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Der Komponist Francois-Joseph Gossec: Der in Vergnies im Hennegau geborene Francois-Joseph Gossec (1734-1829) erlebte drei wesentliche Epochen der Musikgeschichte, in denen jeweils Rameau, Mozart und Berlioz wirkten. Er kam zur Zeit der großen Tragédies lyriques Rameaus zur Welt, arbeitete beim Ballett der Petits Riens von Mozart mit und starb, als Berlioz seine berühmte Symphonie fantastique vollendete. Seine Karriere – eine der „institutionellsten“ seiner Zeit – verlief in einer geschickt angelegten schrittweisen Steigerung. Im Jahre 1751 trat er als Geiger ins Orchester des Mäzens Le Riche de La Poupliniere ein, einer äußerst renommierten privaten Künstlergruppe. Danach stand er im Dienst des Fürsten de Conti, worauf er ab 1773 das Concert Spirituel leitete und dort eines der modernsten Programme des 18. Jhd. gestaltete. 1784 gründete er die Ecole royale de Chant (Königliche Gesangsschule), arbeitete (seit der Mitte der 1770er Jahre) oft mit der Academie royale de musique zusammen, übernahm 1795 einen Vorstandssitz am Konservatorium und am Institut und wurde 1803 Ritter der Ehrenlegion. Er hinterließ ein kolossales Werk: dutzende Symphonien und konzertante Symphonien, Duos, Trios und Streichquartette, Quartette mit Flöte, Bläsersextette, Messen und Motetten, zwei große Tragédies lyriques, mehrere komische Opern, „demi-caractere„-Werke sowie eine Fülle an Ballettmusik. Eines seiner bereits zu seinen Lebzeiten berühmtesten Werke ist seine Missa pro defunctis (1760) mit ihren visionären, ja sogar wirklich romantischen Ambitionen.
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Gossecs Opernschaffen: „Vater der Symphonie“ „Vorsänger der Revolution“: Diese beiden Bezeichnungen haben genügt, um Gossec ab dem Beginn des 19. Jh. zu beschreiben. Sie verliehen ihm einen Ruf, aus dem ihm die Musikwissenschaftler der folgenden Jahrhunderte geradezu einen Sarg anfertigten. Dabei interessierte sich der Musiker für die Oper, wo er sich sowohl in der modernen Gattung der Opéra comique als auch in der althergebrachten der Tragédie en musique auszeichnete. Da Gossec mit den größten Institutionen seiner Zeit zusammenarbeitete, ließ er mit wechselndem Erfolg mehr als zwanzig Werke aufführen, bei denen man in vielen Fällen feststellen kann, welch dramaturgisches Talent der Komponist war. Dieses Corpus zeugt von einer großen Inspirationsvielfalt, auf deren Verschiedenartigkeit allein schon die Titel hinweisen: die Opéras comiques (Le Perigourdin, Le Tonnelier, Le Faux Lord, Les Pecheurs, Toinon & Toinette, Le Double Deguisement), die Einakter (Alexis & Daphne, Philemon & Baucis, La Fête de Village), die Opern «de demi-caractère» (Berthe und Rosine ou l’Epouse abandonnée), die Ballette in Zusammenarbeit mit Gardel und Noverre (Les Scythes enchaines, ein in Iphigénie en Tauride von Gluck hinzugefügtes Ballett, Les Petits Riens, Mirza), die Zwischenspiele für Athanlie von Racine und in der entsprechenden Zeit die Revolutionsopern (L’Offrande à la Libertée, Le Triomphe de la Republique). Doch die beiden Tragédies lyriques, Sabinus (1773) und Thésée (1782), sind unbestreitbar seine Meisterwerke auf dem Gebiet der Oper.
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Die Pariser Oper in der Zeit der Musikrevolutionen: Im Jahre 1778 bekommt die Academie royale de musique einen neuen Direktor: Anne-Pierre-Jacques Devismes du Valgay (1745-1819), einen dynamischen, kühnen Unternehmer, der die schwerfällige Institution übernimmt. Ganz Paris geriet infolge der Nominierung eines so atypischen Profils in helle Aufregung. Devismes setzte sofort drakonische Reformen durch. Vom künstlerischen Standpunkt aus lag seine Hauptbeschäftigung darin, auf seinem Theater die entlegensten Gegenstände zu vereinen, die man sich vorstellen kann. Schon in seinen ersten Reden gab er vor, alle Gattungen zu fördern und bei seinen Entscheidungen absolut nicht voreingenommen zu sein. Diese – unumstrittene – Vielfalt erlaubte Devismes, alle Zuschauer für sich zu gewinnen: Er hatte „ein Mittel gefunden, sie zu seinen Gunsten zu versammeln, indem er jedem davon abwechselnd Aufführungen nach dessen Geschmack bot.. Eines der Zugpferde von Devismes‘ Politik war das Ausgraben alter Werke, die mit den allermodernsten Produktionen konfrontiert waren. (…) Wenn die Wiederaufnahme alter Werke dazu diente, einen bestimmten Teil des Publikums zufriedenzustellen, so standen die Uraufführungen von Opern und choreographischen Werken dem in nichts nach. Während in der Spielzeit 1777-1778 nur drei neue Werke herausgebracht wurden, gab es in Devismes‘ erster Saison, wenn man kleine lyrische Gattungen, mehrere Ballettpantomimen und viele italienische Opere buffe mit einrechnet, gleich an die fünfzehn. In den darauffolgenden Spielzeiten plante Devismes eine für das Publikum seiner Zeit sehr interessante Gegenüberstellung der beiden Iphigénie en Tauride von Gluck und von Piccinni. Mehrere Aufträge ergingen an berühmte Komponisten in ganz Europa, wie Johann-Christian Bach, Philidor oder Piccinni, und sollten für einige Zeit das Repertoire der Institution erneuern. Doch Devismes Direktion dauerte nicht lang genug, um ihn an der Uraufführung dieser Opern teilhaben zu lassen. Seine künstlerische Politik der „offenen Börse“ sowie seine zahlreichen Streitigkeiten mit dem Personal der Oper kosteten ihm Ende 1779 seinen Posten.
Thésée – eine schwierige Uraufführung: In der Spielzeit 1778-1779, kurz bevor Devismes von seiner Kündigung erfuhr, brachte er Lullys Thésée, in einer kaum bearbeiteten Fassung heraus. Sicher hatte er die Absicht, parallel dazu eine „moderne“ Version desselben Textbuches aufzuführen: Mit diesem Ziel hatte er Gossec mit einem Thésée beauftragt, den der Komponist rasch beendete, da er seit dem Misserfolg seines Sabinus 1774 in Paris von der Opernbühne ferngehalten worden war. Im Sommer 1778 kündigte der Mercure de France – als er einige in einem Konzert aufgeführte Werke Gossecs würdigte – ohne genauere Angaben an: „Von demselben Autor wird eine Oper Thésée geprobt werden“ was beweist, dass die Komposition bereits vollkommen fertig war. Das Werk wurde zwar geprobt, doch hatte es nicht die Ehre, aufgeführt zu werden. Gossec beklagte sich darüber öffentlich und hielt Gluck dafür verantwortlich. (…) Gossec musste vier lange Jahre und zwei Führungswechsel abwarten, bevor das Publikum endlich Thésée zu sehen bekam. Kurz nach der Eröffnung des neuen Hauses, das (nachdem der Saal des Palais Royal 1781 abgebrannt war) an der Porte Saint-Martin stand, wurde Thésée auf den Spielplan gesetzt. Ist diese Tatsache als ein Zeichen der Dankbarkeit und der Achtung – ja der Freundschaft – des neuen Direktors Antoine Dauvergne zu interpretieren, dessen Stellvertreter Gossec unterdessen geworden war? Die Uraufführung, auf die eine ansehnliche Reihe von Aufführungen folgte, war ein schöner Erfolg. (…)
Diese zweite Tragédie lyrique Gossecs ist vom Libretto inspiriert, das Quinault fast ein Jahrhundert davor für Lully geschrieben hatte. Der Text wurde teilweise von Morel de Chedeville (1747-1814) umgearbeitet, wie es damals üblich war. Seit einigen Jahren passte man die alten Textbücher von Quinault, Houdart de la Motte, Fontenelle oder Pellegrin dem Geschmack der Zeit an und setzte sie erneut in Musik. Abgesehen vom Erfolg von Roland (1778) und Atys (1781) von Piccinni oder Armide (1777) von Gluck, wurden viele Werke vom Publikum streng beurteilt: Das war der Fall beim Thésée (1765) von Mondonville – dem ersten Beispiel auf diesem Gebiet -, von Omphale (1769) von Cardonne, von Amadis (1776) von Johann Christian Bach oder von Persée (1781) von Philidor. Das Werk Gossecs folgt somit einer bereits langen Reihe von Opern, bei denen der – unsichere – Erfolg das Ergebnis subtiler Kompromisse zwischen Tradition und Moderne war. Das neue Libretto war bedeutend kürzer als das Original: Die geraffte Handlung lief in vier Akten ab und der Prolog war ebenso verschwunden wie die Nebenhandlung des komischen Liebespaars Cleone und Areas. Die Knappheit des Textes erlaubte dem Komponisten, dem Orchester längere Passagen anzuvertrauen, dem Geschmack des breiten Publikums, soviel er wollte, entgegenzukommen, aber auch – ja sogar vor allem! – die psychologische Entwicklung jeder Figur nach seinem Wunsch zu vertiefen.
Als deutlicher Hinweis auf den Schöpfer der französischen Oper behielt Gossec die Arie des Königs „Faites grâce á mon âge, en faveur de ma gloire…“ (1. Akt) so bei, wie Lully sie geschrieben hatte, wobei er sich darauf beschränkte, die Begleitung zu verstärken, indem er eine Oboe, Hörner und Fagotte hinzufügte. Dieses Stück, das vom Sänger Larrivee außergewöhnlich gut interpretiert wurde, erhielt wie vorgesehen die gesamte Gunst des Publikums. Ansonsten bietet Gossecs Musik überall Aspekte einer Moderne, zu der sich Gossec bekannte: Von den ersten Takten an setzt es sich eine pompöse „Programm“-Ouvertüre zum Ziel, abwechselnd die Attacken der Krieger, die Klagen der Verwundeten und die Dankgesänge der Priesterinnen zu schildern. Das maßlose Divertimento, mit dem der erste Akt endet – eine Militärparade -, greift seinerseits die Idee einer ähnlichen Szene von Mirza auf, einem Werk, das etwas früher auf der gleichen Bühne Triumphe feierte. Wenn viele Stellen des Thésée an jene von Sabinus erinnern, so sind sie doch weit hochtrabender. Die allgemeine Atmosphäre ist stark von Heroik und Mystik gefärbt, mit Kampfszenen, öffentlichem Triumph und gemeinsamer Anrufung der Schutzgötter. Selbst der kritische Baron Grimm musste zugeben, dass „die Vorstellung dieser Oper […] sehr erhaben und sehr interessant“ war.
Von dieser beklemmenden Auflage heben sich die Helden durch ihre Menschlichkeit, ihre Zweifel und ihre offen daliegenden Gefühle ab. Jeder verdankt übrigens der Musik Gossecs seiner jeweiligen Rolle entsprechend echte psychologische Tiefe und dramatisches Gewicht. Bei der Behandlung der Figur der Medea war unbestreitbar große Kunst am Werk. Mehrere Szenen untersuchen die Mäander ihrer gequälten Seele, besonders die mit ihrer Vertrauten Dorine zu Beginn des zweiten und vierten Aktes. Die Rezitative sind subtil und präzise notiert, wie es in keiner anderen zeitgenössischen Komposition zu finden ist. Dadurch wird dem Interpreten geholfen, an seine Rolle heranzugehen. Die Kehrtwendungen der Medea, ihre Zweifel, ihre Finten, ihre Anwandlungen werden durch das Orchester mit einer faszinierenden Kunst der Rhetorik eingeführt, hervorgehoben oder fortgesetzt. (…) Als Gegensatz zu ihr und aus Gründen der Symmetrie ist die Figur des Theseus ganz Zurückhaltung und Noblesse. Er ist vor allem ein zärtlicher, aufrichtiger Liebender. In dieser Hinsicht erinnert er an Amadis der gleichnamigen Oper von Johann Christian Bach oder an Pylades in Iphigénie en Tauride von Gluck. Sein Erwachen im 3. Akt und seine Freude, die Liebste wiederzufinden, gehören zu den schönsten Augenblicken der Rolle. (…)
Hier soll auch hervorgehoben werden, mit welchem Geschick Gossec rund um die vier Hauptrollen die Kämpfe, mit denen der erste Akt beginnt, in Musik setzt (und zwar gleich mit der Ouvertüre, die – sollte sie wirklich aus dem Jahr 1777 stammen – die erste situationsbezogene Ouvertüre vor dem Sturm von Glucks Iphigénie en Tauride wäre). Gossec setzt die Trompetenfanfaren und die im Hintergrund aufgestellten Chöre der Welt der Priester und Priesterinnen der Minerva auf der Vorderbühne entgegen, denen er durch den Einsatz seltener Akkorde, kunstvoller Dissonanzen, geteilter Chöre und einer gedämpften Instrumentierung (wobei er vor allem die Flöten in Dreiergruppen teilt, wie es Grétry zur gleichen Zeit in seiner Andromaque tut) eine archaische, modale Klangfarbe verleiht. Im folgenden Akt wird die Einfachheit des Athener Volks durch Marschrhythmen, rustikale Hörner oder ländliche Piccolos hervorgehoben und gipfelt in einem komischen Trio alter Männer – die aus dem Libretto Quinaults übernommen wurden -, deren hohes Alter von Gossec durch den Einsatz eines archaischen Chaconnebasses und einer rudimentären dreiteiligen Kompositionsweise geschildert wird. Im dritten Akt erscheint die Unterwelt auf der Bühne und wird unheimlich von Hörnern und Posaunen begleitet. Der vierte Akt endet pompös mit dem Erscheinen Minervas in all ihrem Glanz, der einzigen Gottheit, die den ehemaligen Hang zum Fantastischen fortsetzt, sowie mit dem Chor um Marie-Antoinette zu huldigen, da sie kurze Zeit davor, einen Dauphin geboren hatte. Dieses Charakterisieren der Situationen, Gefühle und Figuren wurde von einigen Kommentatoren des 18. Jhd. wahrgenommen, die daher das Genie des Komponisten lobten: „Indem Herr Gossec diese Schwierigkeit meisterte, bewies er, dass seine Intelligenz der tiefen Kenntnis seiner Kunst gleichkommt.“ Und sie schlossen: „Im allgemeinen fand das Publikum, dass der Komponist der Form des konvenablen Ausdrucke vollkommen gerecht wurde.“ (Mercure de France, 1782).
Trotz aller hier aufgezählten Vorzüge, trotz einer erstklassigen Besetzung, trotz einer imposanten Maschinerie, wurde Thésée nur fünfzehnmal aufgeführt und ließ wie Sabinus die Pariser gewissermaßen gleichgültig. Alles lässt darauf schließen, dass die Oper Thésée, wäre sie in den Monaten nach ihrer Vollendung uraufgeführt worden, den erhofften Effekt beim erhitzten Publikum der Academie royale erzielt hätte: Das Werk bot nämlich tatsächlich eine sehr originelle Alternative zur Frage nach dem „musikalischen Stil“ über die alle debattierten. Da Thésée gleichzeitig der „reformierten“ Dramaturgie Glucks, den in Paris durch Piccinni heimisch gewordenen italienischen Strukturen sowie der großen Deklamation der französischen Art, die noch von Dauvergne oder Floquet angewandt wurde, zugeordnet werden kann, berief sich das Werk schließlich auf keine genaue Abstammung, sondern weit mehr auf die Prägung einer eklektischen Persönlichkeit, die ihrer Zeit zuhörte. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um eines der originellsten und gelungensten Werke unter all denen, die in Paris zwischen Glucks Iphigénie en Aulide und Spontinis La Vestale komponiert wurden. Bénoit Dratwicki/Übersetzung Silvia Berutti-Ronelt
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François-Joseph Gossec – Thésée mit Les Agrémens, Choeur de Chambre de Namur / Guy Van Waas; Frédéric Antoun: tenor (Thésée), Virginie Pochon: soprano (Églé), Jennifer Borghi: mezzo-soprano (Médée), Tassis Christoyannis: baritone (le Roi Égée), Katia Velletaz: soprano (la Grande Prêtresse / Minerve), Caroline Weynants: soprano (Dorine / 1e Prêtresse), Aurélie Franck: soprano (2e Prêtresse), Bénédicte Fadeux: mezzo-soprano (3e Prêtresse), Mélodie Ruvio: mezzo-soprano (Cléone / une Vieille), Philippe Favette: bass (Arcas / 2e Vieillard) , Thibaut Lenaerts: tenor (1er Vieillard / 2e Suivant du roi), Renaud Tripathi: tenor (un Coryphée / 1er Suivant du roi); 2 CD Ricercar RIC337
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(Den vorstehenden Artikel entnahmen wir – mit starken Kürzungen – der gerade erschienen CD-Ausgabe des Werke bei Ricercar/337 unter Guy van Waas, die mit Beteiligung des Palazetto Bru Zane im Rahmen ihres Projektes der Förderung der Französischen Romantischen Oper möglich war. Redaktion G. H.)
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.