Venezianische Stimmungsbilder

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Teatro Sant’Angelo nennt sich eine neue Platte bei ALPHA mit der französischen Mezzosopranistin Adèle Charvet (938). Der Titel bezieht sich auf das legendäre Opernhaus in Venedig, welches sich nach seiner Gründung 1677 zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus einer Vielzahl von Theatern in der Lagunenstadt zu profilieren vermochte als preiswertes, alternatives Haus für Jedermann und damit einen deutlichen Kontrast herstellte zum aristokratischen Teatro San Giovanni Grisostomo, wo sich der venezianische Adel versammelte.
Die Sänger waren weitgehend jung und unbekannt. Kastraten fehlten fast völlig wegen ihrer hohen Gagen. Es wurden auch Tänzer, Schauspieler, Artisten und Zauberer engagiert, die in den Pausen und bei Szenenwechseln auftraten. Als Impresario fungierte Antonio Vivaldi, dessen Opern ab 1705 regelmäßig aufgeführt wurden und den Aufschwung des Unternehmens bewirkten. Im Programm der CD mit 17 Titeln sind dem prete rosso nicht weniger als sechs gewidmet, darunter finden sich sogar zwei Weltersteinspielungen. Erstere, die Arie „Ah non so“, stammt aus Arsilda, regina di Ponto, die 1716 im Sant’Angelo uraufgeführt wurde. In diesem Stück von schmerzlichem Zuschnitt kann Adèle Charvet vor allem ihr Ausdruckspotential einbringen, wenn sie auch larmoyante Momente nicht vermeiden kann. Zweite Neuheit ist die Arie „Quella bianca“ aus L’Incoronazione di Dario, die 1717 im Sant’Angelo ihre Premiere erlebte – ein munteres, übermütiges Stück, in welchem die Sängerin keck und ausgelassen auftrumpft.
Die weiteren Zeugnisse aus der Feder Vivaldis sind die Arien „Siam Navi“ aus L’Olimpiade (bekannt und von virtuosem Anspruch) und „Sovvente il sole“ aus Andromeda liberata (in wiegendem Duktus und von sanftem Ausdruck). Danach gibt es noch zwei Arien aus La verità in cimento. „Con più diletto“ ist mit seinen Koloraturgirlanden eine Herausforderung an das virtuose Vermögen der Interpretin und „Tu m’offendi“ im Kontrast dazu getragen und von empfindsamem Melos.
Vivaldi lud auch Komponisten seiner Zeit ein, ihre Werke am Sant’Angelo zu präsentieren. Dazu zählten Fortunato Chelleri und Giovanni Alberto Ristori. Von ersterem erklingen zwei Titel als Weltpremieren – die Arien „Astri aversi“ (stürmisch und bravourös) und „La navicella“ (lyrisch-emphatisch) aus Amalasunta. Ristori ist sogar mit sechs Arien aus insgesamt vier verschiedenen Werken vertreten. Drei stammen als Erstaufnahmen aus seiner Cleonice und sind in ihrer Anlage höchst unterschiedlich. „Con favella de’ pianti“ ist von getragenem Duktus und klagendem Ausdruck, „Quel pianto che vedi“ bewegt und virtuos, „Qual crudo vivere“ wiegend und sanft. Aus Un pazzo ne fa cento erklingt die Arie „Su robusti“ als Ersteinspielung, welche die Solistin beherzt und pointiert bietet. Aus Temistocle ist ebenfalls als Premiere die Arie „Astri rimorsi“ zu hören, in welcher der Mezzo besonders apart und volltönend klingt. Auch die lieblich-sanfte Arie „Nell’onda chiara“ aus Arianna ist erstmals auf CD eingespielt.
Einige Werke von Verwandten Vivaldis waren ebenfalls im Spielplan anzutreffen, wie Michelangelo Gasparini, dessen Arie „Il mio crudele amor“ aus Rodomonte sdegnato das Programm eröffnet und der Solistin einen klangvollen Einstieg ermöglicht, oder Giovanni Porta, dessen „Patrona reverita“ aus Arie Nove da Batello als sanfter Ausklang am Ende steht.
Die Solistin wird begleitet vom Ensemble Le Consort, das der Geiger Théotime Langlois de Swarte leitet. Neben der inspirierenden Begleitung der Sängerin kann es im Adagio aus Chelleris Trio-Sonate g-Moll auch solistisch wirken (08. 06. 23). Bernd Hoppe