Aufstiegsgeschichte

 

Bekanntlich steigt Aschenputtel oder besser Cendrillon, wie das Mädchen in Charles Perraults Urfassung des Märchens heißt, in den höchsten Adel auf,  auf das Massenet auf dem Höhepunkt seines Erfolgs für seine 1899 uraufgeführte Märchenoper zurückgriff. In Glyndebourne stieg dafür die Dame des Hauses, die mit dem Enkel des Festspielgründers verheiratete Danielle De Niese, eigens in die Aschenkuhle und trifft gleich während des Vorspiels auf ihr kindliches Alter Ego, das einem Schmetterling nachblick. In der von Fiona Shaw 2018 für die Tour des Festivals fabrizierten und im Sommer 2019 von Fiona Dunn nach Glyndebourne transferierten Inszenierung entpuppt sich der Kleinmädchentraum als modern Fantasie, in der sich die zahllosen zeitgenössischen Anspielungen und der Kostümzauber erstaunlich gut mit den Märchenelementen und dem großbürgerlichen Interieur (Jon Bausor) samt fleißigem Hauspersonal im Hause des von Lionel Lhote als aufmüpfiger Bonhomme gestalteten Pandolfe mischen (DVD Opus Arte OA 1303, nur engl. Beiheft, keine Trackinglist): (Schlamperei und auch eine gewisse Verachtung der nicht englischsprachigen Käufergruppe gegenüber, das geht so nicht, die deutschsprachigen Länder sind ein gewaltiger Käuferblock in Europa, da sollte die Firma umdenken!/ G. H.).

Den Geist der Belle Époque evozieren die überdrehten Kostüme, in die sich die fabelhaft präsente, die Egozentrik der Figur ausschöpfende, stimmlich stark outrierende Agnes Zwierko als Madame de la Haltière und ihre beiden geschmacklosen Töchter, die eine dünn und mit bauchfreiem Top, die andere pumperlrund und mit rosa Stofftier am Dekolleté, werfen. De Niese ist anmutig und bezaubernd als staubwischende Cendrillon. Ihr lyrischer Koloratursopran scheint manchmal ein wenig klein für die Partie, doch sie trifft den Lyrismus der Partie, den Zauber und die Anmut der Figur („Vous êtes mon Prince Charmant“) ohne dass ihr Kraft für die große Szene zu Beginn des 3. Akts oder die emotionale Würde für „Seule, je partirai“ fehlen. Getragen wird sie von John Wilson, der das London Philharmonic Orchestra zu süßer Transparenz anhält. Höhepunkt der Ver- und Entrückung, wo Henri Cains Libretto Perrault verlässt, sind die Szenen, vor allem im dritten Akt, in denen sich Cendrillon und der Prinz zwar hören, doch nicht sehen und sich Cendrillon im übertragenen wie realen Sinn in einem spiegelnden Irrgarten verläuft, aber schließlich mit dem Prinzen im Bett findet. Der genderfluide Prinz, „a sort of boy-band fantasy“ und Dienerin im grauen Sackkleid, dem sein Herz herausoperiert wurde, der dieses am Ärmel seines Jacketts trägt und endlich auf Cendrillons Kopfkissen deponiert, wird von der amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey, der die Partie nicht immer glücklich zu liegen scheint, auf nicht unangenehme und zunehmend überzeugende Weise gesungen. Shaw überlädt das Märchen wie einen aufgeputzten Weihnachtsbaum, „Because everybody knows the Cinderella story, your job is to tell it in a new way“, und ihr Hang zu symbolischen Bildern, tiefenpsychologischen Deutungen  – vor allem in den Ballettszenen – und Küchenpsychologie kann manchmal nerven. Durchgehend überzeugend die geheimnisvollen Bilder mit der Cendrillon an ihre verstorbene Mutter erinnernden Fee, für die die armenische Sopranistin Nina Minasyan gläserne Koloraturen und eine Aura altmodischer Eleganz aufbietet. Rolf Fath