Legendäres

 

Auf den ersten Blick ist die groß angelegte, insgesamt 24 CDs umfassende Kollektion Philharmonia Orchestra – Birth of a Legend, welche Warner Classics jetzt zu Ehren des 75. Geburtstages dieses berühmten britischen Orchesters auflegt (0190295349516), gar nicht so sonderlich spektakulär. Man beschränkt sich bewusst auf den ersten, aus der Rückschau sicherlich legendärsten Zeitabschnitt dieses Klangkörpers, von der Gründung im Jahre 1945 durch den Produzenten Walter Legge bis zum Beinahe-Untergang neunzehn Jahre später, als sich EMI von Legge und diesem Orchester trennte, das dann aber 1964 bekanntlich als New Philharmonia Orchestra eine Wiederauferstehung feiern konnte und (abermals unter dem alten Namen) bis heute besteht.

 

Streng genommen hatte das „alte“ Philharmonia, wie es oft kurz genannt wurde und später zeitweise so auch offiziell firmierte, erst ab 1959 einen Chefdirigenten, als Legge der Berufung Otto Klemperers zustimmte. Freilich übte Herbert von Karajan diese Funktion de facto bereits davor aus. Beiden sind daher zurecht bereits jeweils drei CDs gewidmet. Die meisten der Aufnahmen sind dem Sammler natürlich seit langem geläufig. Von Wichtigkeit ist gerade der Umstand, dass sie teilweise komplett neu remastered wurden, was in den meisten Fällen zu einer spürbaren Verbesserung des Hörerlebnisses führt. Davon profitieren besonders die Stereo-Einspielungen, aber auch jene in Mono, die in Karajans Fall dominieren: Das Schumann’sche Klavierkonzert mit Dinu Lipatti vom 1948, das vielfach noch heute als Referenz herangezogen wird, Schuberts Unvollendete von 1955, die Sinfonien Nr. 5 und 7 sowie die Egmont-Ouvertüre von Beethoven in den frühen Aufnahmen zwischen 1951 und 1954, der Don Juan von Richard Strauss (1951) und nicht zuletzt die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Béla Bartók (1949). Einzig die Pini di Roma von 1958 und Sibelius‘ Fünfte von 1960 erklingen schon im Stereo-Klang und klangen wahrscheinlich noch nie so gut wie in dieser Box. In Klemperers Fall griff man ebenso vornehmlich zu Mono-Produktionen von Mitte der 1950er Jahre, darunter Mozarts Kleine Nachtmusik und die Jupiter-Sinfonie sowie als Weltpremiere Don Juan (deutlich flotter als Karajan übrigens) und Till Eulenspiegel von einem Live-Konzert 1958, die künstlerisch einen anderen, frischeren Zugriff zeigen als jenen landläufig bekannten von „Old Klemp“, entstanden sie doch vor seinem Brandunfall, der ihn gesundheitlich einschränkte. Von seinem berühmten Beethoven-Zyklus wählte man für diese Edition einzig die Neunte von 1957, die als Klassiker gilt, aber nicht ganz die Intensität der fast zeitgleichen Live-Aufführung in Stereo (!) aufweist (bei Testament erschienen). Wahrhaftig klassisch auch die Beigabe von Mahlers Vierter mit Elisabeth Schwarzkopf, in gewisser Hinsicht bis zum heutigen Tage unerreicht. Von Klemperers Einsatz für die Moderne zeugt die Kleine Dreigroschenmusik von Kurt Weill, die er 1961 im bereits hohen Alter einspielte.

Lange vergriffen und hochinteressant: Elisabeth Schwarzkopfs Memoiren über sich und ihren Mann, Walter Legge, dem Begründer des Philharmonia Orchestras/ Discogs

Ein Weltklasse-Dirigent, der in der Frühphase des Philharmonia Orchestra häufig zu Rate gezogen wurde, war selbstredend Wilhelm Furtwängler, der hier mit immerhin zwei Discs berücksichtigt ist, alles klanglich ebenfalls generalüberholt. Klangwunder darf man sich von diesen uralten Aufnahmen allerdings nicht erhoffen, entstanden sie doch bereits zu Beginn der 50er Jahre. Gewichtig die  Wagner-Einspielungen mit Kirsten Flagstad (1952), nicht weniger bedeutend die Lieder eines fahrenden Gesellen mit dem jungen Dietrich Fischer-Dieskau aus demselben Jahr. Zwei weitere legendäre Solisten, Edwin Fischer und Yehudi Menuhin, werden von Furtwängler im fünften Beethoven’schen Klavierkonzert (1951) bzw. im zweiten Violinkonzert von Bartók (1953) begleitet.

Furtwänglers großer Antipode Arturo Toscanini ist mit seinem im Herbst 1952 in der Royal Festival Hall live mitgeschnittenen Brahms-Zyklus verewigt, bestehend aus den vier Sinfonien, der Tragischen Ouvertüre sowie den Haydn-Variationen. Die nüchterne Klarheit des Italieners ist im größten Gegensatz zur nebulösen Romantik Furtwänglers. Untrennbar mit Toscanini verbunden ist sein Protegé Guido Cantelli, heute oft übersehen, seinerzeit eine der größten Hoffnungsträger der Tonträgerindustrie; ein früher Unfalltod machte dem jäh einen Strich durch die Rechnung. Auch ihm sind nicht weniger als drei CDs gewidmet, leider mit bloß zwei Ausnahmen – Brahms‘ Dritte und Mozarts Musikalischer Spaß – mäßig klingende Mono-Produktionen: Mendelssohns Italienische, Schumanns Vierte, Tschaikowskis Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia sowie französische Musik von Ravel, Debussy und Dukas.

Der imperiale Gründer des Philharmonia: Walter Legge/ Discogs

Von ganz erheblicher Bedeutung für die Geschichte des Philharmonia Orchestra war auch ein anderer italienischer Dirigent, nämlich Carlo Maria Giulini, dessen Wichtigkeit ebenfalls durch drei CDs in der Edition unterstrichen wird. Hier sind wir nun glücklicherweise schon endgültig in der Stereo-Ära angekommen. Die älteste der Einspielungen datiert auf September 1956: Tschaikowskis Sinfonie Nr. 2, die sogenannte Kleinrussische. Die Aufnahme, obwohl im Finalsatz leicht gekürzt, ist ein absoluter Dreh- und Angelpunkt der Diskographie. War der sehr frühe Stereo-Klang bisher leider ein Manko, wird diese Einschränkung durch das nagelneue Remastering endlich obsolet. Überzeugender hat das noch nie geklungen. Neben Mussorgski (Eine Nacht auf dem kahlen Berge) und ein paar französischen Stücken (Bizet, Franck, Ravel) ist es vor allem die italienische Musik, die bei Giulini im Mittelpunkt steht. Vier Ouvertüren von Rossini, die Quattro pezzi sacri von Verdi mit Janet Baker sowie die weithin berühmte Einspielung der Messa da Requiem von 1963/64 mit Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Nicolai Gedda und Nicolai Ghiaurov sowie dem Philharmonia Chorus unter Wilhelm Pitz. Künstlerisch gibt es kaum eine geschlossenere Interpretation. Leider Gottes konnte nicht einmal die neueste Auffrischung des Klanges die seit Jahrzehnten berüchtigten Übersteuerungen in den lauten Passagen beseitigen. Dies schränkt den Hörgenuss besonders in den Chören empfindlich ein.

Die Dirigentenfelsen des Philharmonia 1964: Otte Klemperer, Adrian Bloult, Walter Legge und der junge Carlo Maria Giulini/ Philharmonia

Die restliche Box behandelt nicht weniger als vierzehn weitere Gastdirigenten, von William Walton (mit eigenen Kompositionen, eingespielt 1946, 1951 und 1953) über Paul Kletzki (Tschaikowskis Serenade C-Dur von 1952) bis hin zu Nikolai Malko (Auszüge aus Glinkas Ruslan und Ljudmila von 1950/52, erstmals auf CD). Weiterhin ausdrücklich als Raritäten deklariert die Suite zu I gioielli della Madonna von Ermanno Wolf-Ferrari unter Charles Mackerras (1956), die Suite fis-Moll von Ernö Dohnányi unter Robert Irving (1954, ebenfalls Premiere) sowie die Tanzsuite aus Klavierstücken von François Couperin aus der Feder von Richard Strauss unter Artur Rodzinski (1958). Die Symphonie fantastique unter der Leitung von André Cluytens aus demselben Jahr reicht allerdings nicht an dessen spätere Live-Aufführung mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire in Tokio 1964 (IMG Artists) heran. Exzeptionell dafür das lange Jahre nur schwer greifbare Sacre du printemps unter der Stabführung von Igor Markevitch (1959), welches sogar mit original russischen Aufnahmen mithalten kann.

Auf CD 22 werden besonders die Solisten des Philharmonia Orchestra herausgestellt, so der Violinist Manoug Parikian in der Meditation aus Thaïs von Massenet (unter George Weldon, 1951), der Hornist Dennis Brain im zweiten Hornkonzert von Richard Strauss (unter Wolfgang Sawallisch, 1956), der Flötist Gareth Morris in Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune (unter Igor Markevitch, 1954), der Pianist Shura Cherkassky und der Trompeter Harold Jackson in Schostakowitschs Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester (unter Herbert Menges, 1954) sowie Sidney Sutcliffe (Oboe), Gareth Morris (Flöte), Bernard Walton (Klarinette), Cecil James (Fagott), Harold Jackson (Trompete), Dennis Brain (Horn) und Alfred Flaszynski (Posaune) in der Suite zum Ballett Souvenirs von Samuel Barber (unter Efrem Kurtz, 1955).

Als eines der absoluten Highlights der Kollektion stellt sich die unscheinbare CD 20 mit dem Titel The Lighter Side heraus. Hier dominiert zum einen Musik von Johann Strauss Sohn, allerdings in interessanten Bearbeitungen von Korngold (Ouvertüre zu Eine Nacht in Venedig unter Otto Ackermann, 1954 – als einziges noch in Mono) und Antal Doráti (Graduation Ball unter Sir Charles Mackerras, 1961). Der gern etwas unterschätzte Ackermann ist auch verantwortlich für Im chambre séparée aus Der Opernball von Richard Heuberger sowie Sei nicht bös aus Der Obersteiger von Carl Zeller, jeweils mit niemandem Geringeren als der Schwarzkopf als Solistin (1957).

Walter Legge: „Words and Music“; hrsg. von Alan Sanders

Der bereits zu Lebzeiten im Schatten seines zehn Jahre älteren Bruders Josef Krips stehende Henry Krips verantwortet die grandiosen Wiedergaben der Ouvertüre zu Suppés Die Irrfahrt um’s Glück, den Walzer Pomone von Waldteufel (jeweils 1956) sowie die urigen Tänze aus Österreich von Max Schönherr (1958), darunter auch sogenannte deftige Bauermusi‘. Obwohl nicht als CD-Premieren angegeben, müssen diese Einspielungen Jahre lang kaum greifbar gewesen sein.

Mit einer auf der vorletzten CD untergebrachten „Bonus-Aufnahme“ wird dann der nach wie vor hohe Standard des Philharmonia Orchestra bewiesen, indem ein atmosphärischer BBC-Mitschnitt von Schönbergs Verklärter Nacht unter dem heutigen Chefdirigenten Esa-Pekka Salonen von 2018 hinzugefügt wurde.

Die letzte CD schließlich enthält persönliche Erinnerungen an die vier womöglich prägendsten Dirigenten für das Philharmonia Orchestra, Herbert von Karajan, Guido Cantelli, Otto Klemperer und Carlo Maria Giulini. Hierzu wurden Auszüge aus diversen, nicht unbedingt in der Box enthaltenen Aufnahmen berücksichtigt. Ein lesenswerter Aufsatz von Alan Sanders über die ersten beiden Jahrzehnte des Orchesters (allerdings nur auf Englisch) rundet diese empfehlenswerte Box ab. Daniel Hauser