Verdi und Manet

 

Der Stückvorhang zu Benoît Jacquots Neuinszenierung von Verdis La traviata an der Pariser Opéra Bastille zeigt Manets bekanntes Gemälde Olympia von 1865, welches auch Violettas Bett ziert – neben dem Sofa und einer kleinen Frisiertoilette das einzige Möbelstück des ersten Bildes (Bühne: Sylvain Chauvelot). Zum Vorspiel sieht man Violetta mit Dottor Grenvil und Annina, die wie auf dem Bild eine Farbige und wie diese gekleidet ist (Kostüme: Christian Gasc). Beide Figuren begleiten die Titelheldin bis zu ihrem tragischen Ende.

Erato hat eine Aufführungsserie von Verdis Oper im Juni 2014 aufgezeichnet und als DVD herausgebracht (0825646 166503), was der deutschen Sopranistin Diana Damrau Gelegenheit gibt, sich nach ihrer Mitwirkung in der kontroversen Inszenierung von Dmitri Tcherniakov zur Saisoneröffnung an der Mailänder Scala im Dezember 2013 nun in einer konventionellen szenischen Lesart und in opulenten Kostümen zu präsentieren. Sie hat die Partie vor dem Auftritt in Paris an der New Yorker Met, am Opernhaus Zürich, an der Bayerischen Staatsoper sowie an Covent Garden London gesungen und bietet nun ein gereiftes Porträt der Kurtisane mit vielen neuen Zwischentönen und überraschenden Details. So formt sie das Rezitativ vor der großen Arie sehr nachdenklich, beinahe zögernd. Die Arie selbst wird ungemein differenziert und mit starker innerer Erregung vorgetragen. Exquisit ist die Gesangslinie, bis das „Follie“ und „Sola, abbondonata“ einen jähen Stimmungswechsel bringen. Ungestüm und in atemlosem Taumel stürzt sie sich in das „Sempre libera“, das im Da capo einen trotzigen Unterton annimmt. Im 2. Akt, den optisch ein riesiger Baum dominiert und wo Violetta seltsamerweise im identischen Ballkleid auftritt wie zuvor bei ihrem Fest, zeigt sie eine spontane Freude beim Erscheinen Germonts, was sich freilich schnell in Irritation wandelt. In geradezu wilder Erregung reagiert sie auf seine Forderung, sich von Alfredo zu trennen, und lehnt diese zunächst vehement ab. „Dite alla giovine“ ist dann schon von visionärer Entrücktheit, das „Morrò!“ aufbegehrend und von tiefster Verzweiflung. Ergreifend dargestellt sind die Briefszene und der Abschied von Alfredo in höchster emotionaler Not.

Eine riesige Treppe illustriert den Ballsaal bei Flora, auf welcher der Chor als statuarische Masse postiert ist. Eine schwarze Robe gibt Violetta hier einen tragischen Umriss. In der Darstellung ihres Konfliktes zwischen Liebe und Pflicht überzeugt sie in diesem Bild besonders. Die Auseinandersetzung mit Alfredo ist gezeichnet von fiebriger Erregung, der Zusammenbruch nach seiner unfassbaren Beleidigung von schmerzlicher Wehmut.

Im letzten Akt ist das Bild abgehängt, das Bett wie für einen Umzug gerüstet und Violetta in einem ärmlichen Krankenhausbett gelagert. Das Rezitativ vor „Addio del passato“ gestaltet Damrau aufbegehrend gegen das Schicksal, die Arie zunächst verhalten und stockend, erst später mit ausbrechenden Tönen der Verzweiflung. Auf die Rückkehr von Alfredo reagiert sie mit geradezu ekstatischer Vehemenz. Hatte sie sich an der Scala  gegenüber den szenischen Kapriolen des russischen Regisseurs behauptet und vor allem im letzten Akt eine überwältigende Darstellung der liebenden und sterbenden Titelheldin geboten, so erreicht sie diese Wirkung in Paris nicht ganz, weil der Regisseur sie zu oft im Bett agieren lässt – liegend oder sitzend, was ihren Bewegungsradius einschränkt. Aber dennoch findet sie zu packender Wirkung in ihrem trotzigen Willen auszugehen und der grausamen Erkenntnis, dass ihr dafür die Kraft fehlt. In „Gran Dio“ erreicht sie gesanglich eine von ihr bisher nicht gehörte dramatische Dimension. Berührend ist ihr Abschied von Alfredo mit dem „Prendi, quest’ é l’immagine“, packend die Todesszene zwischen Ungläubigkeit und Trance.

Von ihren Partnern ist vor allem Ludovic Tézier als Germont père zu nennen, der mit seinem sonoren, ausdrucksstarken Bariton und der noblen Erscheinung der derzeit beste Vertreter dieser Partie sein dürfte. Seinen Schlager „Di Provenza“ singt er gänzlich  unsentimental, sondern mit energischem Nachdruck. Die Stimme strömt in wunderbarer Fülle, was vor allem in der Szene mit Violetta im 2. Akt große Wirkung macht.

Ein jugendlich attraktiver Alfredo ist Francesco Demuro, der das Brindisi mit Emphase anstimmt und auch das Liebesgeständnis gegenüber Violetta gleichermaßen sensibel wie leidenschaftlich formuliert. Die Arie zu Beginn des 2. Aktes singt er mit schöner lyrischer Substanz und schwärmerischem Ausdruck. Mit Verve geht er die Cabaletta an, wirkt nur an deren Ende etwas ermüdet, so dass der exponierte Ton am Schluss matt klingt. In den Nebenrollen überzeugen Anna Pennisi als Flora, Cornelia Oncioiu als Annina und Nicolas Testé als fürsorglicher Grenvil. Francesco Ivan Ciampa leitet Choeur und Orchestre de l’Opéra national de Paris mit sensiblem Gespür für die Facetten der Musik – die schmerzliche Lyrik, die rhythmischen Finessen, die temperamentvoll-hitzigen Festbilder und die Morbidität des Finales. Bernd Hoppe