht, alle Aspekte des Theaters kennenzulernen, auch die Technik, die Arbeit der Bühnenarbeiter und der Elektriker. Dann kamen auch Regiearbeiten, um die Sängerinnen und Sänger mich gebeten haben, z. B. Deborah Voigts Tosca-Debüt in Miami. Und dann eine Traviata, auch in Miami, eine in New York an der City Opera, wo ich einen Emmy für die Fernsehübertragung gewonnen habe, SonnambulaAdriana Lecouvreur in Santiago, eben komme ich von einer Butterfly in Dallas – Sie sehen, ich bin fürchterlich beschäftigt! Ach ja, ich habe auch einmal Regie geführt und selber mitgesungen, das war im Medium von Menotti – da war ebenfalls Carlo Diappi der Bühnenbildner. Mit ihm habe ich dazu Pirata und Norma gemacht. Norma inszenieren – ah, che lavoro! Aber eine schöne Arbeit! Wir hatten zwei sehr gute Sängerinnen, Serena Farnocchia als Adalgisa und Cynthia Makris als Norma – und ihr Mann Raimo Sirkiä als Pollione. Das war eine unglaubliche Anstrengung, aber ich habe es sehr genossen, denn ich liebe Norma. Diappi hat dafür nur Holz verwendet, finnisches Holz in neoklassischen Strukturen, mit neoklassischen Kostümen.

Gibt es Regisseure, die Ihnen besondere Vorbilder geworden sind? Ja, mindestens fünf! Vor allem John Dexter, der mein großer Maestro an der Met war, ein unvergesslicher Regisseur. Piero Faggioni, Mauro Bolognini, Ral Vallone, Peter Hall, mit dem ich Macbeth gemacht habe – unvergesslich , wie er mit mir die Figur der Lady geformt hat. Mit Franco Zeffirelli habe ich leider nur die Musetta an der Met gemacht. Ich erinnere mich auch gern an Renato Castellani, aber das ist länger her. Von Faggioni, Hall und Dexter habe ich besonders viel gelernt – wie ich mich auf der Bühne bewegen muss, wie ich die Worte verinnerlichen kann und sie nicht nur singe. Ich muss sagen, ich habe immer versucht zuzuhören und zu lernen. Oft kann man auch von nicht besonders guten Regisseuren etwas lernen.

Singen Sie noch? No, cantare basta. Ho chiuso.

Renata Scotto als Marschallin mit Ruthhild Engert/ Octavia/ Foto Teatro Bellini Catania

Es gab Gerüchte über eine „Pique Dame“… Nein! Ich mag keine alte Frau spielen, auch wenn ich nun eine bin. Genau, ich bin für die Rolle noch zu jung! Nein, ernsthaft, das wäre auch nicht mein Fach. Gut, ich habe Klytämnestra gesungen, aber dann hab ich gesagt: Jetzt ist Schluss! Man braucht zum Singen Körper und Geist, und – ich singe zwar noch gelegentlich in den zwei Kursen, die ich jährlich an der Accademia Santa Cecilia gebe, aber wenn ich heute eine Mädchenrolle interpretieren soll, fühle ich mich dabei nicht mehr wohl – das passt nicht. Und ich bin zufrieden damit, denn nun stehe ich morgens auf und muss nicht sofort testen, ob die Stimme in Ordnung ist, ich kann plaudern, lang aufbleiben … Ich habe so viele schöne Erinnerungen und Aufnahmen, warum also immer noch singen, jetzt, wo meine Stimme nicht mehr so schön ist wie vor 20 Jahren? Mir gefällt mein Leben, wie es ist. Ich bin Großmutter und genieße die Zeit mit meinem Enkel, der schon dreieinhalb ist, ich unterrichte und inszeniere – und ich gehe für mein Leben gern ins Theater, auch ins Sprechtheater, auch Modemes. Diese Woche war ich in Zürich in „Ariane et Barbe­ Bleu“, das hat mir sehr gefallen! Dagegen fällt es mir schwerer, z. B. in eine „Butterfly“ zu gehen – außer, es singt eine meiner Schülerinnen.

Wie stehen Sie zu der verbreiteten Meinung, es gebe heute weniger große Sängerpersönlichkeiten als früher? Wissen Sie, ich spreche nicht gern von der Vergangenheit , mich interessiert die Gegenwart. Wir haben heute großartige Sängerinnen und Sänger wie eine Renée Fleming, eine Deborah Voigt , einen Marcello Giordani und andere, und ich glaube, das sind die Künstler, die die Oper weitertragen. Es ist heute anders – die jungen Sänger glauben, sie hätten nur wenig Zeit zum Wachsen, zum Entwickeln. Es gibt unglaublich viel Konkurrenz, man braucht sofort die Aufmerksamkeit der Medien – und das ist nicht die beste Methode für organisches Wachsen, nicht wahr? Was man schnell, schnell aufbaut, hält meist auch nicht lange. Ich rate den Jungen immer, es adagio anzugehen – sie haben ja so viel Zeit. Ich habe aber Angst für das Genre Oper heute – dass das Publikum sich zu sehr an spektakuläre Effekte gewöhnt. Manche jungen Regisseure kennen und lieben die Musik nicht mehr, bedienen sich des Theaters nur noch. Und das ist kein Dienst am neuen Publikum. Das Publikum braucht Emotionen – wenn es kalt aus der Oper kommt, bringen wir das Theater nicht weiter. Auch manche Dirigenten verderben viel mit der Mode, alles ganz präzis und streng im Metrum und genau wie notiert zu nehmen. Die Oper ist doch für Emotionen gemacht , da muss mal eine Note länger gehalten werden, und dann wird applaudiert. Man applaudiert heute weniger in der Oper – warum? Fehlt da der Enthusiasmus, die Emotion? So. Ich habe alles gesagt – jetzt muss ich gehen (Foto oben Renata Scotto als Fedora/ Foto Burnie/ Opéra de Monte Carlo).

Britten mit Laute und Horn

 

Es ist still geworden um Julian Bream. Der 1933 in London geborene Gitarrist und Lautenist war 2002 letztmals öffentlich aufgetreten. Seine vielen Aufnahmen aber sind nach wie vor marktbeherrschend. Bream verhalf der Laute, deren Ursprünge bis ins zweite Jahrtausend vor Christus zurückreichen, zu neuer Popularität. Das legendenumwobene Instrument findet sich bereits auf Wandbildern im alten Ägypten und in Persien. Es wird angenommen, dass es die Kreuzritter nach Europa brachten. Namhafte Komponisten – darunter Hans Werner Henze, Michael Tippet, Benjamin Britten und William Walton – arbeiteten für Bream, der sich aber auch um die Pflege der Musik des elisabethanischen Zeitalters verdient machte. Eine seiner bevorzugten Komponisten war John Dowland, dessen Lebensdaten nicht gesichert sind. Fest steht nur, dass er am 20. Februar 1626 in London begraben wurde. Bei dessen Liedern begleitete Bream auch den englischen Tenor Peter Pears 1958 beim Aldeburgh Festival.

Einen Mitschnitt legte jetzt Doremi im Rahmen seiner Reihe Legendary Treasures vor (DHR-8060). Diesen Liedern sind chinesische Songs von Britten gegenüber gestellt, die nicht als Kontrast, sondern als Ergänzung der Dowland-Lieder wirken. Nach Angaben im Booklet werden sie nun erstmals auf CD veröffentlicht. Wie eine Klammer zwischen beiden Gruppen wirken drei Arrangements von britischen Volksliedern durch Britten. Gemeinsam mit dem schweizerischen Flötisten Auréle Nicolet und dem Cembalisten George Malcolm trat Bream auch im Folgejahr des von Britten, Pears und dem Librettisten Eric Crozier 1948 gegründeten Festivals auf – und zwar mit  einem Konzert für Flöte, Laute und Cembalo von Georg Philipp Telemann. Es ist ebenfalls auf der CD dokumentiert. Die technische Qualität der Mitschnitte hält sich zwar in Grenzen. Durch den Verzicht auf ein übertriebenes Remastering bleibt die authentische Atmosphäre des Live-Konzerts erhalten.

 

Obwohl Brittens Hymn to St Cecilia nur gut zehn Minuten dauert, gibt sie einer neuen CD mit A-cappella-Chorstücken des Komponisten bei harmonia mundi den Titel (HMM 902285), die vom Rias Kammerchor eingespielt wurden. Textgrundlage ist eine Ode von WH Auden. Der englische Dichter nahm 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft an und war zeitweise mit der aus Nazideutschland emigrierten Tochter des Schriftstellers Thomas Mann, Erika, verheiratet, um ihr zu einem englischen Reisepass zu verhelfen. Auden lebte mit Christopher Isherwood in Berlin zusammen und verfasste mit seinem späteren Lebensgefährten Chester Kallman die Libretti für für Strawinsky The Rake’s Progress sowie Henzes Bassariden und Elegie für junge Liebende. In England haben Kompositionen für Cecilia, die Schutzpatronin der Musik,  Tradition. Zudem fühlte sich Britten der Heiligen auch dadurch verbunden, weil er am ihrem Gedenktag, dem 22. November, geboren wurde. Der Musikexperte Philip Rupprecht bescheinigt dem Stück mit neoklassischen Elementen im Booklet eine „erstaunliche Leuchtkraft“. Der Rias Kammerchor bringt sie durch seine feinsinnige Interpretation zum Klingen. Eingeleitet wird das Programm der CD mit den „Choral Dances“ aus der Oper Gloriana, die schon kurz nach deren Uraufführung als eigenständiges Werk Verbreitung fanden. Den Abschluss bildet eine Sammlung aus sieben Gedichten von Gerald Manley Hopkins: „A.M.D.G. (Ad majorem Dei gloriam“. Britten komponierte sie im August 1939 in New York kurz nach seiner Begegnung mit Pears.

 

Im Schaffen von Britten führt „The Heart of The Matter“ ein seltsames Dasein. Denselben Titel trägt ein 1948 veröffentlichter Roman von Graham Greene, der in Großbritannien bis heute sehr hoch geschätzt wird. Die Hauptfigur begeht Selbstmord, wohl wissend, damit eine schwere Schuld auf sich zu laden. Auch der Britten sehr verbundene australische Pianist Noel Mewton-Wood schied freiwillig aus dem Leben. Zu seinem Gedenken entstand 1954 das Lied Canticle III, op. 55 „Still falls the rain“ nach einem Gedicht der Lyrikerin Edith Sitwell. Um dieses Lied gruppierte Britten zwei Jahre später für das Festival in Aldeburgh weitere Gesänge aber auch von der Dichterin persönlich vorgetragene Verse. Weitere Aufführungen gab es nicht. Erst 1983 stellte Peter Pears eine revidierte Fassung her. Nachzulesen ist die bewegte Entstehungsgeschichte in einem Text von Daniel Lienhard für die Aufnahme von Christoph Prégardien bei Challenge Classics (CC72771). Eröffnet wird das Werk von einem Hornsignal, ausgeführt von Olivier Darbellay spielt. Am Piano waltet Michael Gees. Das Horn ist denn auch das verbindende Instrument zu den übrigen Titeln der Produktion, die bis aus Schuberts „Auf dem Strom“ interessante Ausgrabungen sind: „Die Seejungfern“ und „Herbst“ von Franz Lachner, „Das Mühlrad“ und „Ständchen“ von Conradin Kreutzer. „Sehnsucht“ und das „Fischermädchen“ dürften die einzigen Werke des 1812 in Breslau geborenen und 1893 in Stettin gestorbenen Carl Kossmaly, sein, der auch als Dirigent und Musikkritiker wirkte, die es jemals auf CD schafften. Mit nationalistischen Lied „O Deutschland hoch in Ehren“ erlangte Henry Hugo Pierson zweifelhafte Berühmtheit. Der 1815 in Oxford geborene Komponist lebte seit 1863 dauerhaft in Deutschland und veröffentlichte seine Werke auch unter mehreren anderen Namen, darunter als Edgar Mansfeld(t). Von ihm wurde „Jägers Abschied“ ausgewählt. Die literarische Vorlage lieferte das von Ferdinand Freiligrath ins Deutsche übersetzte Gedicht des Schotten Robert Burns. Rüdiger Winter

Ein „philosophischer Tonsetzer“

 

„Ach je, jetzt kehrt er den Komponisten-Kollegen heraus“, könnte man noch beim Lesen des Prologs zu Timo Jouko Herrmanns SalieriBiographie denken, um dann lange vor dem Ankommen im Epilog davon überzeugt zu sein, dass man es mit einem überaus redlichen, grundsoliden und ungemein informationsreichen Buch zu tun hat.  Hand in Hand geht sein Erscheinen mit einer bereits vor einigen Jahren begonnenen Salieri-Renaissance, für die nicht zuletzt Cecilia Bartoli und Diana Damrau, aber auch der nicht erwähnte Riccardo Muti stehen.

Das erste Kapitel befasst sich mit der Jugend und Ausbildung des in Legnago im Veneto geborenen Komponisten, dessen Eltern früh verstarben und der deswegen mit seinem Gönner und Lehrer Florian Leopold Gassmann nach Wien ging, dessen reiches musikalisches Leben anschaulich beschrieben wird. Bereits in diesem ersten Kapitel wird deutlich, wie eng  die Künstler Mittel- und Westeuropas miteinander vernetzt waren, denn nach Gluck und Metatasio, die der noch junge Antonio Salieri kennenlernte, kommen im Verlauf der Biografie noch so ziemlich alle Größen seiner Zeit in den Genuss seiner Bekanntschaft, seien  es seine Schüler Beethoven und Schubert, später Meyerbeer, oder auch Mozart, bei dessen Erwähnung man natürlich sofort an das Gerücht vom Giftmord an dem unliebsamen Rivalen denkt. Näher geht der Autor darauf am Schluss seines Buches ein und enthüllt dabei einen interessanten Aspekt, wenn er auf den Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Gerüchts mit dem Aufkommen des Nationalismus verweist, der der „welchen Tücke“, die angeblich Salieri leitete, die „deutsche Treue“ gegenüberstellte. Herrmann gelingt es überzeugend,  die Absurdität der für einen Giftmord sprechenden Argumente aufzuzeigen, mehrmals weist er auch darauf hin, dass Salieri sich durchaus als deutscher Komponist fühlte, von den Zeitgenossen auch für einen solchen gehalten wurde.

Im Kapitel über die Lehrjahre wird wie auch in den folgenden ausführlich auf seine Kompositionen eingegangen, besonders auf die Opern wie Armida, La secchia rapita, La locandiera, für die Wiedereröffnung der Scala nach einem Brand L’Europa riconosciuta. Joseph II., der den Komponisten sehr schätzte, bestellt bei ihm ein deutsches Singspiel, der Rauchfangkehrer, Gluck empfiehlt  ihn nicht nur für die Scala, sondern auch für Paris, dem er Les Danaides, später Tarrare beschert. Man möchte aus diesen so unterschiedlichen Aktivitäten, und das Buch legt das nahe,  den Schluss ziehen, dass Salieri ein europäischer Komponist war.

Interessant ist auch, dass einige Opern Salieris, so Cublai  gran Kan dei Tartari (mit der ganz jungen Diana Damrau in Würzburg) erneut in unserer Zeit uraufgeführt wurden.

Der Autor bietet dem Leser neben seinem Text auch eine Fülle von Zitaten, die zu Lebzeiten Salieris entstanden, so Kritiken seiner Werke oder Berichte von Besuchen bei dem offensichtlich äußerst gastfreundlichen Komponisten, der nicht nur zu allen Festen, Hochzeiten wie Begräbnissen der kaiserlichen Familie, dazu noch jeweils drei Krönungen (in Frankfurt, Pressburg und Prag) als Komponist wie Dirigent wirken musste, sondern auch zahlreiche Schüler teils unentgeltlich unterrichtete. Ein Brief Zelters an Goethe ist besonders hervorzuheben ebenso wie ein Bericht von Friedrich Rochlitz.

Dem Jahr 1795 und damit drei wichtigen Opern, die zu dieser Zeit entstanden, ist ein eigenes Kapitel gewidmet, Il Mondo alla Rovescia, Heraklit und Demokrit sowie Palmira, Regina di Persia. In den folgenden Jahren entstehen auch ein Falstaff und eine Komposition für den Landsturm (!), der allerdings nicht gleichzusetzen ist mit der Landbevölkerung, so wie Ludwig XVIII. nicht „wieder eingesetzt“ wurde.

Der Autor bringt dem Leser auch den Menschen Salieri nahe, der nicht nur seine Ehefrau, sondern auch den einzigen Sohn und einige seiner zahlreichen Töchter begraben musste, der eine rührende Liebe zu drei Bäumen hegte und der beitrug zur Gründung der Gesellschaft der Wiener Musikfreunde sowie zur Einführung des Metronoms.

Der Verfasser beschränkt sich nicht auf eine reine Biografie, sondern bietet dem Leser auch  musikalische Analysen der Hauptwerke Salieris, dazu eine Einordnung und Einschätzung durch Zeitgenossen und Nachgeborene und kommt zum Schluss, dass die Bezeichnung „philosophischer Tonsetzer“ eine durchaus angemessene sei. Dem kann man nur zustimmen und sich über die Bereicherung, die das Buch für den Leser bedeutet, freuen (Morio Verlag, 315 Seiten, ISBN 978 3 945424 70 4; Im Anhang Abkürzungen, Währungen, Bildnachweis, Literatur, Index; . oben: Der berühmte Adolphe Nourrit als Salieris Tarare (Wiki)). Ingrid Wanja

 

Wieder mal Tenor

 

Nicht leicht macht es die neueste CD Plácido Domingos, sich mit ihr anzufreunden, denn bereits der Titel gibt dem nicht Spanichsprechenden Rätsel auf: Volver nennt sie sich, was, wie ein Blick ins Wörterbuch beweist, „Komm zurück“ bedeutet. Das ist der Titel des letzten, des zwölften Tracks, und auch die restlichen elf geben Rätsel auf, wenn sie nicht geläufig sind wie Adiós Granada oder Guantanamera oder sich leicht übersetzen lassen wie Historia de un amor oder Gracias a la vida. Das dünnleibige Booklet verschwendet eine der wenigen Seiten an das Foto eines Blätterdachs, statt wenigstens die spanischen Texte zu veröffentlichen. Immerhin äußert sich der Begleiter des Sängers auf der Gitarre, Pablo Sainz-Villegas, in vier Sprachen über die Zusammenarbeit mit Plácido Domingo, preist ihn und die Canzonen aus eher jüngerer Zeit und aus Spanien wie auch aus Mittel- und Südamerika.

Die Stimme des Sängers erweist sich sicherlich nicht als eine junge, aber auch nicht als eine alte und hinfällige, sie ist die eines Tenors, der die Mittellage liebt und besitzt durchaus noch erotisches Potential. Je höher, aber nie hoch, der Tenor klettert, desto härter klingt er, Geschmeidigkeit ist seine Sache nicht mehr, aber ab und zu ist, so bei Caimbra, ein Lächeln in der Stimme, kann sie angenehm lässig klingen, aber auch opernhafte Ausmaße annehmen, was bei dieser Musik kein Manko sein muss. Dass die Geschichte einer Liebe tragisch ausgeht, daran lässt der Klang des Tenors keinen Zweifel aufkommen, die CD, von der man vor dem Hören dachte: „Muss das sein?“ macht dann doch Spaß mit ihrem uneingeschränkten Bekenntnis zu corazón, amor und pasión. Dazu trägt ganz wesentlich der Begleiter auf der Gitarre bei, der mal straff, mal lässig, mal in Gefühl schwelgend, mal hart und unerbittlich ein geradezu genialer Begleiter ist. Die Tracks ohne den Sänger sind deshalb durchaus nicht die weniger interessanten. Man wird beim nächsten Besuch in einem Plattengeschäft nach seinem Namen Ausschau halten (Sony 8895416852). Ingrid Wanja

André Previn

 

Er war ein Mann der Rekorde. Nicht weniger als vier Oscars (bei elf Nominierungen) und zehn Grammy Awards (plus einen weiteren für sein Lebenswerk) heimste André Previn ein, der am 6. April 1929 (oder 1930, wie er selbst sagte) in Berlin als Andreas Ludwig Priwin geboren wurde und weit mehr war als bloß Dirigent. Er starb am 28. Februar 2019. Tatsächlich startete er seine Karriere als Arrangeur und Komponist für Hollywood-Filme. Insgesamt war er an mehr als 50 Filmen beteiligt. Diese großen Erfolge waren keineswegs absehbar gewesen, als seine jüdische Familie 1938 Deutschland verlassen musste und sich nach Zwischenstationen in Paris und New York schließlich in Los Angeles ansiedelte. Sein Vater Jack Previn alias Jakob Priwin (1885-1963) war Anwalt, Richter und Musiklehrer gewesen, seine Mutter Charlotte eine gebürtige Epstein (1891-1986). Die Niederlassung in L.A. beförderte freilich Previns Einstieg bei Metro-Goldwyn-Mayer, dem Studio, für welches er bereits ab 1946 anderthalb Jahrzehnte arbeitete. In rascher Abfolge heimste er Academy Awards für die Filmmusik zu Gigi (1958), Porgy & Bess (1959), Irma la Douce (1963) sowie My Fair Lady (1964) ein und war gar die bis heute einzige Person in der Geschichte der Oscar-Verleihungen, die im selben Jahr dreimal nominiert war (1961).

Seine Dirigentenlaufbahn ergab sich erst mit der Zeit, obschon er bereits zwischen 1946 und 1952 Dirigierunterricht bei Pierre Monteux nahm. 1967 wurde der Musikdirektor des Houston Symphony als Nachfolger von Sir John Barbirolli, um bereits im Folgejahr beim berühmten London Symphony Orchestra auf István Kertész zu folgen. Seine Wahl fiel 1968 überaus knapp aus, gab es doch teils erhebliche Vorbehalte gegen Previn, der sich bis dato vorwiegend einen Namen als Komponist, Arrangeur und Jazzpianist gemacht hatte. Allerdings sollte sich Previns Berufung für das LSO bald als Glücksfall erweisen, erreichte man mit der BBC-Sendereihe André Previn’s Music Night doch in der hektischen Umbruchszeit der späten 60er und 70er Jahre ein solch großes Publikum wie nie zuvor. Insgesamt elf Jahre, bis 1979, blieb Previn dort Chefdirigent und wurde anschließend 1992 Conductor Laureate und 2016 Conductor Emeritus. Bereits 1976 war er zusätzlich Musikdirektor des Pittsburgh Symphony Orchestra geworden (bis 1984). 1985 kehrte er als Chefdirigent des Royal Philharmonic Orchestra nach London zurück (bis 1988), übernahm jedoch auch gleichzeitig die künstlerische Leitung des Los Angeles Philharmonic. Die sich zuspitzende Auseinandersetzung mit Ernest Fleischmann, den Generalmanager des LA Phil, führte bereits 1989 zu Previns Rücktritt. Nur noch ein weiteres Mal übernahm er in der Folge die Leitung eines Orchesters, als er zwischen 2002 und 2006 den Osloer Philharmonikern vorstand. 2009 wurde er zumindest noch zum Ersten Gastdirigenten des NHK Symphony Orchestra in Tokio berufen. Sein letztes Konzert dirigierte er 2015 mit dem London Symphony Orchestra und Anne-Sophie Mutter. Auf dem Programm standen sein eigenes Violinkonzert und die von ihm geliebte zweite Sinfonie von Sergei Rachmaninow, welche er zweimal einspielte.

Anders als viele seiner Dirigentenkollegen, wusste sich André Previn bereits frühzeitig des Mediums Fernsehen zu bedienen. In unterschiedlichen Formaten wie Meet André Previn (1969), als „Mr. Andrew Preview“ in der Morecambe and Wise Christmas Show (1971 und 1972), durch die bereits genannte André Previn’s Music Night (1973, 1975 und 1976), Previn and the Pittsburgh (1977), zahllose Fernsehinterviews und Gastauftritte in Fernsehshows und Dokumentationen über Klassik, Pop und Jazz während der 1970er und 80er Jahre wurde er einem Millionenpublikum bekannt. Berührungsängste zu anderen Genres kannte er mitnichten und passte somit ideal in diese Ära.

André Previn war fünfmal verheiratet, zunächst mit der Jazzsängerin Betty Bennett (zwischen 1952 und 1957), anschließend mit der Songschreiberin Dory Langan (zwischen 1962 und 1969), mit der Schauspielerin Mia Farrow (zwischen 1970 und 1979), mit Heather Sneddon (zwischen 1982 und 1999) sowie mit der Violinistin Anne-Sophie Mutter (zwischen 2002 und 2006). 1996 wurde er von Königin Elisabeth II. zum Knight Commander of the Order of the British Empire (KBE) ernannt, durfte sich aber als Nichtstaatsbürger eines Commonwealth-Landes nicht Sir nennen. 2011 wurde er mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet und 2012 in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. André Previn starb am 28. Februar 2019 knapp 90-jährig nach langer Krankheit in seiner Wohnung in Manhattan. Er hinterlässt fünf Kinder und eine gewaltige Diskographie mit mehreren hundert Aufnahmen von klassischer, zeitgenössischer, Film- sowie Jazzmusik. Sein Œuvre als Komponist ist ebenfalls sehr umfangreich und umfasst u. a. zwei Opern, Theatermusik, Orchesterwerke (darunter sein Anne-Sophie Mutter gewidmetes Violinkonzert), Kammermusik, Soloklavierstücke und Kunstlieder. Gerüchten zufolge sollte er ein Stück für das Konzert zur Jahrhundertfeier des 1919 gegründeten Los Angeles Philharmonic komponieren. Dies wird nun vermutlich unaufgeführt bleiben müssen (Foto DG). Daniel Hauser

Ein Isländer in Berlin

 

Der aus Island stammende junge Tenor Benedikt Kristjánsson ist kein Unbekannter mehr. Mit Bach tourt er durch Deutschland, Europa und inzwischen weit darüber hinaus. Verpflichtungen führten ihn ins Konzerthaus Wien, zur Chapelle Royal in Versailles, in die Walt-Disney-Hall in Los Angeles und in den Concertgebouw Amsterdam. Er arbeitete mit zahlreichen Orchestern zusammen – darunter die Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die Gaechinger Cantorey, die Hofkapelle München, die Nederlandse Bachverening, die Akademie für Alte Musik Berlin und das Freiburger Barockorchester. Er sang auch an der Staatsoper in Berlin, im Theater Kiel und im Staatstheater Braunschweig. Bei diversen Festivals wie dem Musikfest Stuttgart, den Thüringer Bach-Wochen, den Händefestspielen in Halle und beim Festival Oude Muziek in Utrecht ist sein Name auf Besetzungszetteln zu finden. Es hat den Anschein, als finde er mit Barockmusik das Zentrum der klug geplanten Karriere. Und es ist an der Zeit, dass sich eine Firma seiner annimmt und eine der Bachschen Passionen auf CD herausbringt.

Benedikt Kristjánsson lebt seit mehr als zehn Jahren in Berlin, wo er auch regelmäßig auftritt. Das Foto oben ist ein Ausschnitt aus diesem Porträt, das uns der Sänger freundlicherweise zur Verfügung stellte. Foto: Antje Jandrig / website

Obwohl die Stimme zart und empfindsam, wenn nicht gar empfindlich wirkt, steht er die gewaltige Aufgabe beispielsweise in der Johannespassion – neben dem wortreichen Evangelisten auch noch vier Arien und ein Arioso – ohne jede Ermüdungserscheinung durch. Dabei erweckt er nicht den Eindruck, besonders ökonomisch vorgehen zu müssen, sich die Partie geschickt einzuteilen, hier etwas zu sparen, dafür an anderer Stelle zuzugeben. Kristjánsson ist immer zu hundert Prozent bei der Sache, bis zum letzten Ton. Seine Stärke ist neben dem unverwechselbaren jugendlichen Timbre, die Sicherheit in der Beherrschung der Partien. Er hat sie bis zum Perfektionismus studiert. So gut studiert, dass auch alle Besonderheiten und Eigenwilligkeiten der Sprache bewahrt bleiben. Nichts verwischt oder versinkt im Unbestimmten. Deutlichkeit wird zu dem, was sie sein soll und muss – nämlich Deutung. Obwohl er beim Singen in Konzerten kaum einen Blick in die Noten zu werfen braucht, hat er sie meist vor sich. Das ist ein schöner Brauch und Ausdruck des Respekts vor dem, was der Komponist niedergeschrieben hat. Er verfügt über eine sehr biegsame  Stimme mit festem Sitz. Sein Vortrag ist stilistisch makellos – und tief im Ausdruck, auf den er sich deshalb so konzentrieren kann, weil ihn keine technischen Probleme plagen. So ein Ebenmaß ist selten. In Händels Messiah hat der Tenor aus dem Stand die ersten Töne nach der einleitenden Symphony zu singen: „Comfort ye“. Kristjánsson lässt den ersten Ton so unmerklich anschwellen, dass es den Zuhörern zu Herzen geht. Ist diese heikle Stelle bewältigt, nimmt das Werk was wie von selbst Fahrt auf.

Benedikt Kristjánsson ist in Húsavík in Island geboren. Erst sechzehn Jahre alt, erhielt er seinen ersten Gesangsunterricht bei seiner Mutter Margrét Bóasdóttir an der Reykjavík Akademie für Gesang. Er war Mitglied und Solist in dem renommierten Jugendchor „Hamrahlioarkórinn“ unter der Leitung von Thorgerdur Ingolfsdottir und studierte schließlich bei dem auf Bach spezialisierten amerikanischen Tenor Scot Weir an der Musikhochschule „Hanns Eisler“ in Berlin. Meisterkurse belegte er bei Peter Schreier, Christa Ludwig, Elly Ameling, Robert Holl, Andreas Schmidt und Helmut Deutsch. Kristjánsson ist ein 1. Preisträger des Internationalen Gesangs-Wettbewerbs cantateBach in Greifswald und ein Publikumspreisträger des Internationalen Bach-Wettbewerb in Leipzig. Rüdiger Winter stellte ihm Fragen.

 

Sie stammen aus Island und leben derzeit in Berlin. Island hat 300 000 Einwohner, Berlin 3,5 Millionen. Warum also Berlin, wo es sehr eng und laut ist? Natürlich vermisse ich die isländische Natur sehr. Aber ich bin erstmal nach Berlin gekommen, um zu studieren, und ich bin in der Stadt geblieben, weil ich hier natürlich viel bessere Auftrittsmöglichkeiten habe als in Island. Berlin ist manchmal eng und laut, aber trotzdem eine wunderbare Stadt.

 

Benedikt Kristjánsson singt auch gern Volkslieder seiner isländischen Heimat – hier ein Screenshot aus einem Video auf seiner Website

Wir Deutschen wissen viel zu wenig über isländische Musik. Zuerst denken wir immer an Björk. Wie kann sich das ändern? Das muss sich gar nicht ändern! Björk finde ich ganz großartig. Ich hatte einmal das Vergnügen, mit ihr zu arbeiten. Sie hat ein paar Songs arrangiert für Kammerchor, Orgel und Beatboxer. Wir haben diese Titel dann für das isländischen Fernsehen aufgenommen. Sie ist eine tolle Person. Aber zurück zu der Frage. Ich hoffe sehr, dass die Deutschen die isländischen Volkslieder kennenlernen werden, wenn sie meine CD hören, die im April 2019 herauskommt. Sie erscheint beim Label Genuin. Zu hören ist ein Programm wie ich es schon beschrieben habe: Isländische Volkslieder a Capella gesungen, verbunden mit Liedern von Franz Schubert.

Auf Ihrer Homepage gibt es bereits interessanten Clip. Auf ein isländisches Volkslied folgt ohne Pause „Du bist die Ruh“ von Schubert. Es ist, als würden beide Lieder zusammengehören. Empfinden Sie das auch so? Ja, ich habe tatsächlich versucht, die Lieder zu verbinden. Die Texte passen gut zusammen, und die Tonarten auch. Das Volkslied erklingt in der Phrygischen Kirchentonart, wo der Grundton „Es“ ist. Das Schubert Lied „Du bist die Ruh“ erklingt dann in Es-Dur. Somit ist der erste Es-Dur-Klang in dem Schubert Lied eine Art „Auflösung“ von der Kirchentonart. So ist es zumindest gedacht.

 

Sie nahmen an Meisterkursen mit bedeutenden Sängern teil. Was haben Sie von Peter Schreier gelernt, der hier in Deutschland noch immer sehr verehrt wird? Ich habe schon sehr viel von Peter Schreier gelernt, bevor ich die Ehre hatte, ihn persönlich kennenzulernen. In Vorbereitung meines ersten Evangelisten in der Johannespassion von Bach habe ich alles mir alles genau angehört, was er gemacht hat. Ich finde, dass er einen ganz neuen Maßstab gesetzt hat mit seiner Interpretation des Evangelisten. Als ich an seinem Meisterkurs teilnahm, war er eigentlich sehr zufrieden mit mir, und das war für mich natürlich ein sehr schönes Gefühl. Es handelte sich um einen Liedkurs. Und als ich das Lied „Neue Liebe“ von Felix Mendelssohn gesungen habe, hatte ich etwas Angst vor einem hohen Ton. Das hat Schreier natürlich gleich bemerkt, und mir gesagt: „Es muss ja nicht alles schön klingen!“ Dadurch hat er mir Mut gemacht und ich konnte den Ton dann ohne Angst singen, und wahrscheinlich genau so, wie er es haben wollte.

 

Peter Schreier hat sich nie auf ein Genre festgelegt – und dirigierte sogar. Oper, Lied und Oratorium gehörten für ihn zusammen. Wie ist das bei Ihnen? Ja, das sehe ich auch so. Aber jede Stimme ist anders, und ich denke, dass meine Stimme begrenzter ist als die von Schreier. Er hat in seine Karriere Bach, Mozart und sogar Wagner gesungen. Ich komme mit Bach sehr gut klar, und bei Mozart stellt sich schon die stilistische Frage, ob meine Stimme die richtige dafür ist dafür? Und die Wagner-Opern werde ich höchstwahrscheinlich nur als Zuhörer genießen. Ich habe in meinem Heimatland ein kleines Bach-Kantaten-Projekt gestaltet, bei dem ich singe und dirigiere. Das machte mir sehr viel Spaß, und ich kann mir schon vorstellen, in der Zukunft mehr solche Sachen zu machen.

 

Wird es nicht Zeit für eine neue Rolle auf der Opernbühne? Doch. Letztes Jahr konnte ich zwei Haute-Contre-Rollen singen, und ich fühlte mich da sehr wohl. Deshalb möchte unbedingt in diese Richtung weiterarbeiten. Eine Traumrolle ist Platée von Rameau. Irgendwann muss ich auch einen Tamino ausprobieren …

 

Als Schäfer Acis in Händels Acis und Galetea bei den dem Komponisten gewidmeten Festspielen in Halle. Das Foto entnahmen wir mit Dank von der Website des Sängers, wo auch ein filmischer Ausschnitt zu sehen ist: www.kristjansson-tenor.com

Als ich Sie in der Johannespassion von Bach hörte, ist mir aufgefallen, wie genau Sie singen. Sie treffen auf Anhieb jeden Ton. Ist das Begabung oder nur harte Arbeit? Ich denke, es ist immer eine Mischung von beiden. Ich habe eine klare Stimme, und mir fällt es leicht, ohne Vibrato zu singen. Das sind Eigenschaften, die für den Evangelisten sehr wichtig sind, weil es dort sehr viel um die Textverständlichkeit geht. Mein Traum als Sänger war es immer, den Evangelisten zu singen – und insofern arbeite ich natürlich sehr viel daran, es so gut zu machen wie es mir möglich ist, und versuche mich immer weiter zu verbessern.

 

Sie sind stets sehr gut zu verstehen – ein Vorzug, der nicht bei allen Sängern anzutreffen ist. Ihr Deutsch ist makellos. Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt? Vielen Dank, das freut mich zu hören. Ich war als Kind ein Jahr auf der Grundschule in Heidelberg und habe in diesem Jahr sehr gut Deutsch gelernt. 2008 begann ich mein Studium in Berlin und wohne nun fast seit elf Jahren in dieser Stadt. Normalerweise ist die Musik auf den Text geschrieben und nicht umgekehrt. Deswegen finde ich es gerade sehr wichtig, den Text so gut auszusprechen, dass man ihn auch versteht. Natürlich gibt es nicht nur den einen richtigen Weg, den Text zu verstehen. Wenn ich aber einen Text selbst vollkommen verstehe, dann kann ich ihn auch den durch meinen Gesang für andere verständlich machen. Daran glaube ich.

 

Haben Sie musikalisch Vorlieben? Was hören Sie, wenn sie nicht singen? Zu Hause oder unterwegs vom Smartphone? Wenn ich nicht etwas höre, was ich gerade für die Arbeit vorbereiten muss, dann höre ich zum Beispiel Frank Sinatra, Nat King Cole oder die King’s Singers. Ich höre auch immer gerne Aufnahmen von Fritz Wunderlich.

Frau singt Frau

 

„Du bist wie eine Blume“ würde man wohl schwerlich auf einer Sammlung kroatischer Kunstlieder erwarten. Neben der Heine-Vertonung finden sich unter den Vorlagen auch Gedichte Goethes, Lenaus, „An die Tanne“ aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn und ein viergliedriger Zyklus von Anna Ritter, die um 1900 erste Gedichtsammlungen veröffentliche und sich als Mitarbeiterin der „Gartenlaube“– und der Stollwerck-Sammelalben einen Namen machte. Die sieben Komponisten, den sich die kroatische Mezzosopranistin und Pädagogin Nataša Antoniazzo zusammen mit ihrer Begleiterin Mia Elezvić in September 2018 in Zagreb widmete, dürften hierzulande weitgehend unbekannt sein (Antes BM319302). Mit Ausnahme vielleicht von Ivan Zajc (1832-1914), dessen Nikola Subic Zrinjski von 1876 heute noch zum Standardrepertoire kroatischer Bühnen gehört, und dem Begründer der kroatischen Oper Vatroslav Lisinski (1819-54), dessen Liebe und Arglist von 1846 als Antwort auf die kulturelle Vorherrschaft Ungarns eine eigenständige kroatische Oper begründete.

Als Vertreter der Moderne werden Gräfin Dora Pejačević und Blagoje Bersa bezeichnet, deren Werke zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals erklangen und dem Klavierpart eine wichtige Stimme geben. Der Schwerpunkt mit der Auswahl deutscher Gedichte soll das kroatische Kunstlied einem internationalen Publikum schmackhaft machen, was den Liedern, die im Stil der romantischer Salonlieder des 19. Jahrhunderts gehalten sind, ohne weiteres gelingt. Antoniazzos schwerer Mezzosopran schattiert den schwermütigen Stimmungshalt dunkel ab – darunter Bersas „La fête des morts“ und als umfangreichstes Beispiel Bersas Allerseelen-Lied „Seh duš dan“ – und verstärkt die oftmals melancholische Grundierung der Lieder.
Eine sehr schöne – klug zusammengestellte, ansprechend gestaltete und illustrierte – Auswahl von Liedern Bohuslav Martinůs kommt aus Prag (Supraphon SU 4235-2), wo die Sopranistin Martina Janková und der Bariton Tomás Král mit dem Pianisten Ivo Kahánek im Juni 2017 im Martinů-Saal der Musikhochschule vier Lied-Zyklen Martinůs nach slowakisch-mährischer Volkspoesie aufnahmen. In der Kürze liegt die Würze. 52 Lieder auf einer CD! Möglich wird dies durch die Liedchen auf einer Seite und die Liedchen auf zwei Seiten, prägnanten und überaus reizvollen Minutenliedern aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die Martinů 1943 bzw. 1944 zu Zyklen mit jeweils sieben Liedern und 8 Minuten Aufführungsdauer zusammenband. Außerdem die dreißig im Entstehungsjahr 1920 uraufgeführten Slowakischen Lieder und die acht 1942 Jan Masaryk gewidmeten in New York entstandenen und im Folgejahr dort von Jarmila Novotná – die in ihrer Autobiografie schrieb, „I wore a folk costume, which the audience loved“ – erstmals aufgeführten Lieder Der neue Spaliček; Spaliček war Martinůs 1933 in Prag uraufgeführtes Ballett nach volkstümlichen Motiven. Der auch in seinen Bühnenwerken niemals geschwätzig ausholende Martinů zeigt sich in den Liedern von einer ausgesprochen liebenswürdigen Seite. Geradezu berührend die Schlichtheit, der gerade Ausdruck und die dennoch equilibristische Vielseitigkeit der Lieder, über die Martinů sagte, dass er sie „schrieb, wenn er nicht komponierte“. Allein die ungemeine Fülle seiner Lieder zeigt, dass sie für ihn schwerlich zweitrangig waren, sondern eher ein Feld experimenteller, kühner Fingerübungen darstellten. Janková und Král bringen die Lieder ausgezeichnet zur Geltung, sie mit einem reschen Sopran, er mit einem sprechenden Bariton. Gerade in den lapidaren, durchaus originellen im amerikanischen Exil entstandenen Liedchen auf einer Seite bzw. Liedchen auf zwei Seiten bestechen sie durch rhythmische Flexibilität und hüpfende Hurtigkeit; leider hat meine CD immer wieder Aussetzer. Die während eines Sommers in der Slowakei 1920 entstandene Bearbeitung einer Sammlung von Volksliedern für Klavier und Gesang, die Slowakischen Lieder, verlangen den Solisten expressiveren Ausdruck und größere stimmliche Reichweite ab, was der Sopranistin mit drallem Temperament oder kräftigem Ausdruck (Nr. 51) und dem Bariton im zartesten Piano, beispielsweise im „Abendstern“ (Nr. 23) und „Verlassenen Liebhaber“ (Nr. 46), am schönsten gelingt; stets unterstützt vom musikantisch prachtvollen Klavierton des Ivo Kahánek. „Im Unterschied beispielsweise zu Janacek, der sein ganzes Leben lang mit Volksliedern in Berührung stand und diese auch selbst sammele und theoretisch auswerte“, so im Beiheft, „kannte Martinů Volkslieder praktisch nur aus gedruckten Sammlungen“.
Frau singt Frauen.

 

Neben fünf Liedern Clara Schumanns heißt das für die polnische Mezzosopranistin Urszula Kryger in ihrem Vierländer-Umblick „Women of Music“ Lieder von Irène Wieniawski, Cécile Chaminade und Agathe Backer-Grøndahl. Die in Belgien geborene jüngste Tochter des polnischen Geigers Henryk Wieniawski, die sowohl unter ihrem Geburtsnamen Wieniawski wie unter ihrem Pseudonym Poldowski veröffentlichte, wurde ausgebildet in Brüssel, Paris und London, wo sie sich niederließ und 1901 einen Nachkommen des Duke of Marlborough heiratete. Von ihren knapp zwei Dutzend Verlaine-Vertonungen finden sich auf der CD (Dux 1524) die impressionistisch durchwobenen „L’heure exquise“ und „Cythère“, dazu die nach dem Tod ihres Erstgeborenen entstandene „Berceuse d’amorique“ mit dem Text von Anatole le Braz. Wie im Fall der künstlerisch umtriebigen, kosmopolitischen Komponistin und Salonière Irène Wieniawski, sind auch die Biografien der Französin Cécile Chaminade (1857-1944) und der Norwegerin Agathe Backer-Grøndahl (1847-1907, die ebenso wie Wieniawski sehr früh ihre musikalische Begabung unter Beweis stellten und als Pianistinnen international gefeiert wurden – die von Grieg geförderte Backer-Grøndahl bezeichnete Shaw als Nachfolgerin Clara Schumanns – geradezu aufregend und zeigen wie vernetzt die Musikwelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts war. Während Chaminades Oeuvre, darunter die wirkungsvollen und brillanten Lieder, eine kleine Renaissance erfahren hat, gilt es die durchaus anspruchsvollen, zwischen 1872 und 1907 entstandenen Lieder der Backer-Grøndahl zu entdecken, darunter die vier Lieder op. 65 von 1904. Alle Lieder sind weit mehr als Gelegenheitsstücke, deren Klavierpart Agata Górska-Kolodziejska mit großer Achtsamkeit spielt, Kryger zeigt als vielseitige und stilistisch versierte Liedsängerin. Die nur knapp 40 Minuten Spielzeit verhindern, dass unser Interesse nachlässt.
Zu Krygers umfangreicher Diskographie gehört auch eine Einspielung der Lieder Chopin. DUX stellt jetzt eine bereits 1988 entstandenen Aufnahme ihrer Landsmännin Henryka Januszewska zur Verfügung (Dux 1497), die wegen der stimmlichen Delikatesse und des sprechenden Ausdrucks Januszewskas sowie Marek Drewnowskis sensibler Klavierbegleitung eine Wiederveröffentlichung verdient hat. Der Reiz der über einen Zeitraum von zwanzig Jahren entstandenen und nach Chopins Tod als Sammlung veröffentlichten Lieder entfaltet sich in dieser aparten Aufnahme auf besondere Weise. Rolf Fath

Vielsaitiges und Mehrstimmiges

 

Endlich. Vor nicht allzu langer Zeit konnte man noch zurecht die heutzutage schon auffällige Missachtung des französischen Komponisten François-Adrien Boieldieu (1775-1834) durch die Schallplattenfirmen beklagen. Von André Grétry (1741-1813) kurz vor seinem Tode zu seinem würdigen Nachfolger auf dem Musiktheater erklärt, prägte der in Rouen geborene Boieldieu das Genre der opéra comique zur Zeit des Empire, der Restauration und der beginnenden Julimonarchie wie kaum ein anderer. Eine Art Wunderkind, wurde er von seinen Zeitgenossen gar respektvoll „der französische Mozart“ genannt. Seine erste abendfüllende Oper schrieb er 1793 mit kaum achtzehn Jahren und drückte dem Musikleben Frankreichs und zeitweilig auch Russlands von da an bis in die frühen 1830er Jahre seinen Stempel auf.

Dass das Interesse an Boieldieu derart nachlassen würde, war noch vor einem halben Jahrhundert völlig undenkbar erschienen. In den 1960er und frühen 1970er Jahren legte die französische Rundfunkanstalt ORTF ein paar Gesamteinspielungen seiner Opern vor, darunter Le Calife de Bagdad unter Louis Fourestier, Jean de Paris unter Jean-Paul Kréder und Les Voitures versées unter Jean Brébion. Besonders La Dame blanche, sein größter Erfolg, war lange Zeit ein Dauerbrenner, wurde in Deutschland in Übersetzung gespielt und wurde häufig aufgenommen, so etwa 1962 in Paris mit Michel Sénéchal unter Pierre Stoll, 1964 mit Nicolai Gedda in Hilversum unter Jean Fournet und zuletzt 1996 wiederum in Paris mit durchaus namhafter Besetzung in einer EMI-Produktion unter Marc Minkowski.

Viel mehr ist in Sachen Boieldieu seither tatsächlich nicht erschienen, so dass diese neue cpo-Produktion (cpo 555 244-2), welche nicht nur sechs Opernouvertüren, sondern auch das Klavierkonzert beinhaltet, mit Freude begrüßt werden darf. Es brauchte wohl wirklich ein deutsches Label, einen englischen Dirigenten sowie ein italo-schweizerisches Orchester, um diesem französischen Compositeur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der heute selbst auf Frankreichs Opernbühnen ein unverständliches Schattendasein führt.

Die ältere EMI-Aufnahme, wieder bei Warner erschienen: Boieldieus „Dame Blanche“ unter Minkowski

Inkludiert wurden auf der knapp 70-minütigen CD die Ouvertüren zu den Opern Le Calife de Bagdad, Emma ou La Prisonnière, La Dame Blanche, Jean de Paris, Les Voitures versées sowie Ma Tante Aurore, was einen Zeitraum von 1800 bis 1825 und damit den Höhepunkt des Wirkens Boieldieus abdeckt. Mit dem Calife de Bagdad widmete sich der Komponist der an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert besonders beliebten sogenannten „Türkenoper“. Während der gesamten napoleonischen Ära konnte ihr keine andere opéra comique den Rang als meistgespielte streitig machen, was Boieldieu mit einem Schlage zu einem der erfolgreichsten Komponisten in Paris machte. Bei der bereits im Vorjahr 1799 fertiggestellten Oper Emma ou La Prisonnière handelte es sich um die erste Kooperation zwischen Boieldieu und dem deutlich älteren Luigi Cherubini, von dem auch die Ouvertüre stammt. (Noch Boieldieus letzte Oper La Marquise de Brinvilliers von 1831 war übrigens eine Gemeinschaftsproduktion mit Cherubini und Auber.) In gewissen Details wie den nach der Durchführung wiederkehrenden Einleitungstakten ist ein deutlicher Unterschied zu Boieldieus eigenen Ouvertüren feststellbar. Dass diese aus Cherubinis Feder stammende Introduktion gleichwohl hier aufgenommen wurde, ermöglicht den nicht uninteressanten Direktvergleich. Mit der besonders spritzigen und an Mozart erinnernden Ouvertüre zu Les Voitures versées ist auch Boieldieus Sankt Petersburger Zeit (1803-1810) am Hofe des Zaren Alexander I. berücksichtigt worden. Die ursprüngliche Komposition von 1808 wurde 1820 für Paris freilich noch einmal überarbeitet und hielt sich bis 1868 ununterbrochen im Repertoire. Der ungewöhnliche und zunächst unverständliche Titel Die umgeworfenen Kutschen referiert auf die zum Schmunzeln anregende Handlung, in der ein gelangweilter Schlossherr in Anjou durch den bewusst beibehaltenen schlechten Zustand der angrenzenden Straße dafür sorgt, dass Reisende dort regelmäßig unfreiwillig liegenbleiben und ihm gezwungenermaßen Gesellschaft leisten. Jean de Paris von 1812 mit seiner ins Spätmittelalter gelegten Handlung markiert Boieldieus Wiederkehr in die französische Hauptstadt und erwies sich ebenfalls als sensationeller Erfolg. Dies gilt schließlich noch mehr für die landläufig noch heute bekannte Oper La Dame blanche mit ihrer, dem damaligen Publikumsgeschmack entgegenkommenden Spukgeschichte auf einem schottischen Schloss. Mit diesem Werk konnte Boieldieu auf dem Höhepunkt der Restauration im Jahre 1825 den größten Triumph seines Lebens feiern; es wurde geradezu zum Musterbeispiel für eine opéra comique. Kein anderes Werk dieser Gattung konnte auch international solche Begeisterungsstürme hervorrufen, wovon die überaus positive Aufnahme durch Carl Maria von Weber, Franz Liszt und selbst Richard Wagner zeugt. All diesen Ouvertüren ist das Melodiöse und Kantable gemein, was wiederum den Mozart’schen Einfluss offenbart, ohne dass Boieldieu Gefahr liefe, als bloßer Epigone zu gelten.

Repräsentiert La Dame blanche den gereiften Boieldieu auf der Höhe des Lebens, vermittelt das ebenfalls enthaltene knapp halbstündige Klavierkonzert in F-Dur einen guten Eindruck von den Anfängen dieses Komponisten in seiner Heimatstadt Rouen. Bereits die Uraufführung 1792 vermittelte einen Eindruck vom Können des gerade Siebzehnjährigen. Obwohl nur zweisätzig – und damit von seinem bekannteren Harfenkonzert in drei Sätzen von 1800 verschieden –, erweist sich dieses Konzert als schönes Beispiel für die von den Wirren der Französischen Revolution musikalisch offenbar noch nicht beeinflussten Musik der frühen 1790er Jahre. Der gewichtige, nicht weniger als 17 Minuten lange erste Satz nimmt fast zwei Drittel des Konzertes ein. Mittels einer flotten Coda am Ende des neunminütigen zweiten Satzes wird gleichsam der fehlende Rondo-Satz ausgeglichen.

Lange Jahre die einzige Aufnahme: Boieldieus „Dame blanche“ von Vega, später bei Accord/Universal

Für Vergleichsaufnahmen muss man weit zurückgehen. So liegen Le Calife de Bagdad, Jean de Paris und Les Voitures versées wie auch das Klavierkonzert lediglich in mittlerweile doch betagten Einspielungen vor, die ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel haben. So verwundert es mitnichten, dass diesen die Frische fehlt, welche das bestens disponierte Orchestra della Svizzera italiana unter Howard Griffiths herüberbringt, der für cpo bereits u. a. einen kompletten Zyklus der Sinfonien von Ferdinand Ries, die sämtlichen Ouvertüren von Weber sowie die Sinfonien von Louis Spohr vorlegte. Das dort gezeigte hohe künstlerische Niveau wird ohne Einschränkungen auch bei den hier vorliegenden Boieldieu-Aufnahmen erreicht. Bei den Ouvertüren zu Emma ou Prisonnière und Ma

Tante Aurore dürfte es sich sogar um Weltersteinspielungen handeln, auch wenn dies nicht gesondert gekennzeichnet wurde. Erstaunlicherweise haben die Musiker aus der italienischsprachigen Schweiz unter Griffiths aber auch die diskographisch vergleichsweise gut dokumentierte Ouvertüre zu La Dame blanche derart mustergültig zustande gebracht, dass diese vollblutige und paukenstarke Interpretation alle mir bekannten Vergleichsaufnahmen überflügelt. Tatsächlich nimmt sich Griffiths Zeit, hat bei eigentlich jedem der vergleichbaren Werke langsamere Spielzeiten als bis dato üblich. Mit neun Minuten benötigt er bei La Dame blanche etwa fast zwei Minuten mehr als anderswo, doch weiß er die gewonnene Zeit zu nutzen und überzeugend auszugestalten.

Die in Wien als Professorin wirkende und diskographisch bereits breit aufgestellte serbische Pianistin Nataša Veljković zeigt sich als profund agierende Solistin im stiefmütterlich behandelten Klavierkonzert Boieldieus. Das Orchester aus Lugano, obwohl auf modernem Instrumentarium spielend, hat sich doch merklich einer historisch informierten Spielweise angenähert, was sich als weiterer großer Pluspunkt dieser Produktion erweist, die mit einem lehrreichen deutsch-englischen Beiheft ausgestattet wurde (Einleitung: Markus Schneider). Verbunden mit dem formidablen Klangerlebnis kann man hier nur von referenzträchtigen Einspielungen sprechen, die wohl auf lange Zeit die neue Messlatte gesetzt haben. Unbedingt empfehlenswert (Boieldieu: Klavierkonzert; Opernouvertüren/ Nataša Veljković, Klavier/ Orchestra della Svizzera italiana/Howard Griffiths/ cpo 555 244-2/Aufnahmedatum: 2015/Erscheinungsdatum: 2018).

 

Sogar eine deutschsprachige Aufnahme gibt es von der „Weißen Dame“ Boieildieus, vom Jugendtreffen in Schloss Rheuinsberg 2010 (Genuin GEN 10534)

Da passt eine Erinnerung an die bislang einzige „offiziell“ herausgegebene deutschsprachige Aufnahme der Weißen Dame vom Jugendtreffen in Schloss Rheinsberg 2008 bei der Firma Genuin (2 CD GEN 10534)  sehr gut, die Daniel Hauser noch einmal vorstellt:  Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat es mit dem einstmaligen Vorzeigestück der französischen opéra comique des 19. Jahrhunderts, La Dame blanche von François-Adrien Boieldieu, nicht allzu gut gemeint. Aufführungen dieses Werkes muss man heutzutage gleichsam mit der Lupe suchen, von Einspielungen gar nicht zu reden. Die meisten derselben datieren in die 1940er bis 60er Jahre. Bereits die EMI-Aufnahme unter Marc Minkowski von 1996 war ein später Nachzügler. So betrachtet, ist es wirklich begrüßenswert, dass das Label Genuin 2010 eine deutschsprachige Einspielung der Kammeroper Schloss Rheinsberg vorlegte (GEN 10534). Tatsächlich stellt diese die einzige greifbare Gesamtaufnahme der Weißen Dame auf Deutsch dar (sieht man von einer Verfilmung von 1960 ab, der eine gekürzte deutschsprachige Fassung unter dem Dirigat von Siegfried Köhler zugrunde liegt). Dies erschwert die direkte Vergleichbarkeit mit Aufnahmen in Originalsprache, zumal es sich bei der vorliegenden Produktion noch dazu um eine mit Amateuren handelt. Dies muss kein grundsätzlicher Makel sein, handelt es sich doch um ein durchaus renommiertes Festival für Nachwuchsstimmen. Da man sich zu einer Veröffentlichung entschieden hat, muss man sich allerdings auch der Konkurrenz stellen. Die vorliegende Aufnahme ist eine Koproduktion mit dem Deutschlandradio und wurde zwischen dem 23. und dem 26. Juli 2008 im Schlosstheater Rheinsberg mitgeschnitten. Man hat also eine Live-Montage mit allen Vor- und Nachteilen vor sich: Studiosterilität kann ausgeschlossen werden, doch wird man mit Bühnengeräuschen leben müssen. Insgesamt ist das Klangbild aber ohne Fehl und Tadel.

Deutlich problematischer und wirklicher Schwachpunkt dieser Einspielung ist die hier gewählte Lösung hinsichtlich der gesprochenen Texte, die weggelassen wurden (vielleicht auch wegen der vielen nicht-deutschsprachigen Mitwirkenden, was für eine in Deutsch gesungene Oper doch sicher problematisch ist/ G. H.). Dies wäre noch verkraftbar, hätte man sich nicht einer fragwürdigen Alternative mittels eines Schauspielers in der Rolle des Librettisten Eugène Scribe bedient, der durch den Handlungsablauf führt. Matthias Hinz, der auch den Erzähler, die Statue und den Friedensrichter gleich mit übernimmt, neigt nämlich zu einem auf die Dauer nervtötenden Overacting, welches sich schnell abnutzt und weitere Steigerungen gar nicht erst ermöglicht. Ob es sich hier um einen sonderbaren Regieeinfall (Inszenierung vom ehemaligen Counter Axel Köhler, der auch für die deutsche Übersetzung verantwortlich zeichnet) handelt, kann nicht abschließend geklärt werden. Dass sogar die hübsche Ouvertüre – Boieldieus vermutlich beste – dafür unterbrochen wird, ist eigentlich indiskutabel. Zumindest für die reine Tonaufnahme hätte man besser ganz darauf verzichtet und es allein bei den Gesangsnummern belassen.

Die Besetzung mit jungen Stimmen ist soweit sehr ordentlich, wenn auch in keinem Falle maßstabsetzend, was man bei einer solchen Produktion ehrlicherweise aber auch nicht voraussetzen darf.  Amar Muchhala als George Brown steigert sich nach Startschwierigkeiten im Verlaufe der Oper doch glücklicherweise noch. Direktvergleiche in der Cavatine Komm, o holde Dame mit so berühmten Vorgängern wie Nicolai Gedda, Michel Sénéchal oder gar David Devriès sollte man indes gar nicht erst bemühen, was nicht nur an der deutschen Übersetzung liegt, wie man bei Fritz Wunderlich oder Josef Traxel nachhören kann. Alles in allem bewältigt Muchhala die Partie aber zufriedenstellend.

Die übrige Besetzung ist durchaus solide, wobei Mara Mastalir in der Rolle der Jenny vielleicht am meisten überzeugen kann. Paola Leggeri als Anna versucht ihrer eigentlich lyrischen Stimme gelegentlich etwas forciert Dramatik aufzuerlegen. Rollendeckend Anne Catherina Wagner als Margarethe, Christopher O’Connor als Dikson und Dionisos Tsantinis als Gaveston.

Der Chor und das RIAS Jugendorchester unter Gernot Schulz liefern zwar keine neue Referenz ab, beweisen aber doch das überwiegend hohe künstlerische Niveau der Nachwuchskräfte. Im direkten Vergleich wäre indes der alten Live-Aufnahme unter Jean Fournet von 1964 (Melodram; bereits in Stereo) der Vorzug zu geben, die summa summarum bis heute die überzeugendste Gesamtaufnahme dieser mittlerweile etwas verkannten Oper bleibt. Freunde deutschsprachiger Aufnahmen französischer Opern kommen trotz der benannten Einschränkungen nicht an dieser Produktion vorbei. Daniel Hauser

 

Auf den ersten Blick wundert man sich womöglich, dass diese – so viel vorweg – wichtigen Einspielungen gerade jetzt erscheinen, ist doch gar kein Jubiläumsjahr für Albert Lortzing (1801-1851), berühmt geworden als Hauptrepräsentant der deutschen Spieloper, in Sicht. Einmal mehr steht Naxos (8.573824) hinter dem Vorhaben, einmal mehr wurde ein eher untypischer Klangkörper, das Opernorchester von Malmö in Schweden, dafür ausgewählt. Mit Jun Märkl hat man indes einen mittlerweile altbekannten Dirigenten für das Projekt gewinnen können, der für Naxos u. a. bereits einige seltene Wagner-Ouvertüren einspielte.

Geht man vorbehaltlos an das vorliegende Projekt heran, so kann man es nur würdigen, wurden doch nicht weniger als neun Ouvertüren zu Lortzings Opern vorgelegt, davon einige selten oder gar bis dato überhaupt nicht eingespielt. Tatsächlich schrieb der Komponist sogar noch weitere Bühnenwerke, so dass man sich gewünscht hätte, Naxos hätte lieber ein paar derselben berücksichtigt (darunter Ali Pascha von Janina, Casanova oder Rolands Knappen), anstatt die vergleichsweise gut dokumentierten Opern Der Wildschütz und Zar und Zimmermann mit aufzunehmen. Geschenkt. Jedenfalls gäbe es noch Potential für eine zweite CD.

Die deutschsprachige Spieloper leidet heute unter einer ähnlichen Problematik wie die französische opéra comique, ihr eigentliches Vorbild, da sie mit ihrem kleinbürgerlich-biedermeierlichen Ambiente und den gesprochenen Dialogen international einen schweren Stand hat und sich zudem für das zeitgenössische Regietheater nur sehr bedingt anbietet. Rein diskographisch sieht die Situation bei genauerem Hinsehen gar nicht einmal so trostlos auch, wenngleich nahezu alle vorliegenden Gesamtaufnahmen in etwa ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel haben.

Losgelöst von den jeweiligen Bühnenwerken, gleichsam als reine Instrumentalmusik und dergestalt vom Komponisten gar nicht vorgesehen, üben diese Ouvertüren gleichwohl einen ganz eigenen Reiz aus, wie man dies unlängst bei der Naxos-Produktion mit Opernouvertüren von Daniel-François-Esprit Auber, einem französischen Zeitgenossen Lortzings und dem neben François-Adrien Boieldieu wohl bedeutendsten Vertreter der opéra comique in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nachvollziehen konnte (auch wenn dort ausgerechnet der Esprit fehlte – nomen est omen).

Zumindest vom Wildschütz und Waffenschmied, von Zar und Zimmermann, Hans Sachs und Undine, ja selbst von Regina und der Opernprobe gibt es Gesamteinspielungen in Stereo. Märkls Neueinspielungen können sich durchaus gut behaupten, selbst wenn Lortzing-erfahrene Dirigenten wie Robert Heger, Heinz Wallberg und Fritz Lehan womöglich noch einen Hauch idiomatischere Ergebnisse erzielt haben mögen. Gar keine Konkurrenz gibt es beim hier erst kürzlich besprochenen Weihnachtsabend, wo nun mit der beinahe kammermusikalisch anmutenden Ouvertüre (ohne Posaunen, Hörner und Schlagwerk) endlich ein erster musikalischer Auszug vorliegt. Allein dies ist die CD schon wert. Und auch die Ouvertüre zu Andreas Hofer wurde zumindest im Stereozeitalter augenscheinlich noch nicht vorgelegt.

Was fällt interpretatorisch auf? Vergleich man die Spielzeiten mit den älteren Aufnahmen, dann lässt es Märkl (durchaus nicht zum Nachteil) gemessener und dadurch auch gewichtiger angehen. So dirigiert etwa Fritz Lehan die Waffenschmied-Ouvertüre anderthalb Minuten flotter, ist Otmar Suitner bei der (sehr kurzen) Ouvertüre zur Opernprobe eine halbe Minute schneller, Heinz Wallberg in jener zum Wildschütz gar fast zwei Minuten und Max Loy bei derjenigen zu Hans Sachs eine Minute. Wie gesagt, ist das per se kein Qualitätsmerkmal, doch ist es erfreulich, dass weithin verkannten Werke nun in einer deutlich anderen Lesart zu hören sind. Unter den inkludierten Werken sticht Regina, die zu Lortzings Lebzeiten nie aufgeführte „Freiheitsoper“, einigermaßen hervor, handelt es sich doch um sein ungewöhnlichstes Bühnenwerk mit deutlicher politischer Aussage in der Gemengelage der Revolution von 1848 – und hübschem Cellosolo in der Ouvertüre. Dies zeigt auch, dass der häufig unterschätzte Komponist durchaus zu dramatischen Werken imstande war, was bereits insbesondere in der wuchtigen und bedeutungsschweren Undine-Ouvertüre anklang.

Auch aufgrund der tadellosen Darbietung durch das Malmöer Opernorchester (wunderbar strahlende Blechbläser und sehr knallige Pauken) und der überzeugenden Klangqualität dieser im Juni 2017 im Opernhaus von Malmö entstandenen Einspielungen darf diese diskographische Erweiterung des Lortzing‘schen Œuvre als geglückt bezeichnet werden (Lortzing: Opernouvertüren/ Malmö Opera Orchestra/Jun Märkl/ Naxos  8.573824/ Aufnahme: 2017/ Erscheinungsdatum: 2019) Daniel Hauser

 

In Erinnerungen schwelgen kann wer die mittlere der drei CDs (Opera Ouvertures, Choruses and Duets) mit Chören aus der Berliner Staatsoper vor allem der Siebziger  des vergangenen Jahrhunderts stammenden Aufnahmen hört. Damals konnte man sich für 15 der 25 im Zwangsumtausch erworbenen Ostmark an der Kasse unter den Linden bei Tante Ernestine eine Karte auf dem besten Platz des Hauses kaufen, für die restlichen zehn Ostmark im Kronprinzessinnenpalais ein Menu mit der immer gleich bleibenden Wahl zwischen Weißkraut- und Rotkrautsalat als Sättigungsbeilage verzehren oder Noten, und die sogar von in der DDR nie gespielten Werken wie Adriana Lecouvreur, kaufen. Einheitsmenu und billige Klavierauszüge gehören der unwiederbringlichen Vergangenheit an, die Aufnahmen mit dem Chor der Staatsoper unter Ernst Stoy und der Staatskapelle unter Otmar Suitner erfreuen auch 2019 durch ihre Frische, ihren Elan, weniger durch die Bereitschaft, den Hörer erkennen zu lassen, in welcher Sprache gesungen wird, denn was wohl Italienisch oder Französisch sein soll, ist unverständliches Kauderwelsch, während die Tracks mit Wagner- oder Mozart (Zauberflöte), von Flotow und Nicolai gerade auch durch die Textverständlichkeit ein Genuss sind. In  den Lustigen Weibern von Windsor, die in der nächsten Spielzeit aufgeführt werden sollen, was nach Jahren der Vernachlässigung der deutschen Spieloper nur zu begrüßen ist, wird viel nächtlicher Zauber entfaltet, im Brautchor aus Lohengrin wird jedes Abgeleiertsein vermieden, die Spinnerinnen aus dem Fliegenden Holländer drehen nicht nur ihre Rädchen munter, sondern gehen genauso beschwingt mit ihrem Mundwerk zu Werke, so wie die Herren des Jägerchor unbekümmert und dabei doch diszipliniert schmettern. Das deutsche Fach könnte nicht besser aufgehoben sein, auch der Einzug der Gäste aus Tannhäuser ist purer Ohrenschmaus.

Das gilt auch für die CD mit Ouvertüren, die vorwiegend von der Staatskapelle Dresden, ebenfalls unter Otmar Suitner, gespielt werden. Auf beider Konto gehen Die verkaufte Braut, Hänsel und Gretel und zwei Ouvertüren von Franz von Suppé, letztere gern als Konzertstücke gespielt. Da wird einmal zauberhafte Märchenstimmung erzeugt, mal ein Feuerwerk guter Laune entzündet. Giuseppe Patané spielt mit der Staatskapelle ein Vorspiel zum 3. Akt von Traviata von schmerzlicher Eindringlichkeit, Franz Konwitschny eine Holländer-Ouvertüre mit edlem Bläserklang und leuchtendem Schluss, Herbert Kegel und die Dresdner Philharmonie eine rasante Donna-Diana-Ouvertüre. Die Staatskapelle Berlin unter Bernhard Klee ist mit zauberhaftem wenn nicht Wald- ,so doch Parkweben der Lustigen Weiber vertreten. Schließlich gibt es noch die Bamberger Symphoniker unter Manfred Honeck mit einer flotten Fledermaus.

Kritisch wird es mit der dritten der CDs mit von den beiden Stars der DDR, Peter Schreier und Theo Adam, bestrittenen Duetten, die für bei Berlin Classics 1974 aufgenommen wurde. Natürlich gönnt man den beiden hochverdienten Herren den Spaß, im völlig falschen Fach zu singen, aber Peter Schreier hat für den Hans nicht die Zwischenfachqualitäten, für Nadir und Faust nicht die Süße des Timbres, für den Alvaro nicht die Verdi-Glut in der Stimme und gefällt so nur als Pedrillo, bei Lortzing und mit Abstrichen als Tamino. Viel besser schlägt sich da Theo Adam, auch wenn dem Kezal das Schlitzohrige abgeht, für die Baritonpartien die Stimme künstlich aufgehellt wird oder wie für Papageno, den er neben dem Sprecher und dem 2. Priester singt, einfach zu ausladend ist. Belustigend sind diese Ausflüge in ungewohnte  Opernlandschaften allemal, die zu ungewohnten Hörerlebnissen führen und einmal mehr zusätzlich die Meinung bestätigen, dass einzig das Singen in der Originalsprache wünschenswert ist (Brilliant Classics 95414). Ingrid Wanja