Nie war ich Kirsten Flagstad so nahe wie in ihrem Geburtshaus in Hamar. Eineinhalb Eisenbahn-Stunden nördlich von Oslo gelegen, eine schlichte Stadt. Der stattliche Bahnhof, hier und da ein altes Haus, ein Grand Hotel, eine Terrasse unter einer Pergola lassen einstigen Wohlstand erahnen. Inzwischen hat sich eine gewisse Tristesse über Straßen und Plätze gelegt. Das Letzte, woran der Flaneur an diesem abgeschiedenen und uncharmanten Ort im Norden Europas denken würde, ist die Flagstad. Diese hohe Frau, durch und durch Dame wie es sie heute kaum mehr gibt, die nie ohne Perlenkette aus dem Haus ging, den kostbaren Pelz über die Schultern geworden.
Wer sie noch persönlich erlebt hat, spricht zu allererst von der raumgreifenden Wirkung, das ihr Erscheinen hatte. Betrat sie einen Raum – von der Bühne gar nicht erst zu reden – stocke den Anwesenden der Atem. Dabei soll sie sehr herzlich ein einfach gewesen sein.
Herzlich und einfach, das sind die Attribute, die sich hauptsächlich mit ihrem Geburtshaus verbinden, weniger Pelz und Perlenkette. Das einstöckige Holzhaus, etwas abschüssig mitten in der Stadt gelegen, ist keine Villa wie jenes komfortable Anwesen in Kristiansund an der Atlantikküste, das sie auf der Höhe ihres Ruhms bis zum Tod 1962 bewohnte und das den angemessenen großbürgerlichen Rahmen für das glanzvolle Leben dieses Weltstars abgab. In Hamer muss sich der
Gast Kirsten als Kind einer Musikerfamilie denken – der Vater Dirigent, die Mutter Pianistin. Ölgemälde aus späteren Jahren zeigen die Mutter streng, den Vater versonnen und selbstbewusst. Obwohl dieses enge Haus der authentischsten aller Orte ist, das kleine Mädchen, das auf der
engen Stiege zum oberen Geschoss herumhüpft, konnte ich mir nicht vorstellen.
Dafür sind die Devotionalien, die allesamt aus jenen Jahren stammen, als die Flagstad an der Met, an der Scala, in London, Zürich, Paris oder Wien ihre größten Erfolge feierte, zu überwältigend. Sie haben nichts mit den einfachen und schlichten Jugendjahren in diesem Provinznest zu
tun. Sie sind hier untergebracht, weil es sonst keinen anderen persönlichen Ort der Erinnerung gibt. Die Villa in Kristiansund ist verkauft, die Asche ins Meer gestreut. Es gibt kein Grab von Kirsten Flagstad.
Das berühmte Kostüm der Brünnhilde mit Federhelm, Schild und Speer scheint einen der kleinen Räume fast zu sprengen. Zu sehen ist auch, was sie als Isolde, Elisabeth und Kundry trug. Hier wie da ist die allzu große Nähe der Wirkung der Modelle nicht zuträglich. Dies gilt nicht für den Schmuck, den die Flagstad als Purcellsche Dido 1951 im Londoner Mermaid Teatre trug, und der es wenig später auch auf das Plattencover der Studioproduktion von Dido and Aeneas brachte. Diadem, Ohrgehänge und Kette scheinen aus purem Gold gearbeitet. In einer anderen Vitrine glänzt der Pokal, den sie bei der Verabschiedung in der Metropolitan Opera als Alceste mit beiden Armen als strahlende Siegerin hoch hält. Ein prunkvolles Bett, über das ein feiner Morgenmantel und ein Negligé aus feiner Spitze geworden sind, bildet einen grellen Kontrast zur Einfachheit des Standorts.
Diskrete Besucher gehen schnell daran vorbei. Ich jedenfalls möchte nicht wissen, wie Kirsten Flagstad auf dieser Liegestatt geruht hat. Guten Geschmack verraten alle möglichen persönlichen Gebrauchsgegenstände wie Necessaires, Schminkkoffer, das grüne Reiseglas für den Sherry.
Niemand kann die Fotos zählen, die die Wände fast aller Zimmer übersäen. Sie dokumentieren eine lange Karriere, an deren Anfang nicht Wagner stand sondern das ganz normale Repertoire eines jungen begabten Soprans – einschließlich Auftritte in Operetten wie Vetter aus Dingsda oder Fledermaus. Zeit braucht es, sich in die vielen dicken Bände mit den gesammelten Kritiken, Besprechungen und anderen Veröffentlichungen zu vertiefen. Eine Diskographie, die in den USA
als Dissertation angenommen worden war, leistet das akustische Erbe der
Sängerin, das bekanntlich sehr umfangreich ist, in allen seinen Verzweigungen auf. Verfolgt wird die Veröffentlichungsgeschichte jede Arien, jedes Liedes, jeder Szene. Wann, wo, wie ist welche Aufnahme erschienen? Der Autor erbringt den Beweis, dass dies tatsächlich wissenschaftliche Forschungsarbeit ist und keine aberwitzige Sammlerwut. Die freundliche und kompetente Führung erklärt geduldig. Auf Wunsch werden Platten und CDs aufgelegt. „Mild und leise wie er lächelt….“ Einmal das Geburtshaus von Kirsten Flagstad besuchen! Der lang gehegte Wunsch hat sich erfüllt.
Ich bin zufrieden und tief bewegt. Bin ich auch der Sängerin näher gekommen? Nein. Ich bin ihr ja längst nahe, wenn ich mich in ihre Aufnahmen versenke. Das ist die Begegnung mit der Ewigkeit. Kostüme und Bettgestelle werden eines Tages nicht mehr da sein.“
Wer will, kann das Kirsten-Flagstad-Museum in Hamar auch im Internet besuchen, virtuell durch die Räume gehen, in Fotoalben blättern, Bücher und CDs bestellen. – Das große Foto oben zeigt Kirsten Flagstad bei einem Treffen mit dem Komponisten Jean Sibelius, dessen Orchesterlieder sie bei der EMI einspielte. Rüdiger Winter