Schon längst kein Geheimtipp mehr, vor allem seitdem er für den indisponierten Jonas Kaufmann in London als Énée in Berlioz‘ Troyens einsprang (davon gibt es eine Blu-ray), ist der amerikanische Tenor Bryan Hymel, dessen weitgespanntes Repertoire man nur mit Staunen zur Kenntnis nehmen kann. Die Lösung des Rätsels von so beachtlicher Vielseitigkeit liegt in der einerseits fanfarengleichen, sicheren Höhe, verbunden mit der Fähigkeit zur heldischen Attacke. So kann er vom Duca bis zu den dicken Brocken der französischen Oper alles singen, letzteres jetzt anhand einer CD für den ungläubig Staunenden nachprüfbar. Im klugen Booklet äußert sich der Sänger zu den Partien, die heutzutage kaum noch ein Tenor singen kann, einer der Gründe für die mageren Aufführungszahlen, was diese Werke angeht. So hat der Tenor nicht alle Partien bereits auf der Bühne gesungen, die auf der CD vertreten sind, aber doch
die Mehrzahl davon. Nuancierung und Balance sind dabei die künstlerischen Tugenden, die er erfolgreich anstrebt, obwohl natürlich die stupenden Höhen und das heldische Metall als Erstes ins Ohr fallen.
Die CD beginnt mit der berühmt-berüchtigten Arie des Arnold aus Rossinis Guillaume-Tell-Oper, wie nicht wenige französische Rollen viele Sänger nicht nur wegen der zahlreichen Spitzentöne, sondern auch der hohen Tessitura in Verlegenheit bringend. Hymel meistert das Bravourstück mit perfekter voix mixte und einer geradezu unheimlichen Fermate auf dem Spitzenton. Ein etwas dunkleres, aber immer auch ein Strahlen lässt er dem Preisen der Natur durch Berlioz‘ Damnation de Faust angedeihen, dessen hymnischen Ton er perfekt trifft und für den er einen bemerkenswert langen Atem hat. Grandios ist die Steigerung am Schluss der Arie. In den Lombardi als Oronte bekannt, dessen Arie gern auch in Recitals Eingang findet, ist die französische Fassung als Jérusalem mit einem Gaston bedacht, der einen fulminanten Spitzenton singt und dessen Tiefe ebenfalls angenehm ausgeprägt ist. Er klingt insgesamt etwas weicher als sein italienischer Zwilling. Ebenfalls aus der französischen Fassung einer Verdi-Oper ist die Arie des Henri (in Italien Arrigo) aus den Vêpres Siciliennes, in dem Hymel ein Rezitativ von schöner Nachdenklichkeit, sehr intim klingend, anbietet, auch in der Arie nicht die große tragische vokale Geste wählt und mit einem ungewohnten Spitzenton am Ende überrascht. Natürlich fehlt der Énée nicht, ist mit der großen Arie vor der Abreise nach L’Italie vertreten. In einem schönen, lyrisch gehaltenen ersten Teil wird der Zwiespalt, in dem der Held sich befindet, sehr deutlich, zärtlich klingt „Ah! Quand viendra l’istant“, variationsreich wird la „reine adorée“ besungen.
Des Titels der CD wahrlich würdig ist die Arie des Adoniram aus Gounods Reine de Saba, auch sie von einem langen Spitzenton gekrönt und im zweiten Teil zu lyrisch Geschmeidigem findend. Aus Meyerbeers Africaine gibt es nicht nur die Bravourarie, sondern auch die anschließende Szene mit Chor zu hören, eine farbige mezza voce erfreut ebenso wie das heldische „Ah, marchons“, nämlich dem Tode entgegen. Opernhäuser, die den Komponisten würdigen wollen, sollten sich diese Stimme nicht entgehen lassen. Lange auf einem Atem wird die Arie des Jean aus Massenets Hérodiade gesungen, lange Phrasen strahlen eine große Ruhe aus, machtvoll wird le Seigneur angerufen. Ernest Reyer, der ohne das Wissen um den Ring an einer Nibelungenoper arbeitete, steuert die Arie des Sigurd bei. Interessant sind die Bläserbegleitung und der dunkle Orchesterklang für die Waldszene im 2. Akt („Salut splendeur du Jour“). Emile Zola zählt zu den Librettisten von Bruneaus L’Attaque du moulin, in dieser recht wagnernahen Musik kann die Stimme ihre ganze Fülle entfalten. Den Abschluss bildet die Arie des Gaspard aus Rabauds Rolande et le mauvais garcon, aus der der Sänger eine leidenschaftlich Hymne auf „l’amour“ gewählt hat,“ j’aime“ in vielen Variationen singt und den Hörer staunen lässt, wieviel schöne, aber unbekannte Musik es zu entdecken gibt. Das Prague Philharmonia (Orchestra) hat in Emmanuel Villaume einen Dirigenten gefunden, der sie stilsicher durch das wenig vertraute Repertoire führt (Warner Classics 0825646179503).
Ingrid Wanja