Archiv für den Monat: April 2018

Fabelhafte Klangqualität

 

Alte Musik und junger Fritz Wunderlich: Was auf den ersten Blick wie ein Gegensatz erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen und -hören als eine glückliche Verbindung. Sie hat Nachaltiges  auf Tonträgern hinterlassen. Seine Anfänge sind tief verwurzelt in Kompositionen der Vorgänger von Johann Sebastian Bach. Musik vor Bach nennt denn auch SWR Music das neueste, Fritz Wunderlich gewidmete Doppelalbum, mit dem eine Edition in lockerer Folge fortgesetzt wird (SWR19051CD). Von Mal zu Mal entwickelt sich diese Reihe, die durch schöne Porträtfotos in mattem Schwarzweiß auffällt, zu einer unverzichtbaren Quelle der neuerlichen Beschäftigung mit diesem Tenor mehr als fünf Jahrzehnte nach seinem Tod. Wunderlich starb am 17. September 1966 an den Folgen eines Treppensturzes. Er hatte gerade seinen sechsunddreißigsten Geburtstag hinter sich.

Nicht, dass die jetzt vorgelegten Titel völlig unbekannt wären. Das sind sie nicht. Sie kursieren seit Jahren in diversen Sammlungen. Auch SWR Music hatte – mal gemeinsam mit Hänssler Classic, mal allein – bereits vor Jahren derartige Stücke veröffentlicht. Nun wird dieser Bestand durch ein neues Remastering der originalen Archivbänder ausgestochen. Das ist ein unschlagbarer Marktvorteil, der gleich dem Cover wie mit einem Stempel aufgedrückt wird: Original SWR Tapes Remastered. Gut und richtig so. Labels und Firmen, die diese Aufnahmen zuerst herausbrachten, haben das Nachsehen. Manchmal bestraft das Leben auch jene, der zu früh kommen. Musik bleibt von den Gesetzen der Marktwirtschaft nicht verschont. Das Bessere ist des Guten Feind. Wunderlich klang auch aus dubiosen Quellen oder von privaten Spulenbändern, auf denen seine Enthusiasten Radiosendungen mitgeschnitten haben, immer ganz passabel – nie muffig. Zu seiner Zeit entwickelte sich die entsprechende Technik auch für den Hausgebrauch rasch. Im Westen war sie Teil des deutschen Wirtschaftwunders. Jetzt klingt Wunderlich eben noch ein bisschen besser, frischer und dadurch womöglich auch authentischer.

Wunderlich stammt aus Kusel in Rheinland-Pfalz. „Ein Städtchen liegt im Pfälzerland, / im Tal, so wunderschön. / Dort ist’s, wo meine Wiege stand, / wohin meine Träume geh’n.“ So beginnt das Lied, das er seiner Heimatstadt gedichtet und komponiert hat. Nie hat er seine Herkunft verleugnet. Sie war für ihn existenziell. Er hatte die liebliche Landschaft in der Stimme. Im Südwestrundfunk, der auch für dieses Sendegebiet zuständig ist, nahm seine Karriere ihren Anfang. Dort wurde sein Talent früh erkannt. Er bekam viele Chancen, die er zu ergreifen wusste. Der Hörfunk hat erheblichen Anteil an seiner künstlerischen Entwicklung und an seiner Popularität. Das kann nicht oft genug herausgestellt werden, weil es das so nicht mehr gibt. Verantwortliche handelten weitsichtig. Die Archive sind voll. Das der Sendeanstalt nahestehende Label SWR Music braucht also nur zuzugreifen. Und tut es. Es wäre wünschenswert, würden auch andere Sender so phantasiereich und großzügig mit ihrem Erbe umgehen. Freilich hatte aber nicht jeder so ein attraktives Zugpferd im Stall wie Wunderlich.

Musik vor Bach also. Im Album tauchen neben Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude oder Christoph Graupner Namen von Komponisten auf, die erst jetzt dank der verstärkten Hinwendung zu dieser musikalischen Epoche neu entdeckt werden als bedeutende Meister ihrer Zeit: Ludwig Senfl (1486-1543) zum Beispiel, dann Paul Hofhaimer (1459-1537), Adam von Fulda (1619-1884) oder Adam Rener (1482-1520). Dass sich Wunderlich bereits in den fünfziger Jahren mit ihnen befasst hat, ist kein Zufall. Wie Textautor Lothar Brandt im deutsch und englisch gehaltenen Booklet berichtet, spielt in diesem Zusammenhang der Direktor der Freiberger Musikhochschule Gustav Scheck die entscheidende Rolle. Er hatte den Studenten in seinen Freiburger Musikkreis für Alte Musik geholt. In der Folge wurde Wunderlich zu Aufnahmen von Werken von Schütz und Monteverdi für den Schulfunk in das Freiburger Landesstudio des damaligen Südwestfunks eingeladen. Obwohl sich der junge Tenor letztlich für die Opernlaufbahn entschied, ist er zumindest der Barockmusik immer treu geblieben. Und es ist von starker symbolischer Wirkung, dass seine erste offizielle Operneinspielung Monteverdis Orfeo (bei DGA) – er sang gleich mehrere kleine Rollen – gewesen ist, die seither immer wieder neu aufgelegt wurde. Doch mit solchem Repertoire wäre zu seiner Zeit keine Weltkarriere denkbar gewesen.

 

Anhand des SWR-Albums muss die Lebensleistung von Wunderlich nicht neu bewertet werden. Es regt aber dazu an, den frühen Aufnahmen einen höheren Stellenwert einzuräumen. Für mich gehören sie zum Schönsten, was er hinterließ. Sie sind viel mehr als nur die Ahnung seiner späten Meisterschaft wie sie beispielsweise im Lied von der Erde (EMI), in der Zauberflöte, der Schönen Müllerin oder im Weihnachtsoratorium (Deutsche Grammophon Archiv) zum Ausdruck kommt. Am Anfang wirkt Wunderlich an keiner Stelle kalkuliert und einstudiert. Es singt fast überbordend aus ihm heraus. Auch wenn Unschuld kein belastbarer Begriff ist, um Stimmen zu charakterisieren, für diese Aufnahmen fällt mir nichts anderes ein. Wunderlich war erst vierundzwanzig, als er 1954 die sechs Lieder von Senfl einspielte. Sie zählen zu seinen frühesten Aufnahmen. Wer sich darauf einlässt, gewinnt eine Vorstellung von den Urquellen der Musik. Alles kommt von dort. Die Lieder sind durch Schlichtheit Meisterwerke. Sie sind in meinen Ohren der vollkommenste Ausdruck dieser Stimme, die im Kern immer eine Naturstimme war. Bis zum Schluss. Sein früher Tod hat den Sänger davor bewahrt, mit technischen Mitteln auszugleichen, was die einzigartige Begabung im Laufe der Jahre womöglich nicht hätte durchhalten können. Alle Titel sind genauestens mit Daten und Ort der Produktion dokumentiert. Man muss aber genau hinsehen, um das Kleingedruckte entziffern zu können. Gesunde Augen sind Voraussetzung. Anderenfalls sollte eine Lupe griffbereit liegen. Es hätte sich besser gemacht, wären gleich die einzelnen Tracks mit diesen wichtigen Angaben in einer vernünftigen Schriftgröße versehen worden. Damit hat sich der einzige Kritikpunkt erledigt. Alles andere verdient Lob.

 

Im Regal wird diese Reihe mit SWR-Produktionen von Fritz Wunderlich immer länger: Klassische Arien (SWR19048CD), Romantische Arien (SWR9032CD) und Operetten-Arien (SWR19038CD). Die Titel sind nicht sonderlich originell. Potenzielle Kunden wissen schon, was gemeint ist. Sie dürften sich ohnehin am Inhalt orientieren, was sich nicht immer als ganz einfach erweist. Welche Titel sind neu? Eine genaue Recherche wird zur abendfüllenden Beschäftigung. Ich bin bei dem Versuch so gut wie gescheitert, herauszufinden, wann und wo etwas schon einmal erschienen ist. Dazu hätten auch alten Platten herangezogen werden müssen. Es werden aber auch Chancen verpasst. Im Doppelalbum mit den klassischen Arien erscheinen lediglich zwei Szenen aus Schuberts Oper Fierrabras, obwohl es davon eine erheblich gekürzte Gesamtaufnahme gibt. Aus den kompletten Jahreszeiten von Haydn, die SWR Classic noch gemeinsam mit Hänssler herausgeben hatte, werden ohne Not nun vierzehn Nummern herausgelöst. Schade, dass die Wunderinsel von Schubert bzw. nach Schubert nur bruchstückhaft wiedergeben wird, zumal die Produktion ein ganz besonders spannendes Kapitel Rundfunksgeschichte ist, mit dem sich hätte punkten lassen. Es gibt das Stück eigentlich nicht. Den Angaben im Booklet zufolge hatte sich der Musikwissenschaftler und Journalist Kurt Homolka (1913-1988) die Musik von Alfonso und Estrella sowie anderer Schubert-Opern wie der Zauberharfe „geborgt“, um William Shakespeares „Sturm““zu vertonen. „Schuberts Partitur(en) unterwarf er dabei Umstellungen, Kürzungen, Modifikationen und schrieb vielleicht auch einige Überleitungen.“ Die Wunderinsel sei am 26. Januar 1958 im Staatstheater Stuttgart aufgeführt und Ende November vom SWR eingespielt worden. Dabei habe Wunderlich den Ferdinand gesungen. Nachaufnahmen habe es am 26. Februar des nächsten Jahres ohne Wunderlich gegeben, wobei nicht erwähnt wird, ob dabei auch Ferdinand-Szenen berührt gewesen sind. Diese seien jetzt „teilweise zum ersten Mal auf Tonträger“ zu erleben. Das ist sehr frei formuliert. In Wahrheit sind mehr als elf von jetzt ungefähr siebzehn Minuten Musik, die neugierig auf mehr machen, bereits in einer Edition von Intense Media veröffentlicht worden.

 

Die CD mit den romantischen Arien zeigt Fritz Wunderlich ganz in seinem Element. Als bade er in der Musik. Deutsches und Italienisches mischen sich. Auch sprachlich. „La Donna è mobile“, die Arie des Herzogs aus Rigoletto, singt er im Original wie ein Capri-Lied. Cavaradossis „Und es blitzten die Sterne“ aus Tosca verwechselt er mit Lehár. Er kann nicht anders. „Zu Straßburg auf der Schanz“ aus Wilhelm Kinzls Kuhreigen aber ist mit Gänsehautgarantie versehen. Fentons Arie „Horch die Lerche singt im Hain“ aus den Lustigen Weibern von Windsor entstand 1959 und damit vier Jahre vor der Gesamtaufnahme. Sie ist ausschweifender und freier angelegt, weil sie sich nicht in die Dramaturgie der kompletten Oper einfügen muss. Gemeinsam mit Kurt Böhme gibt es „Mein Sohn, sei Allahs Friede hier auf Erden aus“ dem Barbier von Bagdad von Cornelius und „Komm mein Söhnchen auf ein Wort“ aus der Verkauften Braut von Smetana.

Mit dem Wolgalied aus Lehárs Zarewitsch beginnt das Operettenalbum. Schlag auf Schlag folgen Zugnummern aus der Spätzeit des Genres. Was musikalisch etwas dünn geraten ist, poliert Wunderlich mit dem Glanz seiner Stimme auf. Er wirkt zeitlos wie kaum ein anderer. Zugleich aber bewahren seine vielen Aufnahmen den Geist der Zeit, in der er von Erfolg zu Erfolg eilte. Wunderlich kann singen, was er will – Oper, Lied, Oratorium, Operette, Schlager – er weiß zu gefallen. Er war der so genannten leichten Muse sehr zugetan, wie dem Album Schlager aus den 50er zu entnehmen ist. In jungen Jahren spielte er in einer Band. Es scheint, als habe er dieses Genre stilistisch auch in seinen späten großen Opernpartien verankert. Die hellen, strahlende Töne, die Unverstelltheit und Aufrichtigkeit des Ausdrucks finden sich hier wie da. Wunderlich ist immer Wunderlich.

 

Tonmeister Gabriele Starke und der Ingenieur Boris Kellenbenz im Studio. „Gutes Remastering ist immer auch das Ergebnis von Erfahrung und intensiver Zusammenarbeit“, heißt es im Booklet, dem wir dieses Foto von Ernst Oder mit herzlichem Dank entnahmen. 

Original SWR Tapes remasterd: Was geschieht hinter den Kulissen, bevor ein Album in den Handel kommt? „Federführend bei der technischen Betreuung der originalen Bänder auf ihrem Weg vom Archiv über das Studio bis zum fertigen Master für die CD-Veröffentlichung sind die Tonmeister Gabriele Starke und der Ingenieur Boris Kellenbenz“, heißt es in einem Beitrag, der sich in allen Alben findet. Sie kommen auch selbst zu Wort: Die einzelnen Stücke würden je nach Notwendigkeit entrauscht, gefiltert und im Lautheitseindruck einander angepasst, Pausen nach musikalischen Gesichtspunkten dimensioniert. „Störende Geräusche wie Knacker, Knarzen, Husten und Trittschall werden mit Hilfe von speziellen elektronischen Mitteln gedämpft und entfernt.“ Nicht genug. Die Tonmeisterin prüfe anhand der Partituren der Originalvorlage die Aufnahmen. „Falls nötig, werden einzelne Töne oder sehr kurze Passagen musikalisch korrigiert.“ Schließlich arbeiteten die Experten nach „aufwendiger Recherche alle Informationen wie Komponisten, Satzbezeichnung, Künstler etc. als Metadaten in die Trackmarker“ ein. Einen entsprechenden Player vorausgesetzt, werden diese Wasserzeichen als CD-Text beim Absielen angezeigt. Fortsetzung erwünscht. Rüdiger Winter

Foto oben: Cover-Ausschnitt des Fritz-Wunderlich-Albums Musik vor Bach bei SWR Music. 

Barock-Diva auf Abwegen

 

Eine neue CD mit einem ganz ungewöhnlichen Programm legt Nuria Rial bei Sony vor (8888375442). Die katalanische Sopranistin ist eine renommierte Interpretin im Barock-Repertoire – hier wandelt sie mit ihrer Platte Vocalise auf ungewohntem Terrain. Begleitet wird sie von den Acht Cellisten des Sinfonieorchesters Basel in Kompositionen von Heitor Villa-Lobos und Bernat Vivancos. Letzterer arrangierte auch das katalanische Volkslied „El Cant dels Ocells“, das der Cellist Pablo Casals bei jedem seiner Konzerte im Exil als letztes Musikstück spielte. Die Sängerin hat diesen „Gesang der Vögel“ in das Programm ihrer CD aufgenommen – als Reverenz an ihre Heimat, war diese Melodie doch viele Jahre die heimliche Hymne der spanischen Flüchtlinge in der Fremde. Es ist eine Musik voller Melancholie, die zunächst a capella erklingt, bis später die Instrumente eine sanfte, einfühlsame Melodie anstimmen. Fast keusch führt die Solistin ihre Stimme und berührt damit sehr.

Vivancos’ eigene Komposition „Vocal Ice“ widmete er Nuria Rial und dem Baeler Cello-Oktett. Sie erklingt hier als Weltpremiere – ein schwermütiger Gesang in Form einer Vokalise, der von Liebe und Trost künden soll und im Gedenken an Michelangelos Pietà entstand. Rial findet hier zu besonders zarten, sensiblen Tönen, die wie aus einer fernen Welt zu kommen scheinen.

Astor Piazzollas Suite Las Cuatro Estaciones Portenas als instrumentaler Beitrag in der Reihenfolge Sommer, Herbst, Winter, Frühling auf die acht Titel der Platte verteilt. Ursprünglich für Streicher, Klavier, E-Gitarre und Bandoneon komponiert, fertigte der britische Cellist James Barralet 2013 eine Bearbeitung für acht Celli an, die hier erklingt. Mit dem „Verano“ als argentinischem Tango beginnt die Platte sehr sinnlich, rasant im Rhythmus, aber auch in melancholischer Stimmung. Der „Otono“ ist von herber, spröder Tongebung, findet später zu melodischen Inseln und verlangt den Musikern insgesamt ein hohes Maß an Virtuosität ab. Sehr elegisch hebt der „Invierno“ an, bietet duftige, träumerische Stimmungen. Die „Primavera“ markiert das Finale der Programmfolge und sichert ihr einen flotten Ausklang mit effektvollen rhythmischen Akzenten.

Ein Klassiker ist der Zyklus „Bachianas Brasileiras“ von Villa-Lobos, den der brasilianische Komponist für Sopran und acht Cellos als Hommage für Johann Sebastian Bach schrieb. Das bekannteste Stück daraus, und bereits von vielen berühmten Sängerinnen eingespielt, ist Nummer 5. Rial singt die Aria (Cantilena) mit tiefer Empfindung, lässt ihren leuchtenden, typisch mediterranen Sopran schweben, getragen von warmen, sonoren Klängen der Cellisten. In der Dança (Martelo) beweist sie Temperament und ein jazziges Feeling. Bernd Hoppe

 

Michel Sénéchal

 

Der große und bedeutende französische Sänger Michel Sénéchal ist tot, er starb am 1. April 2018 in Paris im Alter von 91 Jahren. Er kann als die Personifizierung der französischen Oper gelten. Nach einem Studium am Pariser Konservatorium debütierte Sénéchal 1950 am Monnaie in Brüssel. Während seines Kontrakts für drei Spielzeiten sang er dort das lyrische Tenorrepertoire, wie er es später sowohl an der Pariser Oper als auch an der dortigen Opéra-Comique und in allen Theatern in ganz Frankreichs tat. Seine Rollen umfassten Rossinis Almaviva und Comte Ory, Hylas in Berlioz‘ Les Troyens, Paolino in Cimarosas Il matrimonio segreto, Georges Brown in Boieldieus La Dame blanche und drei von Mozarts wichtigsten Tenorpartien: Tamino, Ferrando und Don Ottavio. In Aix-en-Provence sang Sénéchal 1956 die Travestierolle von Rameaus Platée, eine seltsame Kreatur von atemberaubender Heimlichkeit, die von sich selbst glaubt, schön zu sein. Der Erfolg in dieser Rolle war so enorm, dass er aufgefordert wurde, sie auch in Amsterdam, am Monnaie und an der Opéra-Comique zu singen.

Nachdem er sich allmählich von den Hauptrollen entfernt hatte, installierte sich Michel Sénéchal als Star unter den Comprimario-Sängern. Seine Vignetten, so kurz sie auch sein mögen, waren von einer Größenordnung, die sofort das künstlerische Niveau einer jeden Produktion steigert, bei der er mitwirkt. Sein raffiniertes Gespür für Make-up, Bewegung auf der Bühne, komisches Timing und die Ergreifung jedes Elements der Ironie, das er unvergesslich macht, basiert auf dem Fundament einer schönen leichten Tenorstimme, die gut ausgebildet und immer angenehm zu hören ist. So bedeutend wurde dieser Nebenrollenkünstler, dass der Katalog mannigfaltige Aufnahmen seines Kernrepertoires offeriert. Sein einziger Vorgänger in dieser Nische, der eine ähnliche Prominenz erlangte, war der schweizerische Tenor Hughes Cuenod, selbst ein unauslöschlicher Künstler, jedoch einer mit einer gar noch leichteren Stimme.

Michel Sénechal als Rameaus Platée in Aix-en-Provence/ Wikipedia

Allmählich etablierte Sénéchal seine Vormachtstellung hinsichtlich Charakterrollen. Darunter waren Monsieur Triquet in Tschaikowskis Eugen Onegin (eingespielt mit Solti); Schmidt in Werther; Trabuco in Verdis La forza del destino; Scaramuccio in Ariadne auf Naxos; Erice in Cavallis L’Ormindo; Valzacchi im Rosenkavalier; die Teekanne in Ravels L’Enfant et les Sortilèges und Gonzalve in dessen L’Heure Espagnole (triumphal gesungen beim Glyndebourne Festival 1966); Rodriguez in Don Quichotte; Brahmin in Roussels exotischem Padmâvatî; wie auch La Dancaire und Don Basilio, die er jährlich bei den Salzburger Festspielen, beginnend 1972, sang. Sénéchal wurde für die Rollen des Don Jerome aus Prokofjews selten aufgeführter Verlobung im Kloster ausgewählt, welche 1973 in Straßburg inszeniert wurde.

Für sein Debüt an der Metropolitan Opera am 8. März 1982 wurde er für Les Contes d’Hoffmann engagiert, wo er die vier komischen Tenorrollen übernahm, was bis dahin fast zu einer charakteristischen Verteilung geworden war. Weitere Rollen an der Met waren Guillot in Massenets Manon und Mozarts Don Basilio. Daneben setzte sich Sénéchal auch für zeitgenössische Opern ein. In Toulouse sang er 1985 den Fabien in der Premiere von Marcel Landowskis Montségur. Im selben Jahr trat er als Papst Leo X. in Boehmers Docktor Faustus an der Oper von Paris auf.

Sénéchals Meisterschaft im Charaktertenorfach führte ihn immer wieder ins Aufnahmestudio. Seine vier komischen Charaktere im Hoffmann sind dreimal eingespielt worden, während er in James Levines Aufnahme des Andrea Chénier neben seinem hoch angesehenen italienischen Kollegen Piero di Palma sowie Scotto, Domingo und Milnes in weiteren Rollen dokumentiert ist. Neben Offenbachs Hoffmann und einer geradezu mustergültigen Einspielung von Orphée aux enfers unter Plasson 1978 tritt Sénéchal neben Felicity Lott in einer im Jahre 2000 erschienenen Aufnahme von La belle Hélène in Erscheinung.

Viele, viele Aufnahmen dokumentieren seinen Ruhm und seine unendliche Begabung für seine Partien, in denen er sans-pareille brillierte. Namentlich bei der französischen EMI nahm er über drei Jahrzehnte immer wieder auf, aber auch bei den älteren Firmen wie Vega oder Chant du Monde findet man seinen Namen. Er bleibt als Synonym für die lyrischen Charakterrollen der französischen Oper unerreicht.  Herbert Strong (Übersetzung Daniel Hauser)

PORTIONIERTER GENUSS

 

Die Opern von Nicola Porpora sind heutzutage immer noch Raritäten und kommen nur langsam wieder stärker ins Bewußtsein des Barockmusikpublikums. Bei Glossa hat man sich für die Doppel-CD L’amato nome aus dem kaum bekannten Schaffen des Neapolitaners Nebenwerke vorgenommen, die einst ausgesprochen populär waren. Die Kantaten für den Prince of Wales mit der Opuszahl 1 erschienen 1735 in London, also in dem Jahr, als Porpora Polifemo und Ifigenia in Aulide und dessen Konkurrent Händel Alcina und Ariodante auf die Bühnen Londons brachte. Der Prince of Wales war Friedrich Ludwig, der älteste Sohn und Thronerbe des englischen Königs Georg II. aus dem Haus Hannover. Beide verstanden sich bekanntlich denkbar schlecht, der Prinz protegierte die Opera of the Nobility mit Porpora und war auch selber musisch begabt – er spielte Cembalo und Cello. Es gibt Hinweise, dass Porpora diese Werke zumindest teilweise nach London mitgebracht hatte und der aufwändige und teure Druck mit Widmung an den Prinzen auch ein Verkaufsargument für wohlhabende Kenner sein sollten. Tatsächlich waren diese zwölf Kammerkantaten für Continuo, Sopran und Alt auf Texte von Pietro Metastasio.ein Erfolg für Porpora und ein geschickter Schachzug, um sein Schaffen und Können in musikalisch reduzierter Umgebung unter Beweis zu stellen. Noch Jahrzehnte später finden sich schriftliche Quellen, die diese Werke als außerordentlich und modellhaft rühmen, bis ins 19. Jahrhundert wurden sie gedruckt. Porpora gelang hier eine musikalische  Inszenierung  von Metastasios Texten, die den damaligen Geschmack und die Ideale des Arkadischen darstellen – es geht bspw. um Apollo, Nymphen, Cupido, Schäfer und Landschaften sowie um Herzschmerz und Sehnsucht. Die Kantaten können als Beispiel für Porporas galanten Stil herangezogen werden, ihre eingänglichen Melodien galten als bezaubernd, die Rezitative beschrieb man damals als natürlich, die Modulationen als angenehm, im Aufbau bestehen sie aus 2 Arien mit verbindendem Rezitativ oder aus dem doppelten Paar aus Rezitativ und Arie. Im Beiheft erfahren die Kantaten eine andere Einschätzung, sie setzen beim „Zuhörer eine profunde Wertschätzung von Porporas Können voraus„. Dirigent Stefano Aresi leitet zwei Musiker aus dem Barock-Ensemble Stile Galante, das Continuo ist bei dieser Aufnahme nur mit Cembalo und Cello besetzt – eine Entscheidung, die für Kammerkantaten historisch verbürgt ist und doch eine gewisse klangliche Monotonie auslöst. Das könnte auch der Grund dafür sein, daß Aresi im Beiheft empfiehlt, nicht alles in einem Rutsch durchzuhören, sondern sich die einzelnen Kantaten portionsweise, in zeitlichem Abstand und langsam zu Gemüte zu führen. Die Cellistin Agnieszka Oszanca meistert zwar die melodiösen Passagen mit klanglicher Schönheit, die Cembalistin Andrea Friggi spielt mit Eleganz und mit Anmut, dennoch leidet das heute verwöhnte Ohr an dieser Kargheit, musiziert wird in so vollendeter Ausgewogenheit, dass es schon mal ermüden kann. Die jeweils sechs Arien sind auf vier Sängerinnen verteilt, jede singt drei. Die Sängerinnen halten sich an die stilistische Konstante, nicht nur in den Dacapo-Passagen improvisierte Verzierungen zu verwenden, also die Technik des cercar/anticipatione della nota zu pflegen. Verzierungen und stilistische Fragen wurden mit dem Dirigenten erarbeitet. Die Sängerinnen sind sehr gut besetzt, die Stimmfarben sind unterschiedlich gewählt, die ausgedehnten und stark verzierten Gesangslinien der Arien stellen die Interpreten vor die Herausforderung, langen Atem und sichere Technik zu beweisen. Die Mezzosopranistin Marina De Liso überzeugt mit warmen Farben, Ausdruck und Koloratur klingen attraktiv, sie singt die Kantaten Nr. 8 „Or che una nube ingrata„, 9 „Destatevi, oh pastori“ und 11 „Oh dio, che non è vero„. Auch die zweite Mezzosopranistin Giuseppina Bridelli ist hörbar eine versierte Sängerin für Rollen der Barock/Rokoko-Epoche, ihre Stimme ist verführerisch und etwas tiefer,  sie singt Nr. 7 „Veggo la selva e il monte„, Nr. 10 „O se fosse il mio core“ und 12 „Dal povero mio cor„. Emanuela Galli leiht ihren schönen und einschmeichelnden Sopran den Kantaten Nr. 2 „Nel mio sonno almen talora„, 5 „Scrivo in te l’amato nome“ und 6 „Già la notte s’avvicina.Der Sopran von Francesca Cassinari ist jünger, mädchenhafter, sie übernimmt die Kantaten Nr. 1 „D’amore il primo dardo„, 3 „Tirsi chiamare a nome“ und 4 „Queste che miri, oh Nice„. Die Kantaten haben nicht den Effekt, Pomp und Glanz, den man heute in den diversen Sammlungen mit Opernarien hören kann (Max E. Cencic sei als aktuelles Beispiel genannt), die Selbsteinschätzung Aresis, dass es sich um Porpora für Kenner handelt, ist nachvollziehbar. (2 CDs, Glossa, GCD 923513 ) Marcus Budwitius