Archiv für den Monat: Juni 2017

Hilde spült Gläser

 

Es hat sehr lange gedauert, bis dieser Film auf DVD gelangte: Die Dreigroschenoper – nicht ganz von sondern eher nach Bertolt Brecht und Kurt Weill. Als er um 1963 in die westdeutschen und Berliner Kinos kam, erregte er viel Aufsehen. Selbst in der DDR wurde diese deutsch-französische Co-Produktion in der Regie keines Geringeren als Wolfgang Staudte gezeigt. Ich erinnere mich noch ganz genau an den ersten Auftritt von Hildegard Knef als Spelunken-Jenny. Ihr Gesicht, von feuerroten Haaren umhüllt, schob sich im Profil auf die riesige Breitwandleinwand: „Das war Mackie Messer“, sagte sie mit ihrer unverwechselbaren heiseren Stimme. Dann erst ging es richtig los. Nach mehr als fünfzig Jahren hat dieser Moment nichts von seiner Wirkung eingebüßt – mit einem Unterschied. Der Film läuft jetzt nicht mehr im Kino, sondern auf dem heimischen Fernsehbildschirm ab. Nichts zu wünschen übrig lässt die Bildqualität. Die Firma Filmjuwelen, bei der die DVD-Ausgabe erschien, bürgt schon mit ihrer Namenswahl für hohen Standard (6416965).

„Die Dreigroschenoper“/ Cover der „Illustrierten Filmbühne“ 1963/ OBA

Die Story um den berüchtigten Gangster ist bekannt. Sie fußt auf der Beggar’s Opera von John Gay (mit der Musik von Johann Christoph Pepusch, einem Rivalen Händels, dem beide mit diesem Werk schwer zu schaffen machten). Schon wenige Jahre nach der Uraufführung der Dreigroschenoper am 31. August 1928 im Theater am Schiffbauerdamm, wo heute das Berliner Ensemble residiert, gab es die erste Verfilmung (von Georg Wilhelm Pabst 1931), die näher am Original ist als die Staudte-Version. Noch heute wird das Stück, das zu den erfolgreichsten seiner Art gehört, gespielt. Es wurden Plattenaufnahmen gemacht – gute und weniger gelungene. Helge Rosvaenge, Milva, Harald Juhnke und sogar Lale Andersen haben sich daran versucht. Einzelne Titel wurden Hits wie die Moritat von Mackie Messer, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Einst von Ernst Busch mit messerscharfer Zunge kreiert, übernahm nun in Staudtes Film der amerikanische Entertainer, Schauspieler, Sänger und Tänzer Sammy Davis jr. diesen Part und rückte ihn, zudem englisch dargeboten, in die Nähe einer Musicalnummer. Ein Eindruck, der sich auf die gesamte Verfilmung überträgt. Der Sound ist ein anderer. In seiner Bearbeitung der Partitur hat der im Filmgeschäft sehr erfahrene Komponist Peter Sandloff eine Gruppe von Streichern hinzugefügt, die es im Original nicht gibt. Unterhalten will dieser Film seine Zuschauer und nicht sozialkritisch auf die Barrikaden bringen. Staudte, der gemeinsam mit dem Schriftsteller Günther Weißenborn auch das Drehbuch geschrieben hatte, unterliegt nicht der Versuchung, die Geschichte an originalen Schauplätzen, nämlich im Londoner Stadtteil Soho, spielen zu lassen, wo auch schon Stevensons Dr. Jekyll als sein eigener Doppelgänger Mr. Hyde Angst und Schrecken verbreitete. Die Handlung vollzieht sich wie auf einer Bühne in gemalten Kulissen. Auf diese Weise bleibt diese Dreigroschenoper ein Theaterstück.

Von Anfang an scheint kein guter Stern über der Produktion gestanden zu haben. Im Booklet wird die Geschichte von Roland Mörchen präzise und spannend erzählt. Demnach hätte der Produzent Kurt Ulrich am liebsten Yves Montand als Mackie, Pascale Petit als Polly und die Weill-Witwe Lotte Lenya als Jenny, die sie schon in der Uraufführung und in der ersten Verfilmung gespielt hatte, engagiert. Für die Verfilmungsrechte habe er laut einem Bericht des „Spiegel“ vom 7. November 1962 „an die Rechtsinhaber Helene Weigel und Lotte Lenya 80 000 Dollar, umgerechnet 320 000 Mark“ bezahlt. Zudem seien 300 000 Mark für Giulietta Masina, die Ehefrau von Federico Fellini fällig gewesen, mit der Ulrich 1959 „Das kunstseidene Mädchen“ produzierte und zeitgleich für die Dreigroschenoper unter Vertrag genommen habe, „ohne zu ahnen, dass sich die Dreharbeiten immer wieder verzögern würden“. Dann kam der Mauerbau in Berlin, in dessen Folge das Interesse an Brecht, der zuletzt in Ostberlin lebte, in Ächtung umschlug. Es dauerte, bis schließlich Staudte als Regisseur gesetzt war, der zunächst „ebenfalls keinen Dreh findet, um Brechts Stück für die Gegenwart fruchtbar zu machen“, so Mörchen. Dann habe er eine Idee gehabt. „Er will der Brecht-Handlung einen aktuellen Bezug geben, in dem das Unterwelt- und Rotlicht-Milieu angesichts wachsenden Werteverlustes der Gegenwartsgesellschaft gehörig in die Krise geraten ist.“ Daraus wurde dann doch nichts. Weil die Option auf die Verfilmung Ende 1962 ausgelaufen wäre und Einsprüche der Brecht-Witwe Weigel zu befürchten gewesen seien, arrangiert sich der Regisseur „schließlich mit der Ablehnung seines ursprünglichen Konzepts und beginnt am 22. Oktober 1962 in den Ufa-Studios von Berlin-Tempelhof zu drehen“, schreibt Mörchen. Sieben Wochen später, am 11. Dezember, sei fristgerecht die letzte Klappe gefallen. Staudte „dreht die vier Million Mark teure Produktion als großen Ausstattungsfilm (Bühne und Kostüme: Hein Heckroth) und zugleich als großen Schauspielerfilm“, fasst der Booklet-Autor zusammen.

„Die Dreigroschenoper“/ Reklamefoto für die Kinoschaukästen/ Gloria Filmverleih 1963/ OBA

Curd Jürgens, seinerzeit ein allseits gefeierter Star, bleibt dem Mackie Messer viel schuldig. Er wirkt gestelzt. Ein großer Namen allein reicht nicht. Im Booklet werden zeitgenössische Kritiken zitiert. Der schon erwähnte „Spiegel“ sprach von einem „alternden Gasparone mit Zwicker“. Nach Auffassung der „Welt“ wirkte Jürgens „innerhalb des Berufszweigs der Ganoven eher wie ein Heiratsschwindler“. Und die „Filmblätter“ urteilten: „Kein gefährlich-schillernder Gangster, sondern ein ältlicher Ver-Lebemann – unterspielt, unterkühlt.“ Von anderem Kaliber sind da schon der ewig sächselnde Gert Fröbe als glaubwürdiger Peachum, Inhaber der Firma „Bettlers Freund“, und Hilde Hildebrand als seine Frau Celia.

Gert Fröbe und Hilde Hildebrand/ Still aus der „Dreigroschenoper“-DVD bei Filmjuwelen

Sie hatte ich viel verwüsteter in Erinnerung mit ihrer „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“ und finde sie nun eher als deutlich gealterte Anita aus dem Film „Große Freiheit Nr. 7“ wieder, dem sie mit ihrem Lied „Beim ersten Mal da tut‘s noch weh“ ein Gütesiegel erster Klasse aufgedrückt hatte. Aus England kam die Polly in Gestalt von June Ritchie, die auch keinen rechten Zugang zu ihrer Rolle fand. Lino Ventura glänzte am Ende mehr durch seinen berühmten Namen denn durch Eignung für die Figur des Tiger Brown. Großen Eindruck hinterlässt auch heute noch Walter Giller, der damals mit seiner Frau Nadja Tiller als Traumpaar des Films galt, hier als einfältiger Bettler Filch. Und Hilde? Die ist wie sie immer war und wirkt mit mehr als einem halben Jahrhundert Abstand ein wenig wie ihr eigenes Klischee. Ein schönes und bewegendes Klischee. Deshalb ist dieser Film immer noch sehr sehenswert – Filmgeschichte eben (Foto oben: „Die Dreigroschenoper“/ Reklamefoto der Gloria Filmverleih 1963 / Ausschnitt/ OBA). Rüdiger Winter

Jeffrey Tate

 

Die Hamburger Symphoniker schreiben: Die einzigartige Stimme Jeffrey Tates ist verstummt und wird doch in den Herzen, in den Gedanken und in der Erinnerung zahlloser Bewunderer und Freunde in der ganzen Welt ewig weiter klingen. Die Symphoniker Hamburg sind vom völlig überraschenden Ableben ihres geliebten und verehrten Chefdirigenten zutiefst erschüttert. Seine Musik hat die Welt zu einer besseren gemacht, und wir sind für die Stunden, Tage und Jahre, die wir mit Sir Jeffrey verbringen durften, unendlich und unsagbar dankbar. Sir Jeffrey hat unser Orchester wie kein anderer geformt. Unsere Gedanken sind bei seinem Mann Klaus Kuhlemann und bei der Familie. Möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel des ewigen Lebens. (Quelle: Hamburger Symphoniker

 

Jeffrey Tate/ Hamburger Symphoniker/ youtube

Sir Jeffrey Tate (* 28. April 1943 in SalisburyEngland; † 2. Juni 2017 in BergamoItalien): Er studierte trotz angeborener Behinderungen wie Spina bifida und Kyphose von 1961 bis 1964 Medizin an der Universität von Cambridge und wurde Facharzt für Augenheilkunde. Tate arbeitete danach als Augenchirurg am St Thomas’ Hospital in London. Später gab er seine klinische Karriere auf und studierte Musik am London Opera Centre. Seine musikalische Laufbahn begann er als Assistent von Herbert von Karajan in Salzburg und James Levine an der Metropolitan Opera in New York. 1976 war er Assistent von Pierre Boulez beim Bayreuther ‚Jahrhundertring‘.

Jeffrey Tate dirigierte an Opernhäusern und Festivals ein breites Repertoire mit Schwerpunkten auf den Werken von Strauss, Mozart, Wagner und französischen Opern. Jeffrey Tate war Chefdirigent der Symphoniker Hamburg. Er hat außerdem mit dem London Symphony Orchestra, Berliner Philharmoniker, Cleveland Orchestra, Orchestre de la Suisse Romande, English Chamber Orchestra, Philharmonisches Orchester Rotterdam und Orchestre National de France zusammengearbeitet.

Tate wurde im Rahmen der traditionellen britischen Neujahrsehrungen (New Year’s Honours) 2017 für seine Verdienste um die britische Musik im Ausland (for services to British music overseas) zum Knight Bachelor nobilitiert.

In seinen letzten Konzerten dirigierte er die Neunte Sinfonie von Gustav Mahler mit dem Haydn Orchester von Bozen und Trient und den Studenten der beiden Städte (Fotos: Hamburger Symphoniker Trailer/ youtube). (Quelle Wikipedia

Wagner mit englischer Noblesse

 

Englische Knabenchöre gelten nicht wenigen als die weltbesten. Die neueste Eigenproduktion des Hallé Orchestra aus Manchester (CD HLD 7539) liefert einen weiteren ohrenfälligen Beweis dafür. „Höchsten Heiles Wunder! Erlösung dem Erlöser!“ Wann hat man den Schlusschor des Bühnenweihfestspiels Parsifal je ergreifender gehört? Die Reinheit der Knabenstimmen hat hier in zweifacher Weise etwas wahrlich Englisches an sich. Aufnahmen der letzten Wagner-Oper von der Insel hatten schon früher das gewisse Etwas. Unnachahmlich der legendäre Sir Reginald Goodall, der die getragensten Interpretationen vorlegte: 285 Minuten 1984 im Studio (EMI), 283 Minuten 1971 live (ROH). Der „Parsifal-Papst“ Knappertsbusch spielt rein temporal, entgegen dem Klischee, nur im oberen Mittelfeld mit. Hier ist auch diese neue, am 25. August 2013 bei den BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall entstandene Einspielung unter Sir Mark Elder anzusiedeln: 258 Minuten. Nicht eben die schlechtesten Voraussetzungen also für eine gelungene Darbietung. Elder, seit 2000 Chefdirigent des berühmten Hallé, des ältesten Orchesters von England, hat sich in den letzten Jahren beinahe unmerklich zu einem der größten lebenden Wagner-Dirigenten emporgearbeitet. Ließen bereits seine Aufnahmen von Walküre und Götterdämmerung aufhorchen (beide ebenfalls auf dem Hallé-Eigenlabel erschienen), legte er kürzlich als Einspringer für Andris Nelsons die womöglich beste moderne Einspielung des Lohengrin vor (RCO).

Englische Noblesse ist etwas, was man seinem Wagner durchaus nachsagen könnte. Zuweilen sehr auszelebriert, doch stets stimmig seine Tempowahl. Schon das Vorspiel zum ersten Aufzug nimmt er breit (14 Minuten). Zusammen mit den drei eingesetzten, tadellosen Chören – Royal Opera Chorus, Hallé Youth Choir und Trinity Boys Choir – darf die orchestrale Pracht, die Sir Mark zuweilen entfacht, als der absolute Höhepunkt dieser Neuaufnahme bezeichnet werden. Ungemein detailliert und feierlich lässt er die Apotheose ganz am Ende ausmusizieren. Die Streicher, die hier oft untergehen, habe ich noch nie derart präsent vernommen. Ganz große Klasse!

Und wie sieht es sängerisch aus? Auch wenn der Parsifal gewissermaßen die symphonischste aller Opern von Wagner ist, kann keine derselben ohne eine adäquate Sängerbesetzung bestehen. Soviel darf vorausgeschickt werden: Es gibt keine Ausfälle. Fangen wir vielleicht untypisch mit dem Amfortas an: Detlef Roth bringt gut das Gequälte dieser leidenden Figur herüber und braucht keine Vergleiche zu scheuen, auch wenn es noch expressivere Rolleninterpreten gab (denke man nur an Dietrich Fischer-Dieskau). Lars Cleveman in der Titelrolle ist mehr der naive Jüngling denn der gereifte Mann. Mit seiner geschmeidigen Stimmfarbe ist er mehr in der Tradition eines Wolfgang Windgassen als in jener von Jon Vickers, was beim Parsifal kein Schaden sein muss, auch wenn ich persönlich an großer Fan von Vickers bin. Als ich auf dem Cover las, dass Sir John Tomlinson den Gurnemanz singt, war ich hin- und hergerissen. Tomlinson, zum Zeitpunkt der Aufnahme siebenundsechzig, war vor einem Vierteljahrhundert ein großartiger Wotan in Bayreuth und noch vor einigen Jahren ein sehr beachtlicher Hagen in Hamburg. Rein stimmlich sind mittlerweile Abstriche zu machen; besonders die Höhe muss er sich zuweilen doch unüberhörbar erkämpfen. Allerdings, und das sei betont, fasziniert mich sein machtvolles Timbre auch heute noch. Als alter, am Ende greiser Gralsritter passt die nicht mehr völlig intakte Stimmkapazität auf ihre Art sogar sehr gut. Fabelhaft Katarina Dalayman, längst bewährt im Wagner-Fach, als Kundry. Ihre Darstellung ist dramatisch, intensiv und empfindsam. Tom Fux gibt einen gebieterischen Klingsor, dessen Dämonie fühlbar wird. Die Blumenmädchen sind klar voneinander unterscheidbar und machen den zweiten Aufzug zu einem der Höhepunkte. Reinhard Hagens noch erstaunlich vitaler Titurel beschließt die Reihe der wichtigsten Protagonisten.

Fazit: Herausragendes Dirigat und exzeptionelle Chöre, gute bis sehr gute Sänger und zudem eine glasklare und sehr gut ausbalancierte Tonqualität machen diesen Parsifal für mich zu einer der überzeugendsten Wagner-Aufnahmen aus diesem Jahrtausend. Man darf hoffen, dass Sir Mark Elder seinen Streifzug durch Wagners Opernschaffen weiterhin auf diesem hohen Niveau fortsetzen wird. Daniel Hauser