Kulissenzauber

 

Während des Openings schwenkt die Kamera über einen Park mit blühenden Blumenrabatten, See, üppigen Baumkronen und lieblich blauem Himmel. Es könnte durchaus in Glyndebourne sein, woher das Teatro alla Scala die am 11. Oktober im Herbstprogramm 2018 gezeigte La finta giardiniera bezog. Vier Jahre zuvor hatte der britische Opernregisseur Frederic Wake-Walker, bei dessen Namen man unwillkürlich an My fair lady denken muss, das erste Drama giocoso des 19jährigen Mozart auf die Festspielbühne in Sussex gezaubert. Mozarts frühreifer Vorgriff auf Cosi fan tutte oder Le nozze di Figaro entstand für den Karneval in München, wo er im Januar 1775 uraufgeführt wurde. Am gleichen Ort gelangte auch, wie Cesare Fertonani im Beiheft der Naxos-Ausgabe ausführt (Bluray NBD0129V), erstmals die  Edition der Neuen Mozart Ausgabe, die nach Wiederentdeckung des Autographs wieder die italienische Fassung des zuvor als deutsches Singspiel weiterlebenden Gärtnerin restituierte, zur Aufführung. Es handelte sich im Juli 1979 um eine von Bernhard Klee dirigierte und von Ferrucio Soleri inszenierte durchaus glanzvolle Festspiel-Aufführung mit den Damen Wise, Falcon, Evangelatos, Conwell sowie den Herren Ahnsjö und Mercker. An wirklich große Aufführungen der Finta giardiniera erinnert man sich mit Ausnahme der hinreißenden Herrmann-Inszenierung 1984 in Brüssel, die es leider nur zur CD- und nicht Video-Aufzeichnung geschafft hat, nicht. Trotz aller guten Absichten ist die Finta Giardiniera eine endlos lange Abfolge von Arien und Rezitativen um die falsche Gärtnerin Sandrina. Sie ist natürlich keine Gärtnerin, sondern die Marchesa Violante Orsini, die ihr Geliebter, der Graf Belfiore, in einem Anfall von Eifersucht verwundete. Der Graf glaubt, sie getötet zu haben und flieht.

Diesen Teil der Vorgeschichte zeigt uns Wake-Walker dankenswerterweise während der Ouvertüre. Gemeinsam mit ihrem Diener Nardo macht sich die Gräfin auf die Suche nach dem Grafen; beide nehmen eine Stelle an bei Don Anchise, dem Podestà von Lagonero, der sich unweigerlich in die Gärtnerin verliebt. Nardo stellt der Zofe Serpetta nach, die wiederum in den Hausherrn verliebt ist. Und der als Hausgast auf dem Anwesen weilende Don Ramiro trauert seiner Liebe zu Arminda nach, der Nichte des Podestà, die ihn wegen des Grafen Belfiore verlassen hat. Falsche Identitäten, Verwechslungen. Typische Buffo-Irrwege. Die Vorgeschichten werden nun ausführlich durchdekliniert, wobei sich Wake-Walker und Diego Fasolis, dem mit seinem auf Originalinstrumenten spielenden Ensemble aus Mitgliedern des Orchestra del Teatro alla Scala ohnehin an einem rasch vorwärtsdrängen und manchmal geradezu stürmischen Tempo gelegen ist, entschieden haben, auf ein paar Arien zu verzichten. Zum Vorteil des trotzdem noch langen Abends. Giuseppe Petrosellinis Libretto kommt ohne den Witz, die Ironie und die subversiven Untertöne eines da Ponte aus. Mozart setzt dies relativ konventionell um. Die Finali des ersten und zweiten Aktes besitzen dramatische Kraft und weisen auf den Figaro voraus. Herrmann hatte diese Typen und diese standardisierte Musik in den Griff bekommen und eine duftig leichte Landpartie kreiert, in der jede Geste Tiefsinn und Menschenkenntnis verriet. Wake-Walker, sein Ausstatter Anthony McDonald und die für die Beleuchtung zuständige Lucy Carter erfanden eine effektive Rokokovilla mit morbider grünblauer Patina mit vielen Spiegeln, großen Fenstern, Türen und Kamin wie ein Nachklang auf Jürgen Roses Amalienburg-Szenerie im alten München Rosenkavalier, die  es den Figuren erlaubt, zu klettern und fliehen, dazu reizvolle Kostümen, unter deren teilweise bizarren Mustern nicht nur die Leoparden-Unterhose des Podestà auffällt, die Kresimir Spicer, kraftvoller singend als man es in dieser Altherrenpartie gewohnt ist, mit tragikomischer Würde trägt. Alles spaßig und lebhaft, bunt, übertrieben und mit gezierter Gestik, die die Sänger verinnerlicht haben. Manchmal auch etwas zappelig, wie wenn alle als Commedia dell’arte-Marionetten an Fäden geführt werden. Nacheinander liefern sie ihre Arien ab. Wake–Waker lässt sie sich dabei entkleiden und sozusagen ihre wahren Gefühle zeigen. Julie Martin du Theil ist eine anmutige Gräfin Violante mit einem kleinen, aber technisch gut gerüsteten Sopran. Ihr Schweizer Landsmann Bernard Richter gibt den Grafen Belfiore als smarten Lebemann und Draufgänger mit ausdrucksvoll zärtlicher Phrasierung und bester Beherrschung von Nuancen und Farben, etwa in “Già divento freddo, freddo.” Die Stimmen von Du Theil und Richter verblenden sich schön im Duett „Tu mi lasci?“. Die Kastratenpartie des Ramiro charakterisierte Lucia Cirillo mit gutem Mezzosopran und sicheren Koloraturen in “Se l’augellin sen fugge”. Als eine Figur aus der Opera seria stellte Anett Fritsch die Armida mit hochseriösem Ausdruck und stellenweise steif scharfen Eifersuchtsattacken dar. Ausgesprochen sympathisch die Despina-quicke Serpetta der Giulia Semenzato und der aparte Mattia Oliveri als Nardo, dessen Arie aus dem ersten in den dritten Akt verschoben wurde. Ab dem zweiten Akt spitzt Wake-Walker die dramatischen Situationen zu: die detailliert entworfene Landvilla ist nur noch gemalte Pappkulisse, bevor sich die Beteiligten aus ihrem Puppen-Dasein befreien, die Herbstlandschaft am Ende gänzlich zerstören und die „richtigen“ Paare zu einander finden: Serpetta zu Nardo, Arminda zu Ramiro und die Gräfin zum Grafen.Rolf Fath