Wenn im 17. und 18. Jahrhundert nach der Karnevalsaison während der Fastenzeit bis zur Karwoche und Ostern die Opernhäuser geschlossen wurden, begann die Zeit der Oratorien. Den Komponisten standen bei den Aufführungen oft die Spitzensänger der Oper zur Verfügung, die operngemäße musikalische Abfolge durch Einteilung in Rezitativ und Arie sowie die auch mit Handlungselementen angereicherte Mischung aus religiöser Betrachtung, Erzählung und Dramatik rückte das Oratorium in der Neuzeit in die Perspektive einer geistlichen Oper. Zwei Ersteinspielungen italienischer Oratorien bieten nun interessante und unterschiedliche Höreindrücke.
Giovanni Maria Casini (1652-1719) war ein florentinischer Priester, Cembalist, Organist und Komponist über dessen Leben nur wenig überliefert ist. Sein Oratorium Il Viaggio di Tobia (nicht nur die Musik, auch das Libretto stammt von Casini) wurde 1695 in Florenz uraufgeführt und erlebte auch später noch erfolgreiche Wiedergaben. Die Handlung stammt aus dem apokryphen Buch Tobias und wurde noch 80 Jahre später durch Joseph Haydn vertont. Casinis Werk besteht auf der Trackliste der vorliegenden Einspielung aus insgesamt 71 Musiknummern, kaum eine überschreitet vier Minuten Spielzeit, viele kaum zwei Minuten. Schnelle Wechsel zwischen Rezitativen und kurzen gesungenen Miniaturen und Arien, vier Duette, zwei Terzette und gelegentlicher Chor – der Priester Casini setzte auf Handlungsfluss, rasche Wechsel und unterschiedliche Affekte. Für heutige Ohren scheint sogar eine szenische Fassung dieses Werks möglich.
Der musikalische Ausdruck ist überwiegend durch eine schlichte Innigkeit geprägt und mit fünf sehr schönen Stimmen besetzt: den beiden Sopranistinnen Claudine Ansermet als junger Tobias und Laura Antonaz als Erzengel Raphael sowie Mezzospran Mya Fracassini (Hanna), Tenor Jeremy Ovenden (Raguel) und Bassist Sergio Foresti (Tobit). Der Coro della Radiotelevisione Svizzera sowie das Orchesterensemble I Barocchisti werden vom Barockexperten Diego Fasolis umsichtig und verlässlich geleitet. Nur schade, dass die vorliegende Aufnahme kein Libretto enthält, um dieser durchaus kurzweiligen Reise des Tobias besser folgen zu können. (2 CDs, Dynamic, 77051-2, Aufnahmejahr: 2004)
Knapp 30 Jahre nach Casinis Tobias wurde in der Fastenzeit 1724 das Oratorium Morte e sepoltura di Christo von Antonio Caldara (1671-1736) in Wien durch die dortige Hofkapelle aufgeführt. Der Habsburger Kaiser Karl VI. ließ dort durch seine Hofkapellmeister bis zu sechs neue Oratorien vor Ostern aufführen. Das Oratorio al Sepolcro gilt dabei als spezieller Typ des Wiener Hofs, der Ernstes wünschte. Morte e sepoltura (Tod und Grablegung) – fünf biblischen Charaktere beklagen in 15 Arien die Kreuzigung und bekräftigen ihre Liebe zu Jesus. Ein Oratorium ohne Handlung, Eintönigkeit kommt dabei dennoch nicht auf: Caldara verwendet spannende Klangfarben (bspw. obligates Fagott, Posaune oder Soloviolone) und unterschiedlich kombinierte Begleitinstrumente für abwechselnde Stimmungen, um das emotionale und affektreiche Libretto akustisch auch ohne optische Bühnenreize zu verdeutlichen. Ungewöhnlich erscheint die Entscheidung des Dirigenten und Violinisten Fabio Biondi, Caldaras Oratorium durch weitere Musik zu ergänzen: eine Sonata Vivaldis und ein Largo Johann Josephs Fux sowie zwei Motetten und eine orchestrale Sonata Caldaras strukturieren bei Biondi das Werk und sorgen für zusätzliche Abwechslung zwischen den Arienblöcken. Puristen können das ablehnen und überspringen, für den heutigen Zuhörer wirkt Biondis Entscheidung akustisch homogen und passend eingefügt. Das Sängerquintett hat nicht unbedingt die schönsten, aber ausdrucksstarke und sichere Stimmen: die beiden Soprane Maria Grazia Schiavo (Maria die Giacobbe), Silvia Frigato (Maria Amddalena), die Altistin Martina Belli (Giuseppe d’Arimatea), Tenor Anicio Zorzi Giustiniani (Nicodemo) und der Bassisten Ugo Guagliardo (Centurione) überzeugen in ihren Rollen. Das hörenswerte norwegische Stavanger Symphony Orchestra hat nun bereits die dritte CD mit Fabio Bondi auf den Markt gebracht und arbeitet seit 1990 regelmäßig mit namhaften Barockexperten wie Frans Brüggen oder Philippe Herreweghe zusammen. Eine Einspielung, die den Komponisten Caldara weiter in den Fokus eines breiteren Interesses von Barockfreunden rücken kann. (2 CDs, Glossa / Note 1 Musikvertrieb, GCD 923403, Aufnahmejahr: 2014). Marcus Budwitius