Typisch Castorf

 

 

„Schlimmer geht’s nimmer“, denkt  sich der naive Opernfreund bereits beim Lesen der Inhaltsangabe im DVD-Booklet zu Janáceks Lageroper Aus einem Totenhaus, aber weit gefehlt: Wenn Frank Castorf die Regie übernimmt strömt das Blut statt in Bächen in Strömen, wird alles Schreckliche doppelt, nämlich zusätzlich noch auf einer Videowand gezeigt, inspiriert nicht ein verletzter Raubvogel die Freiheitsideen der Lagerinsassen, sondern ein Paradiesvogel wie aus einer Revue im Moulin Rouge. Dazu kommen die üblichen Ingredienzien einer Castorf-Inszenierung wie zusätzliche Personen, Texte, Handlungen- hier u.a. der Selbstmord durch Erhängen in Video-Großaufnahme- und neben viel Körperflüssigkeit auch auf Boe Skovhus‘ an sich angenehmem Gesicht grässliche große Eiterbeulen – etwa schon Aids? Denn natürlich werden auch Zeit und Ort nicht respektiert, denn mexikanischer Totenkult verweist zwar auf Leo Trotzki und dessen Tod durch Eispickel, Reklame für Pepsi Cola auch nicht gerade auf das zaristische Straflager, das Dostojewski erdulden musste, sondern, bedenkt man das Erscheinen der Iswestija, auf die Stalinzeit. Immerhin herrscht kein sexueller Notstand, denn anstelle der einen armseligen Prostituierten bei Janácek gibt es im Castorf-Lager einige sehr hübsche Mädchen in attraktiver Gewandung. Das so praktikable wie atmosphärereiche Bühnenbild auf der Drehbühne stammt von Aleksandar Denić, kann ohne Umbauten Lazarett, Kommandantenstube oder Appellplatz mit Stacheldraht und Elektrozaun zeigen. Die Kostüme von Adriana Braga Peretzni beschränken sich nicht auf Lagertrübnis, sondern legen der Phantasie besonders, wenn die Häftlinge Theater spielen, keine Fesseln an. Sehr stimmungsvoll ist die Lichtregie von Rainer Casper. Zu ihr passt am besten die ein feines akustisches Farbspektrum auffächernde Leistung von Simone Young am Dirigentenpult der Bayerischen Staatsoper. Ihr entströmen auch Trost und Heilsversprechen, die optisch nur in der Freilassung des Adlers und der Entlassung des Adligen Häftlings Gorjančikov ihre Entsprechung haben. Alle anderen müssen ihr elendigliches Leben im Lager fortführen, einige profilieren sich im Verlauf der drei Akte durch die Erzählung, eher das Wiederaufleben ihrer blutigen Taten, die sie (im Original) nach Sibirien gebracht haben.

Peter Rose ist als Gorjančikov die sympathischste der Figuren, gewinnt Profil eher durch seine schauspielerische Leistung, da er wenig zu singen hat, das aber bassabgrundtief. Berührend  mit kristallklarem Sopran gibt Evgeniya Sotnikova den jungen Tartaren, dem er das Lesen beibringt, spielt zugleich den Adler im prunkvollen Federkleid. Charles Workman singt den Skuratov, der seinen Nebenbuhler ermordet hat, mit höhensicherer Stimme. Eine ganze Oper für sich ist Bo Skovhus als Šiškov, der die von ihm geliebte Frau aus Eifersucht umgebracht hat. Vokale und darstellerische Leistung überbieten einander. Von der Kamera bevorzugt wird Galeano Salas als Betrunkener, der mit drei Wodkaflaschen im Arm immer wieder ins Bild geholt wird. Sehnsüchtige Volksliedtöne steuert Dean Power als Stimme aus der kirgisischen Steppe bei. Auch der Kommandant, Christian Rieger in beeindruckender Starrheit, dürfte, so meint es eine tiefe Narbe im Gesicht, einst Opfer von Gewalt gewesen sein.

Die Kamera holt die jeweils auch stimmlich Agierenden ins Bild, der Opernhausbesucher hatte stets die gesamte Bühne mit unzähligen Nebenhandlungen vor Augen, so dass man davon ausgehen kann, dass man am häuslichen Fernseher die Einzelschicksale mehr zu würdigen weiß als im Theater. Das dürfte wohl auch eher im Sinne von Dostojewski und Janácek sein (BelAir BAC573).   Ingrid Wanja