Ist es denn auch wirklich Schubert? Es ist Schubert! Und es ist auch keine Bearbeitung. Trotzdem klingt die Schöne Müllerin bei Rudolf Schock irgendwie anders. Weil ihr Schock seinen ganz unverwechselbaren Stempel aufdrückt. Damit ist nicht nur das Timbre gemeint. Der Sänger grübelt nicht über diese und jene Ausdrucksnuance, versucht sich nicht in Tiefgang wie Fischer-Dieskau. Exegese liegt ihm fern. Wie in keiner anderen Aufnahme gerät der Zyklus in die Nähe von Wanderliedern. Er unternimmt nicht einmal den Versuch, die gute Laune abzulegen. Er singt drauflos, kann nicht anders. Er ist halt so, es ist sein Stil. Unverstellt und geradezu. Auch deshalb war und ist Schock so unglaublich populär. Bis heute. Am 4. September 2015 wurde seines 100. Geburtstages gedacht.
Aus diesem Anlass hat das schweizerische Label Relief, das sich leider etwas rar gemacht hat am Markt, diese Müllerin neu aufgelegt. Sie war 1959 von der Electrola produziert worden, hatte sich zur Rarität gemausert und liegt nun erstmals auf CD vor (CR 3006). Zeit wurde es. Am Klavier sitzt Gerald Moore, dem die Welt unglaubliche viele und bedeutende Liederplatten und Liederabende zu verdanken hat. Er folgt seinem Solist, schlägt ebenfalls optimistische Töne an. Nach zehn Liedern wird deutlich, dass sich Schock nicht zu steigern vermag und kein erkennbares Konzept hat. Ein Lied klingt wie das andere. Er zieht Töne gern nach oben, um sie dann etwas forciert herauszupressen. Ein technischer Defekt, der zu seinem Markenzeichen geworden ist. Auf diese Weise löst Schock seine Probleme mit der knappen Höhe. Mich stört das nicht. Etwas albern klingt es aber, wenn er sich beispielsweise im letzten Lied ins Falsett flüchten muss, um Töne außerhalb seiner natürlichen Tessitura zu treffen. In solchen Momenten rutscht seine durchweg sympathische und sehr empfehlenswerte Darbietung ins Triviale ab. Zur Müllerin werden noch drei Lieder gepackt: Auf dem Wasser zu singen, Nacht und Träume und Der Musensohn. Relief hat das Andenken an Schock immer sehr hochgehalten. Nun also die Lieder-CD, die trotz ihrer Eigenarten, die ja gleichzeitig ihre Besonderheit sind, dankbare Käufer finden wird.
Dieser Tage sind mir auf einem Berliner Flohmarkt die Erinnerungen von Rudolf Schock in die Hände gefallen. Das Buch ist 1986 im Herbig-Verlag erschienen. Schock, der im selben Jahr starb, hat es schreiben lassen. Sein Titel: „Ach, ich hab in meinem Herzen…“ Dieses Zitat stammt aus der 1936 in Hamburg uraufgeführten Oper Schwarzer Peter von Norbert Schultze. Für den Film Der fröhliche Wanderer hat Schultze das ursprüngliche Duett zu einem Lied für Schock, der selbst mitspielt, umgearbeitet. Wie das Lied ist der ganze Film eine Schnulze. In Dokumentationen, Büchern und Kund Datenbanken ist der Spott der Kritiker bis heute nicht verflogen. Schock machte sich wohl nichts daraus, weil er das Publikum auf seiner Seite wusste. Dennoch finde ich es irritierend, dass der Sänger sein reiches künstlerisches Schaffen unter dieses flüchtige Motto gestellt wissen wollte. Je älter er wurde, umso mehr sah er offenbar die Rolle seines Lebens als Fernsehstar. Nicht von ungefähr beginnen auch die Memoiren in diesem Metier: „Stille herrscht im Saal. Langsam wird auf der Bühne das Licht eingezogen, die Scheinwerfer richten sich auf mich …“ Unser Rudi. Ich bin mit Schock groß geworden. Noch bevor ich eine seiner Opernplatten unter die Finger bekam, nahm ich ihn ausschließlich als Mann auf dem Bildschirm wahr, genauso wie Frankenfeld, Kulenkampff oder Hänschen Rosenthal. Als das Farbfernsehn aufkam, fiel mir als erstes auf, dass seine Haare dunkelbraun wie Kastanien gefärbt waren.
Der Radius seiner Karriere war begrenzt. Nur selten ist er über den deutschsprachigen Raum hinaus gekommen, mehrfach nach London, zu Konzerten nach New York und Philadelphia. Viel mehr nicht. Dafür war er so tüchtig und unerschrocken wie sonst niemand auf seinen (fröhlichen) Wanderungen zwischen den Genres. Er kannte keine Berührungsängste, sang noch unter Furtwängler Beethoven und Wagner, wurde in Bayreuth als Stolzing gefeiert, war bei der Uraufführung von Liebermanns Penelope in Salzburg mit dabei, schwebte durch diverse Heimatfilme, nahm zwischendurch seinen berühmten ersten Freischütz unter Keilberth auf, konkurrierte mit Klein-Heintje, sang unter vielen Weihnachtsbäumen, arbeitete ein enormes Operettenrepertoire ab, war der Star mehrerer guter Opernverfilmungen, verbreitete im „Blauen Bock“ gute Laune, machte auch vor Schuberts Winterreise nicht halt. Seine Platten sind Legende. Sechzig klein bedruckte Seiten braucht es für die Diskographie in seinem Buch. Nicht mitgezählt sind die vielen Fernsehauftritte, bei denen er immer auch sang. So lässlich ich vieles von und mit Schock finde, so sehr hat mich diese Umtriebigkeit immer fasziniert. Viele Aufnahmen, die er hinterlassen hat, höre ich gern. Meistens komplette Opern oder Szenen.
Seine Operetten sind mir oft zu leichtfüßig, zu hingehuscht, zu glatt, statt des künstlerischen Gehaltes mehr die Umsatzzahlen im Blick. Offenbar waren sie von vornherein wohl auch als Massenware gedacht. Warum auch nicht? Im Archiv der EMI / Electrola, das jetzt bei Warner Classics gelandet ist, werden viele Einspielungen verwahrt. Ein Querschnitt einzelner Szenen ist jetzt auf zwei einzelnen CDs neu aufgelegt worden. „Da geh ich zu Maxim“ ist die eine betitelt (825646109951), die andere versteht sich als „A Portrait“ (5099961534223). Beide sind im Rahmen der preiswerten Serie Inspiration herausgegeben worden, kein Schnickschnack, nur mit den allernötigsten Informationen versehen. Ohne viel Federlesens wurden die Nummern zusammengestellt. Auf dem Portrait vertragen sich Cavaradossis letzte Arie „Und es blitzen die Sterne“ aus Puccinis Tosca sehr gut mit dem weinseligen Chianti-Lied von Gerhard Winkler. Das echte Italien trifft auf ein Italien, wie es sich die Nachkriegs(west)deutschen vorstellten. Auf der CD klingt eines wie das anderes. Das muss man auch hinbekommen. Unser Rudi kann das. Bei der Operetten-Auswahl wurde sich auch nicht lange aufgehalten. Von Bettelstudent über Madame Pompadour und Paganini zum Graf von Luxemburg – alles Selbstläufer.
Die Neuauflage der Carmen von Bizet, 1961 für die deutsche Electrola produziert wie fast alle Schock-Aufnahmen, nun auch bei Warner, ist eine gute Entscheidung (5099991230027). Schock singt an der Seite von Christa Ludwig den Don José, Hermann Prey den Escamillo, Melitta Muszely die Micaela. Es wird Deutsch gesungen, in der Rezitativfassung, mit der die Oper 1874 für Wien – und
damit zwei Jahre nach der Uraufführung in Paris – ihren eigentlichen Siegeszug begann, der bis heute anhält. Es ist nicht die erste Aufnahme von Schock, der den José auch auf der Bühne gesungen hat. Bereits 1954 war das Werk bei Bayerischen Rundfunk unter Eugen Jochum eingespielt worden. 2004 hatte das schweizerische Label Relief die Aufnahme erstmals veröffentlicht. Sie ist schon deshalb von besonderem Interesse, weil sie – ebenfalls in deutscher Übersetzung – der Originalfassung mit den gesprochenen Dialogen nachempfunden ist. Schock spricht selbst.
Ein ausgesprochenes Highlight verstreckt das Label The Intense Media in seiner Geburtstagsbox für Schock, die Mozart-Gesamtaufnahmen enthält (600227). Gemeint ist der Mitschnitt der Eröffnungsvorstellung der neuen Hamburgischen Staatoper am 15. Oktober 1955 mit der Zauberflöte. Einige Szenen waren bereits vor einiger Zeit in der Sammlung „Rudolf Schock – Nachklang einer Stimme“ veröffentlicht worden. Nun also das komplette Dokument mit originaler Ansage und prominenter Besetzung. Schock ist der Tamino. Eine gewisse Knappheit ist schon damals in der Höhe feststellbar. Mit seinem langsamen Tempo, das auf der gesamten Aufführung mitunter wie Blei lastet, mutet der Dirigent Leopold Ludwig dem Sänger sowie dem gesamten Ensemble sehr viel zu. Colette Lorand aus Zürich, die die Königin der Nacht singt, geht darüber in ihrer zweiten Arie fast die Luft aus. Sie muss ihre Koloraturen regelrecht hinter sich her schleppen. Auch Arnold van Mill als Sarastro braucht einen langen Atem, um seine Auftritte durchzuhalten. Mit dieser Zauberflöte ist die amerikanische Sopranistin Anne Bollinger, die Schülerin von Lotte Lehmann gewesen ist, mit einer Hauptrolle dokumentiert – und zwar als Pamina mit etwas unstetem Ton. Krankheitsbedingt musste sie ihre Karriere frühzeitig beenden. Sie starb mit nur 43 Jahren. Niedlich gibt sich Anneliese Rothenberger als Papagena. Die anderen Aufnahmen sind gute alte Bekannte, denen man gern wieder begegnet. Die Entführung aus dem Serail entstand 1954 beim NDR unter Hans Schmidt-Isserstedt mit Schock als Belmonte. In den Dialogen wird er durch einen Sprecher ersetzt. Sein von Karl Böhm begleiteter Idomeneo wurde 1956 bei den Salzburger Festspielen mitgeschnitten. Die Cosi fan tutte (Ferrando) schließlich ist wiederum eine Rundfunkproduktion, diesmal von 1957 bei Bayerischen Rundfunk. Dirigent ist Eugen Jochum.
Richard Wagner ist ein Kapitel für sich im künstlerischen Leben von Rudolf Schock. Mit Blick auf seinen 100. Geburtstag hat The Internes Media eine weitere Edition herausgebracht und darin genau dieses besondere Kapitel angerissen (600255). Mehr nicht. Eine 10-CD-Collection hat bei Wagner ihre Grenzen. Berücksichtigt wurden Der fliegende Holländer, Die Meistersinger von Nürnberg und Lohengrin (alle EMI). Die großen Ausschnitte aus Rheingold sind ein Sonderfall. Sie stammen aus einer NDR-Produktion von 1953, die mit großer Verspätung zuerst bei Walhall herausgekommen ist. Es gibt noch mehr Wagner mit Schock. Gleich zwei Rollen singt er in Furtwängler legendärem Tristan von 1952, nämlich den Seemann und den Hirt. In einem als Querschnitt produzierten Rheingold mit besonderen musikalischen Überleitungen, die so nicht von Wagner stammen, ist er – wie in der NDR-Produktion – der Froh. Und genau richtig besetzt. Eine Hauptrolle ist Froh nicht. Dafür hat er eine der schönsten Melodien zu singen, die ich von Wagner kenne: „Zur Burg führt die Brücke, leicht, doch fest eurem Fuß. Beschreitet kühn ihren schrecklosen Pfad!“ Deshalb sollte der Froh so luxuriös wie nur möglich besetzt werden. Dem Publikum muss der Atem stocken vor so viel Schönheit und musikalischem Ebenmaß. Produktionen aus jüngster Zeit sind meist nicht wählerisch bei der Auswahl ihrer Froh-Solisten. Oft geht der Auftritt sogar völlig unter. Mit seinem strahlenden Tenor, so leicht geführt wie die Regenbogenbrücke leicht ist, schafft es Schock, genau diese kurze Szene nach dem Gewitterzauber zu einem Höhepunkt – wenn nicht dem Höhepunkt des ganzen Werkes zu machen. Schock ist genau richtig. Er hat die Rolle auch auf der Bühne verkörpert, am Beginn der Karriere 1936 in seiner Heimatstadt Duisburg. Im selben Jahr wurde er als 1. Tenor für den Chor der Bayreuther Festspiele engagiert.
Auf seine erste und einzige große solistische Aufgabe in Bayreuth musste er noch ein Vierteljahrhundert warten. Wieland Wagner, der 1958 mit Schock in Hamburg den José in Carmen erarbeitet hatte, hielt offenbar viel von ihm und lud ihn im Jahr darauf für den Stolzing nach Bayreuth ein. Das sorgte für reichlich Aufmerksamkeit, inklusive Kopfschütteln. Schock hatte zu dieser Zeit bereits in ganz anderen Rollen Furore gemacht. Mit diversen Operetten zum Beispiel und als Franz von Schober in dem krachbunten Spielfilm Dreimädlerlhaus, in dem der Schauspieler Karlheinz Böhm vorgibt, Franz Schubert zu sein. Auch die der Samstagabend-Unterhaltung verpflichtete TV-Karriere kündigte sich bereits an. Bei allen diesen Gegensätzen passte Schock zum Stolzing, der der auch völlig neue Töne anschlägt, dann kleinbeigibt und sich schließlich in den erlauchten Kreis der Meistersinger aufnehmen lässt. Für mich ist er ein unkonventioneller Stolzing. Mit seiner lyrischen Stimme ist er mir sogar lieber als ein klassischer Heldentenor. Er überzeugt mich mehr, ist glaubwürdiger. Und es wird einmal mehr deutlich, dass Wagner auch mit Mozart- und Operettenerfahrung gesungen werden kann. Dafür gibt es ja auch andere Beispiele wie der fast gleichaltrige Wolfgang Windgassen, Franz Völker oder Marcel Wittrisch. In dieser Tradition steht Schock. Damals soll er sich mit weiteren Plänen für Wagner getragen haben.
Aus einem Interview ist überliefert, dass er sich sogar den Siegmund habe vorstellen können. Daraus wurde nichts. Wer weiß, wofür es gut war. Bühnenauftritte in Wagner-Opern sind bei Schock sehr übersichtlich. Letztlich siegte bei ihm wohl die Einsicht, mit seinen stimmlichen Mitteln hauszuhalten. Den Walther von Stolzing hat er nur 1959 in Bayreuth gesungen. Ein einziger Auftritt ist im Jahr darauf an der Wiener Staatsoper dokumentiert. Als Lohengrin ist er 1957 in Braunschweig und 1959 in Hamburg und Bremen aufgetreten. Dazu der bereits erwähnte Froh. Viel mehr kommt nicht zusammen. Statt der Meistersinger unter Kempe hätte sich der von Erich Leinsdorf dirigierte Bayreuther Mitschnitt besser gemacht, der zuletzt vor fünf Jahren bei Myto erschien. Hingegen ist die Studioproduktion noch genauso zu haben ist wie der Holländer und Lohengrin. Ich möchte den Sammler sehen, der sie nicht schon im Schrank hat. Rüdiger Winter