Für einen Opernjournalisten ist es ja oft problematisch, Künstler näher zu kennen und mit ihnen befreundet zu sein. Zu oft ergeben sich Interessenskonflikte. Es spricht für eine enge Zuneigung, wenn diese Zurückhaltung aufgegeben wird – wie im Falle von Eve Queler, die am Neujahrtag 2016 ihren 85.!!! Geburtstag feiern konnte und die zu meinen langjährigen, liebenswürdigsten Freunden gehört. Sie ist eine quirlige, aufregende, hochinteressante, interessierte und bemerkenswerte Frau. Eine Musikerin von Rang und eben eine bedeutende Dirigentin. Und ich schreibe ihr jetzt eine Liebeserklärung zu ihrem Geburtstag. Das ist mir ein Bedürfnis.
Seit mehr als vierzig Jahren überschüttet die New Yorker und die internationale Presse die amerikanische Dirigentin Eve Queler (sie selber spricht sich „Queller“ aus) mit Lobeshymnen für ihre Pionierarbeit auf dem Gebiet der unbekannten Oper. Seit langem ist ihr Name eine Legende unter Opernfans, die in meist mehr oder weniger „dunkelgrauen“ Aufnahmen ihre vielen, wunderbaren Aufführungen ihr Eigen nennen – Les Pêcheurs de Perles, I Capuleti e i Montecchi (mit der leidenschaftlichen Troyanos), die vielen Opern(erst)aufführungen von Donizetti (allen voran der höchst interessante Dom Sebastian im originalen Französisch mit Leech in der Titelpartie, im zweiten Anlauf dann mit Kasarova und Filianoti), die Favorita mit Verrett und Kraus (und der ganz jungen Barbara Hendricks), Lucrezia Borgia, Parisina, Gemma di Vergy und Roberto Devereux natürlich mit „Monzi“ Caballé, mit der sie viel gearbeitet hat und die wie viele, viele andere inzwischen berühmte Sänger zu ihren Freunden zählt; Meyerbeers Africana (auf Wunsch von Richard Tucker, mit Antonietta Stella in der Titelrolle) ebenso wie dessen Huguenots (mehrfach) und Prophête, die Gioconda mit der Millo (eine weitere Getreue), Respighis Belfagor, natürlich der Guiliaume Tell (geplant für Gedda, der krank wurde und dafür Lakmé mit der Devia, die Pêcheurs, Benvenuto Cellini und vor allem den bewegenden Dalibor bei ihr sang); Tristan und Isolde von Wagner, Jenufa von Janácek, Guntram und Danae von Strauss, viel von Verdi, Chowanschtschina, Mazeppa (mit Anderson) und vieIe, viele, viele andere mehr, nicht zu vergessen die prachtvolle Francesca da Rimini Zandonais (die sie gerade wieder dirigieren wird) – die Titel sind Legion und finden sich auf ihrer website.
Eine Legende mit mehr als 100 Operntiteln? Sie lacht laut über die Bezeichnung und schaut mich ungläubig an. „Das macht alt!“ Und sie ist natürlich zu lebendig und viel zu charmant, um mit einem solchen Titel belegt zu werden. Dennoch – die Tatsache bleibt, dass kaum jemand mehr für die Ausweitung des Opernrepertoires, namentlich des Belcanto, getan hat als sie. War das Absicht? Wie ist sie eigentlich zu dieser Position gekommen? „Also, eigentlich bin ich eine Dirigentin für die sinfonische Musik, und ich liebe Mahler besonders. Zudem habe ich mit großen amerikanischen Orchestern wie den Philharmonikern in Philadelphia und Cleveland gearbeitet, mit Orchestern in der Alten Welt ebenso wie in der Neuen. Und zur Oper bin ich eher aus zufälligen Gründen gekommen. Am Beginn gab es natürlich noch keine Organisation des Opera Orchestra of New York (OONY), wir hatten nicht einmal ein Büro. Aber wir hatten von Anfang an besonders viel Unterstützung von allen Seiten. Ich selber bin zur Oper gekommen, weil ich nicht mehr Horn spielen konnte, wofür ich ausgebildet war!“ Das klingt überraschend und bietet sich nicht auf den ersten Blick an. „Ja, wirklich, ich habe eigentlich das Französische Horn spielen gelernt. Ich komme aus einer musikliebenden Familie in der Bronx, als die noch grün und bewohnbar war. Meine Eltern schickten mich auf die Music High School von Manhattan und anschließend auf das Konservatorium, wo wir ein Instrument lernen mussten. Ich spielte zwar bereits als Fünfjährige Klavier, aber ich wählte das Horn und leider nicht die Geige – eine Wahl, die ich sehr bereue, denn als Dirigentin bin ich besonders dicht mit den Streichern zusammen und sehr an den Farben im Orchester interessiert.“
Ein typischer Eve-Queler-Exkurs folgt nun, der unser Gespräch viele Male unterbrechen wird. Sie liebt Nebenbemerkungen, und ich muss sie immer wieder am Thema halten, keine leichte Sache bei einer so kommunikativen Frau. Also: Streicher! „Du weißt vielleicht, dass ich für die Universität von Maryland ein Projekt durchführte, junge Opernorchesterspieler auszubilden, und man schickte mich durchs Land, um geeignete Spieler einzukaufen. Das Wunderbare dabei war die Zusammenarbeit mit den Pultführern der Philharmoniker von Philadelphia, die dazu kamen und die beinahe sichtbar vor meinen Augen Klang aufbauten. Sie schufen mit diesen relativ wenig ausgebildeten Studenten nach und nach einen ganz spezifischen Klang im Orchester, vor allem bei den Streichern. Und wir führten dann anschließend Tristan und Isolde, ohne Striche, auf. Mit einem Jugendorchester! Beim New Yorker Gastspiel war die Presse aus dem Häuschen. Ich arbeite überhaupt viel mit den Geigen zusammen, vielleicht auch, weil wir auf der Hochschule so viel Brahms und die Romantiker spielten. Meine OONY-Konzertmeisterin war mir eine große Freundin, und wir probierten für die einzelnen Opern und vor allem Stimmen immer wieder einen spezifischen, möglichst transparenten, aber doch auch üppigen Klang aus, was in der Carnegie Hall nicht leicht ist.“
Zurück zu Eve Quelers Werdegang. Ihr Diplom machte sie mit der Ouvertüre zu den Meistersingern. Dann schlug das Schicksal zu – sie ließ sich ihre Zähne richten, „vom ersten eigenen Geld“, und endete mit einem Drahtverhau im Mund. Hornspielen wurde unmöglich. „Und das Ausgehen mit den Jungens auch, denn ich wagte nicht, zu lachen, wegen der Gummibänder, die die ganze Konstruktion meiner Zähne zurückhielten. Und ich lache doch so gern! Immer, wenn mir jemand einen Witz erzählte, vergaß ich mich, und meine Jeweiligen endeten mit einem Gummiflitscher im Auge – keine Grundlage für eine Beziehung!“
Aber ein junger Jurastudent namens Stanley ließ sich von den Schleudergeschossen nicht abhalten – er heiratete sie trotzdem (Stanley starb nach langer, glücklicher Ehe mit ihr vor einigen Jahren). Bis die zwei Kinder der Quelers geboren wurden (Tochter Liz ist eine erfolgreiche Pop-Sängerin mit einer inzwischen 22-jährigen Tochter), waren die Zähne offenbar wieder in Ordnung. Dennoch wurde das Horn, das Eve nun nicht mehr an die Lippen pressen konnte („Ich war ja keine Masochistin!“), unterm Klavier verstaut; Ersatz musste her, schon aus wirtschaftlichen Gründen. Einer musste ja Geld verdienen. Sie besann sich ihrer Fingerfertigkeit, und von Stund‘ an waren keine Tasten vor ihr sicher: Sie spielte auf Beerdigungen und Hochzeiten die Orgel und das Harmonium, bei Geburtstagen das Klavier, einfach alles.
Entscheidend aber war ihr Einsatz bei Proben für die jeweiligen Orchester der Stadt und an den beiden Opernhäusern, wobei sich ihre Tätigkeit an der New York City Opera zu einem Dauerjob entwickelte. Sie spielte bei Vorsingen und als Coach für die Solisten, bei Orchesterproben den Einsatz für die einzelnen Instrumente, die Orgel auf schwankender Höhe bei Aufführungen. Sie konnte ganze Opern auf dem Klavier auswendig spielen, was sie nicht immer bei den Dirigenten beliebt machte, deren Fehler sie durch Hochblicken anmerkte. Sie brachte auch ihre beiden Kinder im Kinderchor der NYCO unter, damit sie sie besser im Auge hatte – ihre Tochter musste auch mal bei ihrer Mutter als Hirtenknabe in der Tosca einspringen, weil der dafür vorgesehene arme Junge über Nacht Stimmbruch bekommen hatte.
Natürlich lernte sie im Verlauf ihrer Coach-Tätigkeit an der New York City Opera alle dortigen wichtigen Musiker und Sänger kennen. Ein weiterer typischer Queler-Ausflug bringt uns nun zu Reminiszenzen über Leonard Bernstein, den sie verehrte und von der NYCO her kannte. Sie traf ihn beim gemeinsamen Hals-Nasen-Ohren-Arzt, und er begrüßte sie mit „einem nassen Kuss“ quer durchs ganze Gesicht. Anschließend sang er aus seiner Kabine heraus: ‚Eve Queler, Eve Queler,I just kissed a girl named Eve Queler…'“
Und nun endlich kommen wir zum Dirigieren von Opern! Eve sah sich nach einer weiteren Tätigkeit um. Und noch eines von vielen Amateur-Sinfonieorchestern wollte sie nicht ins Leben rufen. Oper kam als ganz spontane Entscheidung – eine Nische für Opernfans zu finden, die nicht nur das Standardrepertoire hören wollten. Also entschloss sie sich zu einer konzertanten Opern-Compagnie. Ihre erste eigene konzertante Aufführung war die Bohème („Keine Oper, die ich Anfängern empfehlen würde, aber leichter zu dirigieren als Mozart. Bei Puccini kann man flexibel dirigieren, wenn man bei Mozart das Tempo schmeißt, ist man verloren.“). Ihr Repertoire kannte sie von ihrer Coachtätigkeit an der NYCO. Also arbeitete sie sich anfangs durch die bekannteren Titel hindurch.
Wie kam sie auf die „abseitigen“ Werke, für die sie so berühmt ist? „Aus Langerweile! Ich hatte einfach noch eine weitere Tosca oder Traviata satt. Also ging ich in die Musikbibliotheken und las mich durch die Partituren hindurch, nahm auch welche mit nach Hause und spielte sie am Klavier vor mich hin. Und wenn Stanley (der es inzwischen zu einem renommierten Rechtsanwaltsposten gebracht hatte) mitpfiff oder -summte, wusste ich, dass ich einen Treffer gefunden hatte, manchmal auch zu meiner eigenen Überraschung. Meine Neugier trieb mich immer weiter, und ich entdeckte Donizettis große tragische Opern, die Welt der Russen und Osteuropäer, vieles von Verdi, das einfach nicht bekannt war. Oft mussten wir unsere eigenen Editionen machen, denn die Textlage war problematisch.
Eine der Hauptfreuden beim Opera Orchestra ist das Besetzen. Natürlich gibt es Albträume dabei, aber mit so professionellen und wunderbaren Künstlern wie Nicolai Gedda, Plácido Domingo oder Carlo Bergonzi, dann natürlich Montserrat Caballé, Raina Kabaivanska und vielen, vielen anderen zu arbeiten, war und ist schon eine besondere Sache. Mit diesen wirklich Großen hatte ich nie Probleme, eher mal mit manchen Kleinen. Die große Befriedigung aber kommt aus der Arbeit mit dem Nachwuchs. Es ist eine besondere Freude zu sehen, wenn die Jungen, in die ich mein Vertrauen gesetzt habe, auch wirklich Karriere machen. Und von den seinerzeit wirklich wichtigen jungen Sängern haben sehr viele bei mir gesungen: Sam Ramey, Renée Fleming, June Anderson, Robert Swensen, Gloria Scalchi, Mariella Devia, Giuseppe Sabbatini, Valeria Esposito, aber auch jetzt gerade Michael Fabiano – viele, Europäer wie Amerikaner und auch Russen.“
Wie legt sie die Schwerpunkte ihres Repertoires? „Das New Yorker Publikum ist im wesentlichen an den großen Werken interessiert, also Wagner und die Italiener – das macht die Met und in Teilen auch die New York City Opera, zu denen wir ja nicht in Konkurrenz treten wollten. Schon bei Donizetti und dem übrigen Belcanto muss man vorsichtig dosieren, nicht zu viel davon. Zweimal Donizetti in einer Saison, also Linda oder Catarina Cornaro, ist schon fast zu viel. Ich selber liebe die großen französischen Opern und habe davon viele dirigiert, aber auch da muss ich mich etwas zurückhalten. Wenn ich die Hérodiade plane, ist der Markt dafür in den kommenden Jahren blockiert. Aber auch Meyerbeer gehört meine Liebe, und da habe ich auch die Wiederholungen der Titel gemacht. Und jüngst noch eine Gala mit Ausschnitten daraus.“
Der Erfolg gab und gibt Eve Queler recht. Aus einer eher zufällig begonnen Aktivität wurde ein glänzendes, renommiertes Unternehmen, über das die Presse seit vielen Jahren immer wieder und in schöner Wiederholung Lobeshymnen anstimmt. Macht das ihr ganzes Leben aus? „Aber nein! Ich komme ja eigentlich aus einem sinfonisch orientierten Hintergrund mit reichlich Brahms und den Romantikern.“ Gastpiele bei „seriösen“ Orchestern haben sie bis nach Ungarn und die Tschoslowakei geführt, wo sie „auch Opern“ dirigiert. Sie hat eine beträchtliche Menge an Aufnahmen davon herausgebracht, hat in der ganzen Welt gearbeitet, in Australien Mozarts Entführung geleitet, Donizetti und Verdi in Barcelona und Madrid, Osteuropäisches in Caracas und viel in Lateinamerika, in Italien und Südafrika, in Macao, Kanada natürlich, Las Palmas dirigiert. Für die Gastspiele in Hamburg (Don Pasquale), Kassel (Der fliegende Holländer) und Bonn (Jenufa) frischte sie ihr nicht unbeträchtliches Deutsch auf (eine der erheiternden Episoden meines Treffens mit Eve Queler in ihrer hochindividuellen New Yorker Wohnung ist die Erinnerung an ihre Unterhaltung mit ihrer venezolanischen Haushaltshilfe, die bei deutscher Mutter kein Englisch konnte, abenteuerlich!). Sprachbegabt ist sie ohnehin. Sie rattert die Namen der Institutionen im tschechischen Budweis herunter, wo sie ein Kammermusikfestival leitete – für sie ganz selbstverständlich, während mir der Mund offen steht.
Und ganz persönlich sehe ich ihre immense Begabung im osteuropäischen Repertoire, eben im Tschechischen, im Russischen. Und in der Romantik. Ihre Aufführung von Tristan und Isolde gehört für mich zu den eindrücklichen Erinnerungen an sie – fast mehr als ihre Belcanto-Tätigkeit. Im Romantischen Repertoire (auch bei Brahms, Tschaikowsky, Schumann), denke ich, ist sie wirklich zu Hause. Dafür hat sie den Puls, den Atem, das Temperament. G. H.
Eine umfangreiche Repertoire-Übersicht findet sich auf Eve Quelers Website mit vielen Fotos aus ihrer langen Karriere! Dort auch die Highlights aus ihren Konzerten der letzten 10 Jahre, darunter die Meyerbeer-Gala, Rienzi, La Sonnambula, Edgar und andere mehr mit den führenden Künstlern unserer Zeit wie Renée Fleming, Eglise Gutierrez, Geraldine Chauvet, Marcello Giordani, Olga Borodina, Mariella Devia, Angela Meade, Michael Fabiani und nicht zuletzt Aprile Millo. (Foto oben: Eve Queler in der Frankfurter Alten Oper/ Queler) http://www.operaorchestrany.org/; http://evequeler.com/