Archiv für den Monat: Januar 2021

Offenbachs „Roi Carotte“

Jacques Offenbach gehört (nicht nur für mich) zu den am meisten verkannten Genies des Musikthea­ters im 19. Jahrhundert, auch wenn schon Rossini ihn als „Mozart der Champs-Elysées“ würdigte, der Pianist und Wagnerdirigent Hans von Bülow, Friedrich Nietzsche, Karl Kraus und der Kulturkritiker Egon Friedell ihm Lorbeerkränze flochten. Die Vorurteile gegen Offenbach, er sei seicht, halten sich hartnäckig, auch wenn sie auf Unkenntnis basieren. Insbesondere für das monumentale „Spätwerk Le Roi Carotte (Grün nennt das Stück auch eine „Monumental­féerie“) – begonnen am Ende des Second Empire, vollendet in der Trosième République – gelte dies, so beklagt Alexander Grün in seiner opulenten, 500seitigen Dissertationsschrift, die jetzt erschienen ist.

Offenbach: „Le Roi Carotte“ in Lyon/ Foto Stofleth Opera Lyon

Sein Ziel ist es, „Offenbachs Oper mit unverstelltem Blick auf ihre Faktur, d. h. ihre musikalisch-dramatische Konzeption und ihre Wirkung, adäquat zu unter-suchen und dabei erstmal ein spätes Bühnenwerk in den Mittelpunkt (einer) Untersuchung zu stellen.“ Die Offenbach-Forschung, die Grün kenntnisreich wie ausführlich resümiert, hat gerade jene Werke jenseits der Repertoire­stücke „nur flüchtig bewertet“.

Die abschätzige „Verweigerung“ bzw. „das mangelnde Interesse der musik­wissen­schaft­lichen Zunft an Offenbachs monumentalem Oeuvre“ hat Grün veranlasst, seine monumentale Untersuchung zu schreiben, zumal das Werk des schillernden „Empire-Kapellmeisters von Napoleons Graden“ wie er gelegent­lich genannt wird, mittlerweile ediert ist und auch auf der Bühne, wenn auch entstellt oder reduziert ausgegraben wurde.

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Seit 15 Jahren gibt der Verlag Boosey & Hawkes unter Leitung von Jean-Chris­tophe Keck eine historisch-kritische Ausgebe der Werke Offenbachs heraus. Von den 150 Bühnenwerken Offenbachs, von denen heute mal eben ein halbes Dutzend gespielt wird, sind inzwischen 30 komplette Werkausgaben erschienen. Eine der neusten ist die der Opéra-bouffe-féerie (bzw -féerique wie Grün schreibt „Le Roi Carotte“. Nach der Wiederentdeckung der romantischen Oper „Les Fees du Rhin“ (2002 konzertant und 2005 szenisch) ist die erste Wieder­aufführung (2015 in Lyon) von „Le Roi Carotte“ seit 1876, als das Stück zuletzt in Wien gespielt wurde, die wohl wichtigste Offenbach-Ausgrabung. Das Stück hat, wie Frank Harders-Wuth­enow vom Verlag Boosey & Hawkes betont: „eine ganz entscheidende, zentrale Bedeutung im Oeuvre Offenbachs. Es wurde kom­poniert auf dem Scheitelpunkt seiner Karriere. Es war das Ende einer Epoche in Frankreich und der Beginn einer neuen. Das Theater funktionierte danach anders und man musste Rücksicht darauf nehmen. Offenbach versuchte mit seinem kongenialen Librettisten Victorien Sardou ein neues Genre zu kreieren, indem er zwei alte, die so nicht mehr zu gebrauchen waren, nämlich die Feerie und die Opera-bouffe zu einer Synthese zu führte.“ Er gab den politisch-satiri­schen Anspruch nicht auf, verschmolz ihn aber mit kulinarisch-phantastischen Ingredienzien zugunsten der Idee eines Gesamtkunstwerks, das „das bewegte Bild und das klingende Wort mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der theatralischen Kunst zu einem rauschenden Höhepunkt führt.“

Grün weist zurecht darauf hin: „Im Jahr 1869, im Jahr der Uraufführung von Wagners Rheingold beschließen Victorien Sardou und Jacques Offenbach, eine Ausstattungsoper der Superlative zu schreiben. Sieben Jahre späterhebt sich im neuerbauten Bayreuther Festspielhau der Vorhang zur Götterdämmerung, im selben Jahr erlebt Sardous und Offenbachs Gesamtkunstwerk Le Roi Carotte im Theater an der Wien seine letzte Premiere nach dessen Aufführungen in Paris, London und New York. Das mehrteilige Musikdrama des sächsischen Kapell­meisters und die Opéra-bouffe féerique des Wahlfranzosen preußischer Abstammung bilden die denkbar entferntesten Pole eines Verständnisse von Musiktheater im 19. Jahrhundert.“

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Mit Le Roi Carotte hat Offenbach 1869 ein Stück geschrieben, das zu Recht als geradezu sensationell politisches Stück betrachtet wurde. Mit ihm hat Offen­bach dem Zweiten Kaiserreich einen gnadenlosen Spiegel vorgehalten, es ist ein Schlüsselstück über Pariser Verhältnisse. Tatsächlich hat kein anderes Werk Offenbachs seine Feinde und Freunde zu so hitzigen Kontroversen ani­miert wie dieses Märchenstück frei nach E.T.A. Hoffmann „Klein Zaches, genannt Zinnober“. Es handelt vom König Friedolin, dem schlechten Herrscher, der seiner schönen Gattin zum Leidwesen des Landes allzu sehr die Regierung überlässt. Die von Friedolins Vater verbannte böse Zauberin des Schlosses lässt während einem der spektakulären Hoffeste die Pflanzengeister des königlichen Gartens lebendig werden. Aus den Wurzeln (lateinisch radix) kommen die Radikalen und der rote König Mohrrübe entthront Fridolin, der, um sein Leben zu retten, als Emigrant sein Land verlässt wie weiland Louis-Napoléon. Aber während der frühere König in der Emigration sieht und lernt, stellt sich in der Heimat bald heraus, dass König Mohrrübe um nichts besser, ja schlechter und korrupter regiert als sein Vorgänger. Revolution: Das Volk erhebt sich, treibt die Gemüse-Geister wieder unter die Erde und setzt den weiser gewordenen Friedo­lin wieder in seine alten Rechte ein. In der Situation von 1869 ein gewagtes Stück, 1870 sollte Premiere sein. Der Deutsch Französisch Krieg verhinderte es. Als Le Roi Carotte nach diesem Krieg auf die Bühne kam, hatte sich der Zeitgeist, auch der Theatergeist gewandelt. Der Direktor des Théâtre de la Gaité, der, wie Grün ausführt, ganz auf Féerie setzte, also große Revue mit „verblüf­fenden Verwandlungen, optischen Täuschungen, gigantischen Bühnenbildern, phantasievollen Kostümen, opulenter Ausstattung, Tanz und Artistik (sowie) raffinierten Beleuchtungseffekte“, weil er ein Haus mit fast tausend Plätzen füllen musste, brachte das Stück in 22 Bildern mit über 200 Mitwirkenden auf die Bühne. Über 1000 Kostüme wurden eigens genäht. Es gab einen Eisenbahn­auftritt, ein gigantisches Defilee verschiedenster Insekten, die Offenbach detailliert einforderte, ein „Insektenballett“ Es ist „beispiellos im Oeuvre Offenbachs“, nicht zuletzt einen Vesuvausbruch über dem antiken Pompeji. Der Erfolg des politischen Zauber- und Ausstattungsstücks war überwältigend, denn es war ein Stück mit unmittelbarer politischer Vergangen­heit und Zukunftsspekulationen. Immerhin saßen im Publikum Republikaner und Monarchisten, Gestrige und Zukünftige. Das Werk erlebte bei der Urauf­führung 1872 in Paris einen Sensationserfolg mit fast 200 Vorstellung in nicht einmal einem Jahr und feierte anschließend Triumphe in Wien, London und New York, dann verschwand es von der Bühne.

Doch für Grün ist das Stück ungeachtet seiner heutigen Vergessenheit geradezu „bilanzi­erende Summe des Offenbachschen Oeuvres zwischen Kaiserreich und Nachkriegszeit“. Offenbach fusionierte den Prunk der französischen Zauberoper mit dem scharfen Witz der Offenbachiade zu einem hinreißenden Lehrstück über Macht, Korruption und Liebe. Frank Harders vom Verlag Boosey & Hawkes, der 2015 die erste komplette originale Fassung des Stücks herstellte, erinnert daran, dass das Stück totales Erlebnis-Theater war, gewissermaßen ein Vorläufer „der Erfindung von Film und Fernsehen. Und ein großes Spektakel, was ein spekta­kel­süchtiges Publikum befriedigt hat.“

Alexander Grün will den Ausnahmerang des Werks in seiner umfassenden Untersuchung belegen. Mittels „zeitgenössischer Quellen (Presse, Bildquellen, Briefe)“ werden die Entstehung und die „Wirkkraft der Oper auf ihr Publikum und dessen Faszination für Le Roi Carotte am Ende des 19. Jahrhunderts verständlich gemacht und in den historischen Kontext eingebunden. Es werden aber auch „ausgehend vom Autograph mittels exemplarischer Detailanalysen zu Form, Melodik, Rhythmik Sprache etc. Funktion und Wirkung jener gattungskonstituierenden Elemente“ verdeutlicht.

Jacques Offenbach/Nadar/Wiki

Grün befleißigt sich wissenschaftlicher Akribie und Sorgfalt. Eine bewunderns­werte Fleißarbeit, die nicht genug gerühmt werden kann, die aber dem Leser viel Geduld abverlangt. Die Lektüre ist mühsam, doch es ist die erste detaillierte Untersuchung des Notentextes. Der gründliche schematische Überblick über den Aufbau der Partitur ist für Grün der methodische Schlüssel zur Erschließung des Stücks. Der Autor räumt mit Vorurteilen auf, korrigiert manche Irrtümer und rückt hartnäckigen Fehleinschätzungen zu Leibe. Damit liefert er den Beweis, dass Le Roi Carotte ein inkommensurables, zukunftsweisendes, quasi „modernes“ Meisterwerk ist, musikalisch wie dramaturgisch.

Nicht nur sei es falsch, immer wieder zu behaupten, Offenbach sei ein ‚Klavierauszug-Komponist‘, der das Orchestrieren seinen Mitarbeitern überlassen habe, auch die „Mitarbeit Offenbachs bei der Entstehung der Libretti“ macht er am Beispiel von Le Roi Carotte besonders deutlich.

Er zitiert den großen Offenbachkenner Peter Hawig: „Offenbachs gesamtes Komponiere (ist) eine zwar unterschiedlich gewichtende, sich aber letztlich erstaunlich gleichbleibende Spiegelung von Mustern und Bausteinen, Klischees, Stereotypen und Vorprägungen, …Allgemein gesprochen: Offenbachs Komponieren ist immer auch ein Diskurs über das Komponieren als solches, über die Möglichkeiten des Komponierens in seiner Zeit.“

Damit biete er – so Grün – neben Bruckner, der den Formenkanon bis zum Zerreißen spannte und dehnte, aber auch neben Wagner, der die überkommene Nummernoper zum „Musikdrama“ umstrukturierte, eine Alternative, „heiter und melancholisch die Verbindlichkeiten der langsam versteinernden Traditions­muster in Anführungszeichen zu setzen, mit ihnen zu jonglieren und zu spielen“.

Schon Carl Dahlhaus, auf den sich Grün immer wieder beruft, hat sprach von der „Offenbachschen Eigentümlichkeit von „konstruierter Komposition und komponierter Konstruktion“ gebracht.

Peter Hawig, Grün zitiert ihn zurecht immer wieder, bringt es auf den Punkt: „Offenbach beantwortet die Frage nach einem „modernen“ Musiktheater mit der Partitur des Roi Carotte einmal mehr gänzlich pragmatisch – als komponie­render Theaterproduzent bzw. als akribisch planender ’Impresario-Komponist‘, dem theoretische Reflexionen über die ‚Musik der Zukunft ‘fernliegen und der sttattdessen sowohl an seinem Credo gewinnbringender Melodie und einer transparenten Instrumentierung als auch an seinem kompositorischen Prinzip der Referentialität konsequent festhält.“

Der Autor: Dieter David Scholz ist renomierter Musikjournalist und Autor zahlreicher Bücher über musikalische Themen, namnentlich Wagner und Offenbach/ operacomique

Diese „in der Geschichte der Oper auf eine beispiellose Verbindung von ‚Zitatdiskurs‘ und ambivalenter Anspielung‘ angelegte kompositorische Handschrift mit einer auf optische Faszination ausgerichteten Rahmenhandlung, die Elemente des Märchenhaften, Phantastischen und Satirischen aufgreift sei ein „Umstand, der sowohl die Kritiker der Uraufführung mit Blick auf eine Einordnung des Stücks als auch die Regie der jüngsten Inszenierung des Werkes in Hannover) überfordert.“ Recht hat Grün mit Blick auf die Inszenierungsgeschichte.

Zudem bemängelt er: „eine den klanglichen Vorstellungen Offenbachs gemäße Besetzung dürfte an den heutigen Gegebenheiten der Theaterorchester im Reper­toirebetrieb scheitern.“ Gerade deshalb plädiert er für eine „historisch informierte Aufführungspraxis und Besetzung“.

Fazit: Eine imposante Arbeit, die durch zahlreihe Anhänge (Bibliographie, Notenbei­spiele, Quellen-, Literatur-, Noten- sowie Librettoverzeichnis und mehr das (im wahrsten Sinn des Wortes) schwergewichtige Buch zu einer konkurrenz­losen Monographie eines konkurrenzlosen Werks, er nennt es „die Zauberflöte des 19. Jahrhunderts schlechthin“ macht. (Alexander Grün: Le Roi Carotte – Faktur und Wirkung einer Partitur Jacques Offenbachs; Tectum Verlag, 524 S., 2020, ISBN 978-3-8288-7324-7). Dieter David Scholz

Dimitri Mitropoulos: „Soeur Béatrice“

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Es ist – denken wir bei operalounge.de – doch die Aufgabe eines anspruchsvollen Opernmagazins, nicht nur auf seltene Titel der Theatergeschichte hinzuweisen, sondern als Europäer vor allem europäische Opern bekannt zu machen (und damit das akute und sträfliche Versäumnis unserer Opernhäuser mit ihren einseitigen Spielplänen zu korrigieren), die – wie viele der von uns bislang vorgestellten – ursächlich oder begleitend zum nationalen Selbstverständnis der jeweiligen Entstehungsländer beitragen,  dort nationale Entwicklungen zur Eigenständigkeit nach längerer Fremddominanz befördern. Dass Oper eine sozialpolitische Funktion zeigt und gleichzeitig auch ein Seismograph des nationalen Bewusstseins ist ausübt steht ja außer Zweifel.

Nachdem Daniel Hauser hier bei operalounge.de zwei unbekannte griechische Komponisten mit ihren Einspielungen bei Naxos vorstellte, wollen wir auf einen weiteren und auf dem Feld der Oper höchst unwahrscheinlichen Landsmann aufmerksam machen: Dimitri Mitropoulos, den man „nur“ als Dirigenten von Weltrang erinnert und dessen Dokumente bei jedem Hören erneut Bewunderung auslösen. Dass er (ein zutiefst religiöser Mensch) aber auch (nur) eine Oper, nämlich Soeur Béatrice, hinterlassen hat, scheint uns doch wirklich bemerkenswert.

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Der junge Dimitri Mitropoulos/ Foto Lyra

Oper in und aus Griechenland zu verstehen bedeutet unbedingt, einen Blick auf die leidvolle jüngere Geschichte der Befreiungskriege gegen die osmanischen Türken zu werfen, die Mitte des 19. Jahrhunderts unter vielen Einzelschlachten erst auf den Inseln und später auf dem peleponesichen Festland geschlagen wurden. Nicht nur die schlecht ausgerüstetetn Griechen setzten Leib und Leben ein, auch die Europäer nahmen mit Gusto und staatmännischen Machtgelüsten daran teil. Aber auch die begeisterte europäische (und sogar amerikanische) Intelligenzia sah in diesem Kampf gegen das verrottete osmanische Imperium den eigenen Kampf gegen Unterdrückung zu Hause. Dichter wie Lord Byron feuerten sie, Poeten wie Clemens Harris (Siegfried Wagners Sehnsuchtsfreund) und viele mehr reisten in die Kriegsgebiete und arbeiteten dort an ihren Ruhm.

Davon nachstehend, nach den Betrachtungen über die Mitrropoulos-Oper, dann viel mehr, denn die Vertreibung der Türken leutete die Verschiebung Griechenlands zum einen nach Westeuropa ein. Und eine fast zeitgleich sich etablierende, westlich orientierte (durchaus auch kriegsgewinnlerische) Oberschicht instrumentalisierte im gesellschaftlichen wie vor allem im kulturellen Betrieb eben dieses neu aufkommende Phänomen Oper, das ein ganz defintives soziales Moment der festen, anerkannten Zugehörigkeit zur westeuropäischen Kulturterfamilie ausmachte (man hatte ja sogar einen deutschen König aufgesetzt bekommen.  Aber dazu wirklich später mehr.)

Theater-Plakat zur „Soeur Béatrice“ 1920/ Lyra

Dimitri Mitropoulos: Dirigent und Komponist. Ein lndiz für die westliche  Ausrichtung Griechenlands nach der gelungenen Befreiung vom türkischen Joch war die Verwendung der fremden Sprache für eine Oper im Athen des frühen 20. Jahrhunderts. Soeur Beatrice, die einzige Oper Dimitri Mitropoulos‘, ist in Französisch, auf einen Text von Maurice Maeterlinck, komponiert. Allein die Tatsache, dass der später so berühmte und nach Amerika ausgewanderte Dirigent überhaupt eine Oper geschrieben hat, 2006 in Bulgarien aufgenommen bei der griechischen Firma Lyra, spricht für die oben angedeuteten heutigen Verhältnisse.

Mitropoulos wurde in Athen am 1. Mai 1896 geboren, studierte am Athener Konservatorium von 1908 bis 1921 bei Armand Marsick, einem belgischen Schüler von César Franck), Vincent D‘ lndy und Guy Ropratz, also bei einem Musiker deutlich in der Ausrichtung auf Wagner und der französischen Spätromantik bzw. des musikalischen Symbolismus. Zwischen Lehrer und Schüler entspann sich eine enge Beziehung, die wohl sowohl erotisch wie geistig war, so wie Mitropoulos später immer wieder solche Beziehungen mit andere, jüngeren Musikern eingegangen ist (Bernstein, Rohrem u. a.).

„Mea culpa“ in Opernform: Wagner (vor allem der Tristan) und Franck stehen als Paten für die musikalische Sprache der Soeur Béatrice, Debussy eher im Hintergrund, und in Hinsicht auf den Text war die Beziehung des Wallonen Marsick zu der Literatur seines Heimatlandes von eminenter Bedeutung. Er war es auch, der Mitropoulos mit Maeterlincks Dichtung vertraut machte. Dieser hatte das miracle (wie er es bezeichnete) eigentlich für Gabriel Fauré geschrieben, der das Stück (eine Nachdichtung einer flämischen Legende) aber nicht verwendete. Es war der Dirigent und Komponist Albert Wolff, der nach Mitropoulos dieselbe Dichtung noch einmal vertonte und die Beatrice als Einakt­-Oper in drei tableaux 1949 in Nizza aufführen ließ. Ohne Nachwirkung und nur Musikwissenschaftlern bekannt, so wie die Oper von Mitropoulos auch.

Katya Paximou als sündige Béatrice 1920 am Stadttheater von Athen, mit offensichtlich hypnotischer Wirkung auf das damalige Publikum. Es kam zu Skandalen/ Lyra

Durch Marsick also erhielt Mitropoulos die Inspiration der Vorlage, so wie dieser Lehrer/Freund überhaupt überragenden Einfluss auf die musikalische Laufbahn und das philosophische Denken seines Schülers hatte. Marsick brachte den Mitropoulos auch in Kontakt mit der eminent wichtigen Schola Cantorum in Paris, wenngleich die ersten Schritte den jungen Mann aus reichem Hause von Athen nach Berlin an die Hochschule für Musik führten (1921 – 24). Dort arbeitete er auch als Repetiteur für Erich Kleiber an der Staatsoper. Danach ging er über Paris nach Amerika, wo er 1937 zum Chef des Minneapolis Symphony Orchestra ernannt wurde und wo er viele zeitgenössische europäische Kompositionen als amerikanische Erstaufführungen herausbrachte. 1946 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1950 dirigierte er erstmals beim Maggio Musicale in Florenz (1953 die berühmte Forza mit Tebaldi) und von 1956 an der Lyric Opera van Chicago. Sein Debut an der New Yorker Met geschah 1954 mit der Salome. 1958 leitete er die Uraufführung von Barbers Vanessa ebendort, dann auch in Salzburg. Er starb am 2. November 1960. Viele Aufnahmen /Mitschnitte bestätigen seinen genialen Ausnahmestatus.

Die alte Lyra-Ausgabe der Oper „Soeur Béatrice“ voin Dimitri Mitropolulos

Und nun endlich die Oper Soeur Béatrice: Mindestens seit 1915 beschäftigte sich der junge Musiker mit dem Stoff der Béatrice, wie die Drei Klavierstücke belegen, die nach dem 1. Weltkrieg in Belgien mit diesem Titel erschienen, seinem Freund, dem Pianisten Antonis Skokkos, gewidmet. Die Grundidee in diesen Stücken findet sich auch in den Eck-Akten der Oper wieder. Bemerkenswert scheint die lange Beschäftigung mit dieser religiösen Vorlage – eine Beobachtung, die sich auch auf ähnlich gelagerte Sujets anderer homosexueller Komponisten erstreckt (Poulenc, Menotti oder Refice vielleicht als Beispiele, Puccini natürlich nicht), die ihre Probleme mit einer restriktiven Gesellschaft in suppiger Religiosität verarbeiten. Mitropoulos wird in seinen jungen Jahren als tiefreligiös (katholisch?) geschildert Und die Soeur Béatrice könnte eine starke Kompensationsvorlage gewesen sein. Das altbekannte Sujet des Sünders, dem vom Himmel vergeben wird, ist hier nur allzu deutlich und allzu biographisch. Ähnlich wie bei Tschaikowsky, der sich mit seinen weiblichen Hauptfiguren identifizierte und die schönsten Melodien für diese schrieb, vde. das Wiegenlied der Maria am Ende von Mazeppa, das einen sensiblen hörer zum Weinen bringt.

Warum aber gab er das Komponieren auf? Er durchmaß als Künstler eine weite Spanne der Einflüsse: von Franck, Wagner bis zu Kalomiris (Griechische Sonate/ Mutters Ring), kam in Kontakt mit Schönberg und dessen Schule sowie Strawinsky und Bartok. Danach schrieb er nichts mehr. Der Dirigent und Musikwissenschaftler Byron Fidetzis, der die einzige Aufnahme der Soeur Béatrice ebenso eingespielt hat wie viele andere Werke griechischer Komponisten, meint, dass das eher verhaltene Urteil seines Lehrers Marsick wie auch das von Busoni den jungen Musiker enttäuschte, der keine Geduld für einen langsamen Reifeprozess als Komponist aufbrachte, sondern als Perfektionist alles auf einmal und absolut fehlerfrei machen wollte. Er war kein Wunderkind wie Mozart und war zu sehr auf einen persönlichen Stil versessen, wobei er eher eklektizistisch die Stile und Formen anderer aufsog, was bei einem Anfänger namentlich in jenen chaotischen Jahren nicht verwunderlich erscheint. Mit Ausnahme der Bühnenmusik zu Hippolitus und Elektra schrieb Mitropoulos nach dieser Enttäuschung nichts mehr für das Theater. Außerdem machte sich seine rekreative Begabung als Dirigent und Interpret der Musik anderer so stark bemerkbar, dass seine eigene kreative Arbeit/lnspiration dahinter zurückstehen musste.

Katya Paximou als nun verherrlichte Béatrice im letzten Akt 1920 am Stadttheater von  Athen/ Lyra

Verbreitung: Eine konzertante Auffuhrung des 1. Aktes der Oper Soeur Beatrice setzte Armand Marsick am Athener Stadttheater am 12. April 1918 mit ihm als Dirigent durch. Hier sangen Maria Messalora in der Titelrolle und Kirnon Triantafyllou als Bellidor. Die eigentliche Premiere der szenischen Wiedergabe dirigierte Marsick am selben Theater am 11. Mai 1920. Katina Paxinou sang die Titelrolle und die Heilige Jungfrau (sie war mit Mitropoulos eng befreundet und brachte ihre wohlhabende Familie dazu, diese Aufführung und auch weitere Vorhaben ihres Freundes zu ermöglichen), Triantafyllou erneut den Bellidor, dazu eine Reihe guter Comprimari. Mit einer Folgeaufführung am 13. Mai (es gab keine späteren Wiederbelebungen bis zum Konzert/Einspielung in Sofia 2002). Die Uraufführung wurde von dem Komponisten Camille Saint-Saens besucht und sehr wohlwollend beurteilt, was in der Folge für die Karriere des jungen Komponisten von Bedeutung wurde.

Die Textlage des Werkes bleibt kompliziert, denn das alte Orchestermaterial ist verloren, das Manuskript  liegt in der  Athener  Gennadios  Bibliothek. Jedoch existieren ein  Klavierauszug und die Dirigierpartitur, die aber voneinander abweichen. Byron Fidetzis, Pionier für moderne Wiedergaben von Werken von Carrer, Samara, Kalomiris und vielen, vielen anderen, hatte eine neue Partitur eingerichtet und die Oper mit den Kräften aus Sofia (Pasardjik Symphony Orchestra und Chor Voices of Sofia) sowie mit einigen namhaften griechischen Solisten 2002 bei Lyra eingespielt (inzwischen ist das Label vom Markt).  Vor allem Marta Arapi in der Doppelrolle der Beatrice/Jungfrau beeindruckt in der Aufnahme; dazu kommen die gestandenen Solisten von Fidetzis aus anderen Aufnahmen, vor allem Vangelis Chatzissimos als verführerischer Prinz Bellidor, aber auch die Griechin Barbara Tsambali und andere mehr. G. H.

Dirigent und Pionier der griechischen Musik, Byron Fidetzis/Lyra

Zur Handlung: Akt 1 In einem Kloster wartet die junge Nonne Béatrice auf ihren Geliebten, den Prinzen Bellidor, mit dem sie fliehen will. Sie fleht die Marienstatue an, ihr durch ein Zeichen zu bedeuten, dass diese ihren Entschluss missbillige. Bellidor kommt, bestürmt Béatrice erneut. Sie wird schwach, und beide laufen davon, weil ja die Mutter Gottes nichts dagegen unternommen hat.

Akt 2 Die Statue ist lebendig geworden und nimmt nun den Platz der Entlaufenen ein. Sie tut Wunder, kümmert sich um die Armen und erstaunt die Schwestern, die doch Béatrice mit dem Prinzen haben davonreiten sehen. Alle halten die Jungfrau fur Béatrice. Jedoch kommt diese unter Verdacht, als man den Verlust der Statue selbst bemerkt, zumal man unter dem abgelegten Habit am Fuße des Altars die prächtigen Gewänder der Gottesmutter findet. Die vermeintliche Nonne wird hochnotpeinlich befragt und bestraft. Aber ein weiteres Wunder geschieht: Als die Peitsche den Rücken berührt, öffnet sich der Himmel, und aus den Blutstropfen werden blühende Blumen. Nun hält man (die falsche) Béatrice für eine Heilige und betet sie an.

Mitropoulos´“Soeur Béatrice“ auf der alten Lyra-CVD: Martha Arapí, Vangelis Hadjissimos, Varvara Tsambali/ Lyra

Akt 3 Nun steht die Statue der Mutter Gottes wieder auf ihrem Podest. Die völlig erschöpfte, verelendete Béatrice taumelt in die Kirche. Bellidor hat sie nach kurzer Zeit satt gehabt und verlassen. 25 Jahre sind vergangen, in letzter Not hat sich Béatrice in ihr altes Kloster geschleppt und hofft auf Absolution durch ihre Oberin. Aber diese – wie ihre‘ Mitschwestern – ist von den Geständnissen der sündigen Nonne verwirrt: War sie denn nicht wundertuend die ganzen Jahre als eine der Ihren unter ihnen? Béatrice haucht ihr Leben aus, und die Jungfrau singt von ihrem Sockel herunter: „Es gibt keine Sünde, wo Liebe gefleht hat“. Sie segnet die Sterbende. Ein himmlischer Chor preist Unsere Liebe Frau. Wenn das keine autobiographischen Momente sind… G. H.

Und als Abschluss unbedingt ein paar Worte zur Oper in Griechenland: Die Geschichte der (westeuropäischen) Kunstform Oper in Griechenland ist untrennbar mit der wechselhaften Geschichte des Landes verbunden und meist eine Reaktion darauf. Alles geht auf die jahrhundertelange Besetzung durch die Osmanen/Türken zurück, die schmerzhaft und erst in einem langen, erbitterten Prozess des Widerstandes im 19. Jahrhundert abgeworfen wurden (Rossinis Siege de Corinth ist ein Beispiel für die Anteilnahme Europas an dieser Bewegung, die von Lord Byron in der Literatur glorifiziert wurde und an der auch der Siegfried-Wagner-Freund Clement Harris teilnahm, wie wir an anderer Stelle in operalounge.de erwähnten). Die Befreiung erfolgte erst auf den lnseln im ionischen Meer und dann (weitgehend mit Hilfe der Engländer) auf dem Festland, wobei auf den lnseln wie vor allem auch an den Küsten der terra firma der unverhohlene Geneozid und die Deportationen der griechischen Siedler durch die Türken folgten (es hieß, in Smyrna hätte man über die Bucht auf den Leichen laufen können …), denn die Griechen hatten sich seit der Antike, später auch unter der osmanischen Herrschaft, weit über den kleinasiatischen Raum und die Mittelmeerregion verbreitet. Und der türkische Staat ist mit Genoziden ja gut bekannt.

Zu der Miuropoulos-Oper „Soeur Béatrice“: Szene aus dem Griechischen Freiheitskampf von Eugen Delacroix, 1856/ Wikicommons

Griechenland wurde danach im 19. Jahrhundert eine fremde (konstitutionelle) Monarchie aufgepfropft – erst kamen die bayerischen Wittelsbacher, dann die Dänen (Holstein­-Glücksburg bis 1973). Die Ausbeitung europaischer Kultur bzw. Rück-Wendung Griechenlands zu Europa geschah naturgemäß also erst wieder im 19. Jahrhundert und verstärkt im frühen 20.

Die westliche Kunstform Oper war ein wesentlicher Teil davon. Komponisten wie Carrer oder Samara waren in ltalien (am Konservatorium Mailand) ausgebildet und übertrugen das Gelernte auf eine  nationale Basis. Die eigentlichen Pioniere auf dem Gebiet der Oper waren jedoch zuvor reisende Truppen gewesen, die auf den lnseln von ltalien her Oper gespielt und eine gewisse Tradition oder zumindest einen Bekanntheitsgrad  für diese Unterhaltungsform gesetzt hatten. Oper also bedeutete ein Stück Europa (West­ Europa!), und Zugehörigkeit zur westlichen Völkerfamilie, der es sich durch seine Geschichte und seinen Widerstand gegen die osmanischen Besatzer eng verbunden fühlte. lnsofern ist jede Betrachtung der Operngeschichte Griechenlands auch ein Blick auf das Streben nach Anerkennung durch den Westen.

Der englische Dichter und S. Wagner-GHefährte Clement Harris, der aktiv am griechichen Freiheitskamp teilnahm und feurige, wenngleich auch verstörende Berichte schrieb/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Vor allem in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts war das griechische Musikleben auf die Oper ausgerichtet. Athen besaß ein wichtiges und erfolgreiches Konservatorium, an dem viele renommierte ausländische Lehrer unterrichteten. Die europäische Musik setzte sich mehr und mehr in der Öffentlichkeit durch (namentlich in der gebildeten dünnen Operschicht), und die allmähliche Anerkennung der ionischen Schule (der auf den lnseln gewonnenen Ausdrucksformen als spezifisch griechisch) half dem Musikleben zu einem neuen, eigenen Gesicht. Komponisten wie Mantzaros, Padovanis, Carrer, Rhodotheatos und andere schrieben für das Establishment, die Oberschicht , die sich nach Westen ausgerichtet hatte und die für die Errichtung von Opernhäusern und Konzertsälen nicht nur in Athen , sondern auch in Patras, Hermoupolis und anderen Städten sorgte. Es war die Oper, die – vor allem mit der post-wagnerianischen Ausrichtung – diese pro-westlichen Strömungen verkörperte und in die nun das Nationalgefühl, das Streben nach einem eigenen nationalen Ausdruck, eingebracht wurde. Wenngleich keine wirkliche Verschmelzung der äußeren Einflüsse mit den einheimischen erreicht wurde wie z. B. im Paris des beginnenden 19. Jahrhunderts. Oper bleibt bis heute – denke ich – in Griechenland etwas Akademisches: ein Medium für die Oberschicht, die wie in anderen Ländern des Balkans oder des Orients auf den Westen fixiert war/ist. Man sprach Französisch (und nur wenig Englisch). Noch Elvira de Hidalgo unterrichte ihre Schüler (und Maria Callas) zwischen den Kriegen in Französisch, während dann die besatzenden ltaliener (und Deutschen ihre Sprache für eine Zeit durchsetzten.

Zu der Oper „Soeur Béatrice“ vom Dimitri Mitropoulos: “The Reception of Lord Byron at Missolonghi” by Theodoros Vryzakis/ Wikipedia

Unter diesen Umstanden wuchs das  Voilumen an griechischen Opern vor allem in dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Namen wie Samara, Lavrangas, Sakallarides, Kalomiris oder Sklavos stehen dafür (auf die veristische, i. e. italienische Atmosphäre in der Martire/ Natalia Samaras wurde bereits an anderer Stelle bei operalounge.de hingewiesen) Dabei muss auch erwähnt werden, dass eben viele bzw. die meisten Werke nicht in griechischer Sprache, sondern in einer westlichen (weitgehend italienischen) konzipiert und aufgeführt wurden und – so im Falle der Natalia Samaras – im westlichen Ausland einen größeren Erfolg fanden als im Heimatland: Natalia hatte z. B. durchaus eine deutsche Tradition und wurde bei Bote & Bock in Berlin verlegt, andere bei Ricordi oder Sonzogno in ltalien. Vielleicht war es die bewegte politische Zeit Griechenlands jener Jahre mit ihren Putschen, Umstürzen, Königsvertreibungen, Besetzungen und Kriegen, die ein weiteres Heranreifen des Opernlebens, des eigenen Idioms, verhinderten

Mit  dem 1. Weltkrieg  war  diese kurze Blüte des griechischen Musiklebens westlicher Prägung vorbei und hat sich davon nie wieder richtig erholt, selbst wenn heute natürlich internationales Kulturleben in Griechenland herrscht und namentlich das Athener Opernhaus (mit internationalem Spielplan und wenig Griechischem) und das Megaron (mit Aufführungen von Strauss und Wagner) bedeutende und eben internationale Institute sind, wie sie sich auch in anderen Regionen  Griechennlands vereinzelt finden.

Dank besonders an den von mir hoch verehrten Dirigenten Byron Fidetzis und seinen Artikel im Booklet zur Aufnahme der Oper bei der griechischen Firma Lyra 2006, inzwischen vergriffen und die Firma obsolet, was ein Jammer ist, denn es gab viele Einspielungen giechischer Musik und Opern ebendort..Das Foto oben zeigt Deborah Kerr als Nonne in dem britischen Film „Black Nacissus“ von Michael Powell und Emric Pressburger 1947/ Still aus der immer noch auf dem Markt erhältlichen Rank-DVD.

Und als Nachtrag von 2023 gibt es den Hinweis auf die moderne, konzertante Wiederaufführung der Soeur Béatrice in Athens Maria Callas Olympic Concert Hall 2022 mit Catherine Hunold in der Titelpartie (Foto oben/youtube) unter der Leitung von Pierre Dumoussaud; die Edition stammte von Byron Fidetzis. Anzuschauen bei youtube.