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Die französische Sopranistin Véronique Gens ist so etwas wie die Hausprimadonna des Palazetto Bru Zane geworden, über dessen Aktivitäten – zuletzt das 5. Festival der französischen romantischen Musik in Paris im Juni 2017 (dazu auch die Artikel zu Halévys Reine de Chypre und die Kritik zur Aufführung von Saint-Saens´ Timbre d´argent an der Opéra-Comique – wir in operalounge.de mehr als ausreichend berichtet haben, den obsessiven Neigungen des Herausgebers zur französischen Oper folgend…). La Gens hat nicht nur in zahlreichen Konzerten und Einspielungen des Palazetto in jüngerer Zeit mitgewirkt, sondern auch unabhängig davon zahlreiche CDs mit einem weitgefächerten Programm von französischen Mélodies bis zu Opernarien herausgebracht. Die neuste nun kommt von Alpha und steht wiederum in Verbindung mit dem Palazetto Bru Zane, dessen künstlerischer Direktor Alexandre Dratwicki auch den Text zur vorliegenden CD geschrieben hat, den wir nachstehend in seiner deutschen Übersetzung bringen. Véronique Gens singt hier Frauenarien aus zwölf verschiedenen Opern der französischen Romantik. Und dem Hörer wirbelt der Kopf ob der teils extrem unbekannten Titel wie Févriers Gismonda oder Godards Les Guelfes – mythische Titel fürwahr, die nur der ausgewiesene Musikwissenschaftler kennt. Nach Frau Gens´ Ausflügen in die französische Klassik vor und nach Napoléon ist dies eine Schatzkiste mit Perlen und Juwelen. Die Sängerin ist – wie man gerade in Paris im Konzert der Reine de Chypre hören konnte – bei bester Stimme, mit exemplarischer Diktion und mit eben jener Identität, das die französische Oper ausmacht: Sprache singen! G. H.
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Und nun der Aufsatz von Alexandre Dratwicki zur neuen CD von Véronique Gens mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Hervé Niquet bei Alpha: Visions: „Paradies, ich sehe dich, Oh Strom des Lichts, Der Harmonie und der Liebe.“ (aus Massenets Oratorium La Vierge, „Extase“) Das Jahrhundert der Romantik verzichtet zwar auf die barocke Vorliebe für das „Wunderbare“, doch nicht auf die Inspiration durch das Fantastische. Geister und Erscheinungen sind oft auf der Opernbühne zu sehen, und das Übernatürliche findet häufig seinen originellsten Ausdruck in der „Vision“, die Mystizismus mit Fantastischem kombiniert. Hinter diesem Begriff verbergen sich sehr vielfältige, ja gegensätzliche Gemütszustände, die ebenso mit der Metaphysik wie mit der Psychologie in Zusammenhang stehen. Und da die Romantik die vielen Facetten ihrer Helden gern im Detail darstellt, den Charakteren auf den Grund geht und die Seele in die Enge treibt, ist es nicht erstaunlich, dass die Visionen – in der Oper – immer häufiger sind, bis sie zu einem ständig neu interpretierten Gemeinplatz werden. Die Figur ist nicht mehr sie selbst, sie ist mehr als sie selbst und geht so weit, danach zu streben, ihr Leben zu opfern.
Der spektakulärste Ausdruck dieses Zustands ist wahrscheinlich die Exaltation, die zur Ekstase oder zur Glückseligkeit führt, wobei beide das Ergebnis der Andacht sind. So bewirkt das Gebet der Clotilde (Bizet), dieser „himmlische Balsam und Trost“ das Heil des Clovis, indem es „die arme Menschheit zu Gott zurückführt“. Einige Heldinnen Halévys oder Massenets verzichten sogar auf die Welt, indem sie sich in einem Kloster einschließen (La Magicienne) oder die Qual des Todes auf sich nehmen (La Vierge). Diese bedingungslose Frömmigkeit ist jedoch nichts Natürliches für die menschliche Seele, die immer fürchtet und oft zweifelt. Wenn die Genevieve Bruneaus nach vorübergehendem Zögern („Herr, bin ich es, die du erwählt hast?“) akzeptiert, eine potentielle Märtyrerin zu werden, so hört Fevriers Gismonda verständnislos die frommen Gesänge der Nonnen, die sie umgeben („0, meine Schwestern, warum ist mein Herz nicht wie die euren resigniert?“). Für sie ist es unmöglich, den Versuchungen der Wollust zu entgehen, denn in der romantischen Oper ist die Grenze zwischen Frömmigkeit und Sinnlichkeit schmal. Für sie ist die Religion das Palliativum gegen die körperliche Liebe. „Oh, schöne zerronnene Träume, […] ihr kommt nicht wieder“, ruft die unglückliche Beatrix von Saint-Saens (Etienne Marcel) aus, während Lalla-Roukh selbst beschließt, die Erinnerungen an die Liebe zu meiden, ihnen aber doch noch eine letzte Romanze von berückendem Charme zugesteht („Unter den dunklen Blättern, in der Stille und im Schatten“).
Weniger außergewöhnlich erlaubt es die flüchtige oder vorübergehende Vision, die Theatralität bestimmter Monologe bedeutend zu bereichern. Die aus dem Zweifel entstandene Unruhe hat dann oft den Stellenwert einer Vorahnung (Godard, Les Guelfes, „Nichts möge mein Entzücken stören. […] Ah! Dennoch zittre ich“), die bis zum Wahnsinn führen kann (Niedermeyer, Stradella, „Ah! Welch furchtbarer Traum […] Es war kein Traum! Unglück!“). In allen Fällen sind diese momentanen Halluzinationen Störelemente und ermöglichen es, die Struktur einer Arie zu variieren, in der somit ein Maximum an widersprüchlichen Gefühlen zum Ausdruck kommt.
Visionen und Albträume rufen selbstverständlich Trugbilder und Erscheinungen hervor. Daher kommen die unzähligen Wahnsinnsszenen, unter denen die der Ophelie (Hamlet von Ambroise Thomas) die berühmteste der französischen Oper ist. Dazu kommt die Arie „des Giftes“ aus Gounods Roméo et Juliette, in der sich die Heldin von den Geistern ihrer verstorbenen Vorfahren umgeben glaubt. Das französische Oratorium – mit ausgesprochen erzieherischen Absichten – konnte nicht umhin, auch in Kirche und Konzert das Entsetzen auszulösen, das die Opernorakel hervorriefen. Vom Erzengel des Paradis perdu von Dubois bis zur Redemption von Franck ergreifen die sakralen Erscheinungen den Zuhörer, der dadurch umso aufmerksamer der göttlichen Nachricht folgt. In Les Beatitudes erlebt die – verklärte – Jungfrau Maria selbst Christi Tod auf Golgota, den sie voll Mut und Ergebenheit akzeptiert („Ich opfere meinen Sohn zum Heil der Menschheit“), wobei die stürmischen Wellen des Orchesters den Monolog spektakulär beleben.
Die Musik begleitet subtil diese Gemütszustände, die von den erlesenen Kompositionen Bizets und Massenets – die die Zeit anzuhalten scheinen – bis zur rhythmischen Hartnäckigkeit und der harmonischen Heftigkeit der bewegten Allegri bei Niedermeyer oder der entfesselten Fluten bei Franck gehen. Die Verwendung oder das Imitieren von Orgeln, Glocken und himmlischen Stimmen verleiht vielen Stellen eine besondere Farbe. Die Blechbläser werden auch gern herangezogen, um durch wildes, kriegerisches Geschmetter die Ruhe der Frömmigkeit zu unterbrechen und die Heldin zu veranlassen, ihrem Schicksal entgegenzueilen (Bruneau). Das vorliegende Programm wechselt zwischen allen Gattungen ab, die in der Romantik en vogue waren: die Oper (Saint-Saens, Halévy, Godard, Fevrier), die Opéra comique (David), das Oratorium (Franck, Massenet) bis zu den bescheidensten Kantaten, im vorliegenden Fall den für den Prix de Rom komponierten (Bizet, Bruneau).
Dieses Recital von Veronique Gens gibt der Sängerin die Gelegenheit, die Reife ihres „Falcon-Soprans“ zur Geltung zu bringen, einer zentralen Stimmlage, die für die romantische französische Oper typisch war. Der Name bezieht sich auf Cornelie Falcon, die bei den Uraufführungen der Opern von Meyerbeer und Halévy in den 1830er Jahren die Hauptrolle sang. Veronique Gens würdigt hier auch Komponisten, von denen sie als erste einige unbekannte Werke interpretierte: David (Herculanum, 2014), Godard (Dante, 2016), Saint-Saens (Proserpine, 2016) und in allerletzter Zeit Halévy (La Reine de Chypre, 2017). Alexandre Dratwicki/ Deutsch N. N.
Véronique Gens: Visions (Arien von Bruneau, Franck, Niedermeyer, Goidard, David, Février, Saint-Saens, Massenet, Halévy und Bizet); Münchner Rundfunkorchester; Dirigent Hervé Niquet; Alpha 279
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PS.: Und natürlich ist kaum etwas auf der Welt einmalig: Manche der hier genannten Titel gibt es bereits auf CD, so – wie von Alexandre Drawicki erwähnt – mit Véronique Gens Davids Herculanum, Saint-Saens Proserpine und ab Oktober 2017 auch Halévys Reine de Chypre, alle auf Ediciones Singulares, dem Hauslabel des Palazetto.
Andere wie La Vièrge von Massenet gibt es mehrfach (Amazon). Etienne Marcel von Saint-Saens ist nach Aufführungen in Compiegne und Montpellier 1974 nicht auf CD erschienen, kursiert aber unter Kennern. Halévys Magicienne aus Montpellier gibt es bei Ediciones Singulares, Lalla-Roukh von David hat Ryan Brown von der Opéra Lafayette bei Naxos eingespielt. Bizets Clovis et Clotilde gab es in einer bizarren Aufnahme mit Montserrat Caballé bei Erato. Und die Béatitudes von Franck sind mehrfach vorhanden (Amazon). Wirklich vergessen ist Henry Février, dessen Monna Vanna kurzlebig in Frankreich 1958 in Rennes und Besancon herumgeisterte und von Radio France in Teilen dokumentiert wurde, dessen hier gesungene Gismonda aber wirklich unbekannt ist. Das gilt auch für Bruneaus Geneviève, von ihm gibt es nur (und auch dokumentiert 1952 beim rtf) seine Attaque du Moulin (zuletzt 2010 in Bern und dann 2011 in Erfurt aufgeführt).Und von Louis Niedermeyer hat Malibran ein antikes Requiem der Schellackzeit (daraus singt Bocelli ein „Pietà Signore“ bei Sugarmusic Lucitana Lda) – aber sein Name ist mit der Pastiche Robert Bruce zu Musik aus La Donna del Lago von Rossini verbunden (Dynamic), er war ein Fleißiger (Foto oben: „Visions“: Emma Calvé sang 1885 die Lalla-Roukh Davids / Foto OBA). G. H.
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.