Mit und ohne Orchester

 

Das Label Tactus hat zwei Zeitgenossen zusammengebracht, die nicht gerade durch Liedkompositionen bekannt geworden sind, Vincenzo Bellini (1801-1835) und Frédéric Chopin (1810-1849). Es erklingen insgesamt sieben Lieder von Bellini sowie je vier Lieder und Klavierkompositionen von Chopin, die Sillvia Martinelli und der Pianist Andrea Trovato interpretieren. Klarstimmig versieht die Sopranistin die Lieder von Bellini mit angemessener Schlichtheit, dabei die kleine Ariette Mi rendi pur contento und die leidenschaftliche, im Pianissimo ausklingende Klage Per pietà, bell‘ idol mio. Ganz konsequent ist man dann auch nicht, indem die Arie der Nelly Dopo l’oscuro nembo aus Adelson e Salvini und die stimmakrobatische Polonaise aus I Puritani dabei sind, die die italienische Sängerin mit schönem Legato versieht. Die Lieder von Chopin sind erst posthum als Opus 74 erschienen; sie haben meist volksliedhaft-kantablen Charakter, der von den Künstlern gut getroffen wird. Dezent unterstützt der Pianist die Sängerin bei den Liedern und zeigt bei den auf der CD breiten Raum einnehmenden Klavierstücken von Chopin die nötige Virtuosität, dabei das liedhafte Nocturne F-Dur op.15 Nr.1, das Scherzo b-Moll op.31 und in Verbindung zu Bellini das Largo aus den 6 Grandes Variations de Bravure sur la Marche des Puritans de Bellini (TACTUS  TC 800004).

 

Die 1959 uraufgeführte Tragédie lyrique La voix humaine  von Francis Poulenc vermag auf der Bühne zu fesseln, wenn die Interpretin der verlassenen, tief enttäuschten Frau über genügende Ausdruckskraft verfügt. Problematisch ist das ergreifende Stück, wenn es „nur“ auf CD zu hören ist und vor allem auch die Orchesterfarben fehlen. Dennoch kann man die bei BRILLIANT CLASSICS erschienene CD durchaus empfehlen. Denn die Sopranistin Daniela Mazzucato erzielt mit bester Diktion und ungemein differenzierter Stimmführung durch alle Lagen von den ruhigen Phasen über die dramatischen Ausbrüche bis zum tragischen Ende eine starke Wirkung. Am Klavier ist Marco Scolostro ein sicherer Partner, der auch eigene Akzente setzt. Der Einakter ist verbunden mit dem Melodrama L’Histoire de Babar, das nach Poulencs Erinnerungen im Sommer 1940 während eines Familienurlaubs entstand, als die von seinem Klavierspiel gelangweilten Kinder ihm die Geschichte von Babar, dem kleinen Elefanten, vorlegten, die er „spielen“ sollte. So improvisierte er zu den einzelnen Szenen eine Folge pianistischer Bilder, wie u.a. die von Babars Mutter gesungene Berceuse, einen Valse, den mit pompösen Akkorden versehenen Hochzeitsmarsch, die am Hochzeitsabend getanzte Polka und ein träumerisches Nocturne. Um die von Max René Cosotti prägnant gesprochenen Texte herum bringt Marco Scolostro die unterschiedlichen, eingängigen Improvisationen souverän zum Erklingen (BRILLIANT CLASSICS 960302).

 

Das Berliner Noga Quartet hat beim Label AvI zwei Streichquartette von Reynaldo Hahn und Claude Debussy sowie gemeinsam mit Siobhan Stagg Debussys Ariettes Oubliées in einem Arrangement für Sopran und Streichquartett des Cellisten des Quartetts Joan Bachs eingespielt. Die Lieder sind Vertonungen von Gedichten Paul Verlaines, der Naturstimmungen beschrieben hat, von denen die meisten von wehmütigem Charakter ohne leidenschaftliche Ausbrüche sind. Die australische Sopranistin, derzeit im Ensemble der Berliner Deutschen Oper, trifft mit durchweg sauberer Stimmführung und angenehmer Klarheit die jeweiligen Stimmungen mit typisch impressionistischem Flair, zu dem auch der flirrende Streicherklang auf Feinste beiträgt. Das in Melancholie ausklingende, anfangs groteske Jahrmarktslied Chevaux de bois erfährt ebenfalls gemeinsam mit den dezent mitgestaltenden Streichern eine überzeugende Interpretation. Das einzige Streichquartett Debussys, mit dem der Komponist 1893 seinen eigenen Stil gefunden hat, wird vom Noga Quartet mit perfektem Zusammenspiel und vielschichtiger Ausdruckskraft ausgedeutet, so dass ein luxuriöser, kunstvoll gemusterter Teppich von wundersamer Farbigkeit (Paul Dukas) entsteht. Dass die drei französischen und der israelische Musiker einen spürbar guten Zugang zu diesem Quartett haben, mag auch daran liegen, dass es das erste Stück ist, dass sie sich nach ihrer Gründung 2009 erarbeitet haben, wie sich aus dem klugen, selbst verfassten Beiheft ergibt. Über vierzig Jahre nach Debussys Quartett entstanden die beiden Streichquartette von Reynaldo Hahn, die äußerst selten zu hören sind. In seinem spätromantischen Duktus mit durchaus modernem Zugriff ist das Kennenlernen des 2. Quartetts in F-Dur sehr lohnend, wie überhaupt die CD mit ihrer gelungenen Werk-Zusammenführung Kammermusikfreunden sehr zu empfehlen ist (AvI LC 15080).

 

In den einschlägigen Nachschlagewerken wird Jean Cras (1879-1932) als französischer Komponist und Konteradmiral bezeichnet. Er hatte es geschafft, seine Leidenschaft für das Meer und die Musik ein Leben lang miteinander zu vereinen. Die steile Karriere als Marineoffizier hinderte ihn nicht daran, die Oper Polyphème, Bühnenmusiken, Konzerte sowie eine beträchtliche Zahl von Kammermusikwerken und Stücken für Singstimme zu komponieren. Dabei war er darauf bedacht, freie Melodien mit einer gewissen Strenge zu verbinden und Klänge aus der bretonischen Heimat, aber auch aus fernen Ländern einfließen zu lassen. Das Stück La Flute de Pan ist für die ungewöhnliche Besetzung mit siebentöniger Panflöte, Singstimme und drei Streicher komponiert. Die belgische Sopranistin Sophie Karthäuser, der Panflötist Matthijs Koene und Mitglieder des belgischen Kammermusikensembles Oxalys interpretieren das interessante Werk mit allerlei orientalischen Anklängen. Außerdem enthält die CD ein Klavierquintett und ein Quintett mit der aparten Besetzung für Harfe, Flöte, Violine, Viola und Cello. Beide Werke erfahren in dem ausgezeichneten Ensemble Oxalys gemeinsam mit dem Pianisten Jean-Claude Vanden Eynden eine jeweils ansprechende Wiedergabe – noch eine CD, die es ermöglicht, weithin sehr selten zu hörende Werke eines zumindest hierzulande kaum bekannten Komponisten kennenzulernen (passacaille PAS 1067). Gerhard Eckels

 

Und noch einmal Jacques Offenbach – und wie! Der deutsche Komponist versuchte bekanntlich, Anfang der 1840er-Jahre in Paris Fuß zu fassen und befasste sich sogleich mit den berühmten Fabeln von Jean de la Fontaine. Diese in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstandenen allegorischen Texte mit sprechenden Tieren spielten auf den Hof und die Sitten der Zeit an. Offenbachs Vertonung von sechs Fabeln für Mezzosopran und Klavier machten 1842 in den Pariser Salons schnell die Runde; auch die Konzertpodien erreichten sie. Stilistisch weisen die Vertonungen auf die Arien aus Offenbachs späteren Operetten hin. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass der belgische Dirigent und Komponist Jean-Pierre Haeck die Fabeln mit orchestralen Farben versehen hat und damit Offenbachs Stil aufs Beste trifft. Die Fabeln hat ALPHA als Welt-Ersteinspielung mit Karine Deshayes und dem Orchestre de l’Opéra de Rouen Normandie unter Haecks Leitung herausgebracht. Das unterhaltsame Programm der CD  wird durch die Ouvertüren und je einem  Couplet aus Boule de Neige und Les Bavards sowie weiteren Ouvertüren (Les deux Aveugles, Madame Favart, Monsieur Choufleur) und der Schüler Polka angereichert. Die französische Mezzosopranistin mit dem wunderbar vollen Timbre beweist ihre Vielseitigkeit mit den textgenauen Interpretationen der Fabeln, wobei erneut die jeweils sichere, ausgeglichene Stimmführung durch alle Lagen bis hinauf in Sopran-Höhen imponiert. Jean-Pierre Haeck sorgt mit dem souverän geführten Orchester dafür, dass Drive und Witz der Musik spritzig serviert werden (ALPHA 563).

 

Jetzt ein abrupter Stilwechsel: Das Label NoMadMusic hat Orchester-Lieder von Gustav Mahler herausgebracht, die Markus Werba und das Orchestre nationale d‘Île-de-France unter Enrique Mazzola interpretieren. Der italienische Dirigent, eigentlich Spezialist für Belkanto-Opern und das französische Repertoire, war von  2012 bis 2019 Chefdirigent des Pariser Orchesters, das einen süffigen Streicherklang entwickelt und in den vielen Instrumentalsoli guten Eindruck macht. Die Lieder eines fahrenden Gesellen erleben eine kontrastreiche Wiedergabe, indem der österreichische Bariton mit seiner in allen Lagen abgerundeten Stimme die starken Emotionen mit zarten Piani auskostet und im Gegensatz dazu die zum Teil hochdramatischen Passagen mit Leidenschaft erfüllt. Das gilt im gleichen Maße für die sechs Lieder aus Des Knaben Wunderhorn; die sehr unterschiedlichen Stimmungen vom volkstümlichen Rheinlegendchen über die witzigen Des Antonius von Padua Fischpredigt und Lob des hohen Verstands sowie das tiefgründige Urlicht (mit dem erforderlichen langen Atem), bis zu den todtraurigen und schaurigen Kriegsliedern Revelge und Tambourg’sell gibt er jeweils stark differenzierend und treffend wieder. Die CD enthält außerdem Vier Orchesterstücke von Anton Bruckner, früh entstandene kurze Werke, bei denen der Einfluss von Mendelssohn, Schubert oder Schumann überdeutlich ist. Bruckner hat diese Stücke verworfen, wohl weil sie eher untypisch für seine spätere tiefgehende Orchester-Behandlung sind; deshalb wollen sie auch nicht so recht zu den Mahler-Liedern passen (NoMadMusic NMM061). Gerhard Eckels