Erotische Verwirrungen

 

Der Hutmacher Prosper Aubertin, der mit dem Alltag seines bürgerlichen Lebens unzufrieden ist, träumt von außerehelichen Affären. Er ärgert sich jedoch, Angebote seiner Frau, Tochter und seines Dienstmädchens in den Antworten auf eine anonyme persönliche Anzeige zu finden, die er in den Kummerkasten gestellt hat. Um herauszufinden, was diese Frauen wirklich wollen, lädt er sie alle in eine Villa in Südfrankreich ein. „Dies ist eine bürgerliche Tragödie. Diese Tragödie hätte Sich selbst kennen heißen können und sehr übel enden können. Als ich sie in Alexandrinern schrieb und bevor ich sie der Comédie-Française anbot, dachte ich gut zehn Minuten lang sorgfältig nach … dann habe ich sie zu einer Komödie gemacht“, scherzte Sacha Guitry.

Diese musikalische Komödie, O mon bel Incconue,  ist nach Mozart (1925) die zweite Opern-Zusammenarbeit zwischen dem berühmten Autor und Bon-Vivant Guitry und dem Komponisten Reynaldo Hahn. Zu dieser Zeit genoss der Hahn wohlverdienten Ruhm im Genre des leichten Musiktheaters: Nach Ciboulette (1923) hatte er Erfolg nach Erfolg in den kleineren Theatern von Paris (Le Temps d’aimer, Une Revue, Brummel), und Ô mon bel inconnu , das nun in einer Aufnahme aus Avignon 2019 beim Palazzetto Bru Zane in gewohnten Buch-CD-Format vorliegt, enttäuschte nicht. Le Figaro hob die für Hahn in der Zwischenkriegszeit so charakteristische „Eleganz des Tons und der Unterscheidung der Form“ hervor und betrachtete ihn als den rechtmäßigen Erben von André Messager. Le Ménestrel war ebenso begeistert: „Die Musik von Monsieur Reynaldo Hahn passt zu dem Thema mit einer Vielseitigkeit und Berührungssicherheit, die so etwas wie ein Wunder darstellt. Sie zeigt unvergleichliche Verfeinerung und Taktgefühl und gleichzeitig einen Witz, der Emotionen nicht ausschließt. Sie wird durch eine flotte, ausdrucksstarke und transparente Orchestrierung ergänzt.“ Was will man mehr?

„O mon bel Inconnue“: die bezaubernde Arletty war der Star der Uraufführung/Foto Shazam

Eine perfekte Besetzung gab es für die erste Aufführung: unter der Leitung von Jean Aquistapace und glanzvoll ergänzt durch die bezaubernde Arletty in der Rolle der Félicie (die der Filmfan so betörend aus dem Streifen Les enfants du Paradis mit der Schilderung der Bouffes-Parisiens in Erinnerung hat). Eine solide Komödie der 30iger Jahre also … Hahn liebt suggestive Leichtigkeit; die Kunst der genussvollen Finesse, die sich auf verschiedene Weise zeigt; so kultiviert die Partitur von Oh, mein schöner Unbekannter diese Farbe der komischen Oper, eine leichte Komödie, fast eine Operette. Nach Mozart findet sich das Duo Hahn / Guitry bei einem Thema einer nicht so harmonischen Sippe wieder.

Die Familie Aubertin, Vater, Mutter und Tochter, eine typische Familie von kleinbürgerlichen Kaufleute (Prosper ist Hutmacher) erliegt der Verlockung von Phantasien, die aus brieflicher Korrespondenz entstehen, die geeignet sind, das häusliche und familiäre Einerlei inb Chaos umzuwenden. Statt der gewohntenb Langeweile dieser scheinbar ehrbaren Gemeinschaft, wird diese nun Opfer einer emotionalen Verwirrung und damit das Opfer von Pariser Frivolitäten. Das Verlangen und die zum Teil riskanbten Phantasien bedrohen ernsthaft das Gleichgewicht der Familie; die Erregung, die unhöflichen Worte lassen die sozialen guten Sitten implodieren (dornig, bitter, ganz im Geist von Guitry, der hier seiner neuen Zusammenarbeit mit Hahn seinen Stempel aufdrückt: „Aber Sie haben mich in den Hintern gekniffen“, schreit Antoinette zu Jean-Paul: Man könnte sich heute über eine solche emblematische Naivität der Zwischenkriegszeit wundern, aber die Zeiten waren andere, engere, reglementierte.

Was Hahn hier vor der Banalität rettet, ist die Tiefe und die Finesse unter der Maske einer scheinbaren Gleichgültigkeit (etwa die Rolle von Claude, des falschen Freiers: ausgezeichnet auf der neuen Aufnahme Yoann Dubruque, ausgesprochen natürlich, die Textdeklamation wie eine zweite Natur). Hahn rivalisiert so zwischen Ehrlichkeit und Drama mit seinem großen Vorbild, dem Mozart der Nozze di  Figaro. Bemerkenswert auch der unbestreitbar köstliche Witz von Éléonore Pancrazi in der Rolle der Haushälterin Félicie in der Einspielung aus Avignon. Hier sind zwei dramatische Talente vorhanden, in untadeligem Französisch, mit subtilem und wechselhaftem Ausdruck, die sich deutlich vom Rest der Besetzung unterscheiden. Auch von der inzwischen doch etwas ältlichen Véronique Gens als spöde Antoinette.

Der Dirigent Samuel Jean befördert dieses frivole und lustige Ambiente, vor allem in der Ouvertüre, in jedem Zwischenspiel und jeder Pause, wo nur die Orchesterinstrumente diese delikate Zweideutigkeit gestalten (zu bemerken ist als augenzwinkernde Anspielung auf den französischen Romantizismus das Saxophon, eindeutig ausgeliehen aus dem Orchester von Thomas´ Hamlet). Das Ganze ist gepflegt, lebhaft, stützt sich auf gut gezeichnete Charaktere; wodurch man über das Duo Guitry /Hahn so viel erfahren kann, wie sie Oktober 1933 die Pariser Musiklandschaft der Bouffes-Parisiens auf die Bühne brachten (VÖ 2. Februar 2021; Reynaldo Hahn: O mon bel Inconnue mit Véronique Gens, Olivia Doray, Èleonore Pancrazi, Thomas Dolié, Yoann Dubruque, Carl Ghazarossian, Jean Christophe Laniége; Ortchestra National Avignon-Alpes; Dirigent Samuel Jean; 1 CD Palazzetto Bru Zahn im gewohnten Buchformat in der Reihe Opéra francais mit zweisprachigen Aufsätzen und dto. Libretto). Clothilde Dumas/ Palazzetto Bru Zane (Übersetzungen Ingrid Englitsch/ Daniel Hauser)