Frühgeburt auf dem Billardtisch

 

Zielstrebig und bedacht erarbeitet sich Diana Damrau die zentralen Partien des Belcanto-Repertoires, das mittlerweile zehn Rollen umfasst. Die Titelheldin in Donizettis Dramma tragico Lucia di Lammermoor hat sie auf vielen internationalen Bühnen gesungen – in New York, Japan, Berlin, München und 2016 auch am Royal Opera House in London. Erato/Warner hat diese Produktion vom April im Mitschnitt festgehalten und damit die Sopranistin nach der CD-Live-Aufzeichnung in München nun auch im Bild vorgestellt (0190297920539). Das ist verdienstvoll, denn Diana Damrau ist bei ihren Auftritten stets ein Gesamtereignis – als Sängerin und Darstellerin. Im Falle der Londoner Produktion ist das von eminenter Bedeutung, denn Katie Mitchell hat die Handlung als Psychothriller inszeniert und ihren Solisten ein Höchstmaß an expressiven, körperlich auch riskanten Aktionen und psychopathischem Ausdruck abverlangt. Da mündet das Liebesduett in eine handfeste Sexszene mit dem von Lucia halb entkleideten Edgardo, muss sich die schwangere Lucia unter Qualen erbrechen, bei der Hochzeit mit Arturo von dem rasenden Edgardo brutale Züchtigung hinnehmen und nach dem in seiner Grausamkeit naturalistisch dargestellten Mord auch noch eine Frühgeburt erleiden. Die Sopranistin erfüllt die Vorgaben der Regie mit bewundernswerter Hingabe und Konsequenz, agiert mit unglaublicher Spannung (was die Regisseurin im Bonus-Interview in der Tat breathtaking nennt) und formt so  ein einzigartiges Porträt, dem man als Zuschauer bedingungslos folgt. Ihre Lucia ist weniger Opfer, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die mit ganzer Kraft und Entschlossenheit um ihre Liebe kämpft. Stimmlich zeigt sie sich der Partie souverän gewachsen und beweist ihre Erfahrungen mit der Rolle. In der ersten Szene auf dem Friedhof, wo sie als Mann verkleidet fast wie die Forza-Leonora erscheint, singt sie die Auftrittskavatine „Regnava nel silenzio“ sehr introvertiert und bis in die Extremhöhe mit weichen Tönen. Schon hier erscheint ihr leibhaftig der Geist jenes Mädchens, das einst von einem Vorfahren Edgardos ermordet wurde. Bis zu ihrem Ende wird dieser sie begleiten, ebenso wie der ihrer toten Mutter. Das leidenschaftliche Liebesduett mit Edgardo geht einher mit einer stürmischen körperlichen Vereinigung, die sich später im Brautbett mir Arturo fast wiederholt. Dort wandelt sie sich freilich in einen Horrortrip, wenn Lucia den Angetrauten entkleidet, fesselt, ihm die Augen verbindet und mit mehreren Messerstichen schwer verletzt. Ihre Zofe Alisa hilft ihr bei der Mordtat und erdrosselt den sich im Todeskampf Windenden mit der Krawatte. In der Wahnsinnsszene begleiten die sphärischen Töne der Glasharmonika Lucias verinnerlichten Gesang, den sie an den ihr visionär erscheinenden Edgardo richtet. Die berühmte Nummer ist bei Damrau weniger Bravourstück (bei allen brillanten staccati und acuti) denn das Psychogramm einer gebrochenen Seele. In Charles Castronovo hat sie einen außerordentlich attraktiven Partner als Edgardo, dessen männlich dunkel timbrierter Tenor mit heldischer Emphase großen Effekt macht. Er singt eine hinreißende Schluss-Szene von maskuliner Energie und trunkenem Klang, der seine ganze Verzweiflung ausdrückt. Währenddessen nimmt Lucia, Blut befleckt nach ihrer Frühgeburt, im Nebenzimmer ein Bad und öffnet sich die Pulsadern. Der zu ihr geeilte Edgardo durchschneidet sich mit demselben Messer die Kehle.

Auf höchstem Niveau besetzt Lucias Bruder Enrico mit Ludovic Tézier, der mit virilem Bariton schon seiner Auftrittskavatine grimmigen Ausdruck verleiht und diese mit einem fulminanten Spitzenton krönt. Die Cabaletta besitzt Verve und Entschlossenheit. Zu Beginn des Duettes mit Lucia gibt er sich ganz sanft und fürsorglich, wird aber zunehmend brutaler im Umgang mit seiner Schwester. Die schreckliche Nachricht vom Tode Arturos hatte Kaplan Raimondo den Spielenden überbracht – auch er mit Kwangchul Youn erstklassig besetzt, dessen Bass mittlerweile weniger balsamisch, dafür kerniger und resoluter klingt. Taylor Stayton ergänzt die Besetzung als Arturo mit energischem Tenor von potenter Höhe. Glänzend der Royal Opera Chorus (Renato Balsadonna) und das Orchestra of the Royal Opera House, das unter Leitung von Daniel Oren die dramatischen Effekte wie die morbiden Lyrismen der Komposition wirkungsvoll ausreizt.

Das Besondere an dieser Produktion ist die zweigeteilte Bühne von Vicki Mortimer mit jeweils zwei Schauplätzen nebeneinander, was die Darstellung simultan verlaufender Handlungen ermöglicht. So sieht man zu Beginn rechts Lucia in ihrem Zimmer mit der Urne ihrer verstorbenen Mutter, um die sie noch immer trauert, während links auf einem Friedhof mit einer Engelsskulptur, die als geheimes Versteck für Nachrichten zwischen den Liebenden Lucia und Edgardo dient, Enrico mit Normanno über das Schicksal seiner Schwester verhandelt. Das Simultanspiel gipfelt im letzten Akt, wenn der grausige Mord an Arturo parallel zu den Hochzeitsfeierlichkeiten im Nebenraum abläuft.

 

Drei Monate später sang Diana Damrau die Elvira in Bellinis I Puritani am Teatro Real in  Madrid, was BelAir auf zwei DVDs dokumentiert hat (BAC 142). Hier ist Emilio Sagi der Regisseur dieser Neuproduktion und sorgt mit statischen Tableaus für eine vergleichsweise konventionellere Deutung als in London. Daniel Biancos Bühne ist elegant und atmosphärisch durch Eduardo Bravos raffinierte Lichtstimmungen, aber durchaus allgemein, so wie die zeitlosen Kostüme von Peppispoo.

Auch hier ist Ludovic Tézier auf der Besetzungsliste zu finden. Sein Riccardo klingt gleichfalls bedeutend und in Verdi-Nähe, ist von grüblerisch-schmerzlichem Ausdruck wegen des Verlustes an Elvira, die er auf Geheiß von deren Vater Lord Gualtiero (Miklós Sebestyén) nicht heiraten darf. Sie soll mit Lord Arturo vermählt werden, dem die heikle Partie in diesem Melodramma zufällt. Javier Camarena, darstellerisch wie stets von rührender Naivität, zeigt sich der gefürchteten Tessitura souverän gewachsen, was er sogleich in seinem Auftritt („A te, o cara“) mit schwärmerischem Tönen beweist. Sagi hat das als Überreichung der goldenen Rose unter einer Flut von Kristalllüstern inszeniert. Der Tenor verfügt aber auch das nötige dramatische Potential, wie im erregten Duett mit Riccardo zu vernehmen ist. Von wehmütiger Erinnerung erfüllt sind „A te così cantava“ und „Corre a valle“ im 3. Akt, furchtlos angegangen und sicher gemeistert wird das heikle „Vieni, vieni fra queste braccia“. Schließlich der Prüfstein der Partie, das „Credeasi, misera!“, bei dem die Stimme bis in die Extremhöhe geführt werden muss – auch dies bewältigt Camarena sicher.

Elviras Onkel Sir Giorgio singt Nicolas Testé mit sonor-reifem, zuweilen etwas dumpfem Bassbariton und nachdrücklichem Ausdruck. Kämpferisch gibt er sich im Duett mit Riccardo „Suoni la tromba“ zu Ende des 2. Aktes. Annalisa Stroppa als vermeintliche Spionin Enrichetta di Francia gleicht in Kostüm und Maske der englischen Königin Elisabetta in Donizettis Musikdramen. Mit Arturo hat sie ein dramatisches Duett, das wegen eines Brautschleiers zu Verwicklungen führt und Elvira glauben macht, ihr Geliebter würde sie mit einer anderen Frau betrügen. Das löst auch in diesem Stück eine Wahnsinnsszene der Protagonistin aus. Vor einem Schnürvorhang, der an die Ausstattungen von Christian Lacroix erinnert, halluziniert sie in einem Herz zerreißenden Gesang („Vien al tempio“) von ihrer Trauung mit Arturo vor dem Altar. Diana Damrau kann hier mit melancholisch umflorter Lyrik und sicheren Spitzentönen betören. Ihre Elvira schien schon am Anfang etwas verstört und gehetzt, als ob noch ein Schatten und Nachhall der Londoner Lucia spürbar wären. Dann aber folgte der Jubel über die bevorstehende Hochzeit mit ihrem Geliebten Arturo, der sich in der beschwingten Polacca manifestiert. Damrau singt sie kokett und leicht getupft mit duftigen Trillern. Die Rolle verlangt tatsächlich Wechselbäder der Gefühle, wofür die Sopranistin eine Spezialistin ist. Ihre entrückte Szene „O rendete mi la speme“ im 2. Akt singt sie zunächst aus dem Off, erscheint dann mit einer Mondsichel à la Norma und verströmt in ihrem Gesang schmerzliche Süße. Darstellerisch gibt sie das verstörende Bild einer Umnachteten, die den Mond in einem Vogelbauer einsperrt. Die Cabaletta „Vien diletto“, in der sie den Mond am Himmel besingt, ist zunächst fast geflüstert, steigert sich dann bravourös und wird im Dacapo individuell variiert. Im Duett mit Arturo wechselt ihre Stimmung jäh zwischen Wiedersehensfreude und neuerlicher Trübung ihres Verstandes, bis sich endlich in „Ah! sento, o mio bell’angelo“ das Glück einstellt.

Diana Damrau hat mit der Elvira eine weitere Rolle erfolgreich ihrem Belcanto-Repertoire hinzugefügt und wird am Ende umjubelt – gemeinsam mit ihren Partnern und dem Dirigenten Evelino Pidò, der das Qrquesta del Teatro Real zu dramatischer Verve und lyrischer morbidezza inspirierte. Bernd Hoppe