„Wenn meine Verse Flügel hätten…“

 

Reynaldo Hahn? Wer war Reynaldo Hahn? Si mes vers avaient des ailes singt auf der CBS/Sony-CD die betörende Bidu Sayao und lässt uns mit ihr die Flügel der Liebe ausbreiten. Jeder Liedsänger von Format (in diesem Falle fast immer Soprane) hat dieses wunderbare Lied gesungen, von Janet Baker bis zu Diana Damrau. L’Heure exquise” hat man von der ebenso eindringlichen Maggie Teyte im Ohr, die wie viele britische Sänger sich dem französischen Liedrepertoire gewidmet hat. Aber auch die anderen Großen wie Elly Ameling, Janet Baker, Irene Joachim oder Kiri Te Kanawa.

Nun also präsentiert der Palazzetto die vollständige Sammlung aller Lieder von Reynaldo Hahn in einer 4-CD-Box mit üppigem Beiheft (sogar mit deutschem Text, oh Wunder), gesungen von dem herrlichen griechischen Bass Tassis Christoyannis , der von Jeff Cohen begleitet wird. Man mag nörgeln, dass vielleicht nur eine (wenngleich so schöne) Stimme eintönig wirken kann auf vier CDs, aber dies ist auch eine Studienausgabe, eben alle Lieder Hahns kennen zu lernen. Und da tut sich ein ganzes Universum an Welten auf – vom frechen Chanson des Beobachters bis zum verliebten Schluchzer des Verlassenen. Und wie ein köstliches Nichts sollte man  die Lieder langsam auf sich wirken lassen, ein “baiser d´amour” vielleicht. Nicht umsonst ist ein baiser nicht nur ein Kuss, sondern auch ein süßes Nichts an Schaumgebäck. G. H.

 

Und wer war nun Reynaldo Hahn? Reynaldo Hahn eignet sich hervorragend als Forschungsgegenstand für die Stiftung Palazzetto Bru Zane. Zwar ist sein Name vom Horizont der Musikgeschichte nie ganz verschwunden, dennoch führte er dort nur ein Schattendasein. Obwohl er einige weltbekannte Werke wie Ciboulette, L’Heure exquise und Si mes vers avaient des ailes geschaffen hat und mit Berühmtheiten wie Proust und (der berühmten Schauspielerin) Arletty (“Les enfants du Paradies”)  befreundet war, wird er hartnäckig unterbewertet. Warum?

Er begeisterte die Menschen in den Pariser Salons der Belle Époque mit seinen hinreißenden Liedern, auf die er bis heute reduziert wird und deren Vielseitigkeit und Ausdruckstiefe keine ausreichende

Würdigung erfahren. Die Gesamteinspielung der Lieder von Hahn hat bis zum Jahr 2019 warten müssen, jetzt erscheint sie endlich auf CD und offenbart ihren ganzen Facettenreichtum. Als „Wegbereiter des 20. Jahrhunderts“ faszinierte der Komponist ebenso wie Fauré oder Messager und verwandelte das Fundament des romantischen Erbes von Gounod in eine Moderne, für die auch der Einfluss der Gattung Musical eine Rolle spielte. Es ist keine Übertreibung, wenn man feststellt, dass sein Werkverzeichnis von allem etwas enthält. Er hat ebenso mit Ballett, Operette, Konzertrepertoire, Lied und Oper auf sich aufmerksam gemacht wie mit Kammermusik und Klaviermusik.

Der polyglotte bonvivant: Zunächst lebte die Familie von Reynaldo Hahn in Caracas und ließ sich 1878 in Paris nieder. Die Einführung des jungen Komponisten in die gehobene Gesellschaft wurde durch zahlreiche Kontakte seiner Eltern zu venezolanischen Geschäftsleuten erleichtert. 1885 begann er sein Studium am Pariser Konservatorium, wo er nur mäßigen Erfolg hatte, aber er begegnete dort dem Pianisten Édouard Risler, mit dem er sein Leben lang in regelmäßigem Briefkontakt stand. Seine ersten Erfolge und seine Ausbildung spielten sich außerhalb der Institutionen ab: Als Schüler von Jules Massenet machte Reynaldo Hahn dadurch auf sich aufmerksam, dass er selbst komponierte Lieder interpretierte, insbesondere die Chansons grises und die Études latines. In diesem Umfeld lernte er Stéphante Mallarmé, Edmond de Goncourt, Sarah Bernhardt und Marcel Proust kennen, dessen Geliebter und später enger Freund er wurde. 1912 erhielt Reynaldo Hahn die französische Staatsangehörigkeit und ging 1914 auf eigenen Wunsch an die Front, bevor er 1916 im Kriegsministerium arbeitete.

Operette: Während er zu Beginn des Jahrhunderts an der Opéra-Comique mit seinen Opern L’Île du rêve (1898) und La Carmélite (1902) erfolgreich war, wandte er sich in der Zeit zwischen den Weltkriegen der Operette zu, für deren Genre er neben seinen vielen und köstlichen mélodies in Erinnerung geblieben ist. Dabei wurden die Grenzen seiner Bühnenwerke zum Musical zunehmend fließender. Aus dieser Zeit stammen Ciboulette (1923) und Malvina (1935), Mozart (1935) für die Sopranistin Yvonne Printemps und Ô mon bel inconnu (1933) für die Schauspielerin Arletty (die aus dem Barrault-Film „Die Kinder des Olymp“ auch in Deutschland bekannt ist). Auch Hahns Klaviermusik (zum Beispiel Le Rossignol éperdu, ein zwischen 1899 und 1910 komponierter, umfangreicher Zyklus, und seine beiden Ballette La Fête chez Thérèse (1910) und vor allem Le Dieu bleu verdienen Beachtung. Le Dieu bleu nach einem Libretto von Jean Cocteau und choreografiert von Michel Fokine wurde 1911 von Sergei Djagilew uraufgeführt. Nach 1945 erhielt Reynaldo Hahn endlich öffentliche Anerkennung: Er wurde zum Mitglied der Académie des beaux-arts und zum Direktor der Pariser Opéra ernannt (1945–1946).

Der Charmeur der Pariser Salons: Die Rolle der Salons für das musikalische Leben war bereits nach ihrem Auftauchen gegen Ende des 18. Jahrhunderts wichtig, in der Zeit der Dritten Republik (1870–1940) gewannen sie infolge des Rückzugs des Staates aus der Kulturpolitik noch an Bedeutung.

Adlige und Aristokraten (häufig Frauen, die selbst talentierte Musikerinnen waren) machten aus ihren Salons wichtige Treffpunkte der kulturellen Welt. Angesiedelt zwischen Snobismus und Unterhaltung, waren sie ein Karrieresprungbrett für Komponisten und Interpreten, konnten aber auch das Aus für die Karriere bedeuten. Hier wurden Werke in Auftrag gegeben, vergütet und uraufgeführt.

In seiner Beschreibung des Salons von Madame Verdurin hat Proust ein genaues Bild davon gezeichnet. Auch der Salon von Madame de Saint-Marceaux muss erwähnt werden, die Einfluss auf die Entscheidungen der Académie des beaux-arts hatte, und der Salon der Gräfin Greffulhe, die die Société des grandes auditions finanzierte, außerdem der Salon von Misia Sert, die die Ballets russes unterstützte, und der Salon der Prinzessin de Polignac, die unter anderem bei Fauré, Strawinsky, Satie, de Falla und Poulenc Werke in Auftrag gab und Widmungsträgerin zahlreicher Kompositionen wurde.

Die Salons waren ein soziologisches Phänomen mit direkten Auswirkungen auf das Musikleben in Paris. „Zwischen Salon und Konzert“, erklärt die Schriftstellerin Myriam Chimènes, „entstanden Netzwerke, die einen regen Austausch zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum ermöglichten.“ In diesem Umfeld, in dem eine elitäre Gruppe dem musikalischen Schaffen Auftrieb verlieh, verdiente Reynaldo Hahn seine ersten Sporen und entdeckte das Kammermusikrepertoire seiner Zeit aus erster Hand.

 

Tassis Christoyannis singt auf den vier CDs die mélodies von Reynaldo Hahn, begleitet von Jeff Cohen/ olyrix

Les mélodies: Anhand seiner Lieder kann man zweifellos am besten die unterschiedlichen stilistischen Facetten Reynaldo Hahns erkennen. Besonders offenkundig ist seine von Massenet geerbte Vorliebe für die Romantik. Aber aufgrund der klangvollen Klavierbegleitung und einer Stimmführung, die zuweilen mit der Oper liebäugelt, darf man diesen Komponisten nicht in eine „akademische“ Schublade einordnen. Sein Hang zu Neoklassizismus und Historismus verlieh seinem Stil eine persönliche Note. Hahn, der lange in Versailles wohnte und in einigen seiner Opern dem Stil Lullys eine Hommage erwies, entpuppte sich als großer Anhänger der Alten Musik, die er in einen neuen Kontext stellte. Er eignete sich den Geist von Bach und Couperin an, ohne sie nachzuahmen oder zu zitieren. Die zuweilen bis ins Extrem gesteigerte Schlichtheit erscheint wie eine Brücke zwischen dieser alten Welt und den Debussy-Erfahrungen, denen Hahn sich nicht entziehen konnte.

 

Am Ende dieser Entwicklung hin zur tonalen Ambivalenz steht das Lied „Ma jeunesse“ aus dem Jahr 1918, dem Todesjahr Debussys: Es macht sich frei von jeglichen romantischen Formulierungen und schlägt in eine revolutionäre Atonalität um. Die Aufgeschlossenheit entfernten Klangwelten gegenüber bezieht sich nicht nur auf die Zeit, sondern auch auf die Geografie, wie der märchenhafte Zyklus Venezia oder die Beschwörung des fernen Landes in dem Lied  Au pays musulman“ offenbaren.(Palazzetto)

 

Der Palazzetto hat nun alles Lieder Reynaldo Hahns in einer 4-CD-Ausgabe mit üppigem Booklet und allen Lieder-Texten herausgebracht; Tassis Christoyannis und Jeff Cohen sind die Solisten dieser bemerkenswerten und historisch bedeutsamen  Edition.