Bernius dirigiert Schuberts Lazarus, das Linos Ensemble bringt die Kammerfassung vom Lied von der Erde, Anspruchsvolles mit Marie-Nicole Lemieux und Christianne Stotijn!
Ein Oratorium von Schubert? Erst 1863 wurde Franz Schuberts einziges Oratorium Lazarus in Wien im Zug eines Schubert-Fiebers, das Stadt erfasst hatte, die sich plötzlich der Modernität des Komponisten bewusst wurde, erstmals aufgeführt. Auch Johannes Brahms zeigte sich davon ergriffen: „Schubert, bei dem man die Empfindung hat, als lebte er noch!… Immer neue Werke sieht man, von deren Existenz man nichts wusste, und die unberührt sind… Das Manuskript des Lazarus … liegt auch, wie viele andere, bei mir und sieht aus, als wäre es gestern geschrieben. Nebenbei gesagt wird das Werk morgen (40 Jahre nach der Entstehung) zum ersten Mal aufgeführt“. Rätselhaft bleiben die Hintergründe der Entstehung: warum griff Schubert 1820 zu einem mehr als 40 Jahre alten Libretto des protestantischen Dichter-Theologen Niemeyer aus Halle, obwohl im katholischen Wien Oratorienaufführungen verboten waren, und warum bricht die Komposition vor der Auferweckungsszene ab; nachzulesen im Beiheft zur Carus-Aufnahme (83 293), die als Mitschnitt eines Konzerts des Kammerchors Stuttgart und der Hofkapelle Stuttgart unter Frieder Bernius im Rahmen des Leipziger Bachfestes am 18. Juni 2013 in der Nicolaikirche entstand. Im gleichen Jahr inszenierte übrigens Claus Guth den Lazarus im Theater an der Wien. Es ist eine schöne Musik, die unter der behutsam souveränen, stilistisch einfühlsamen Leitung von Bernius erklingt, mit Rezitativen, die wie eine arios gesteigerte Rede wirken und die verstehen lassen, weshalb Zeitgenossen das Werk als Zukunftsmusik à la List und Wagner verstanden. Keine Choräle, nur zwei Chöre. Die neutestamentarische Geschichte von der Auferweckung des Lazarus durch Jesus erinnert deshalb ein wenig an ein biedermeierliches Singspiel, etwa die ebenfalls aus dem Jahr 1820 stammenden Zwillingsbrüder – und wie in Schuberts Opern fehlt der dramatische Funken. Außer Lazarus begegnen wir seinen beiden Schwestern Maria und Martha und seinen Freunden Jemina, Nathanael und Simon, die sich in lyrisch reichen, melismensüßen Reden abwechseln.
Neben dem ausdrucksvollen Tenor von Andreas Weller als Lazarus und dem recht ähnlich klingenden Tenor von Tilman Lichdi als Nathanael tragen Sarah Wegener und Johanna Winkel als Schwestern sowie die Mezzosopranistin Sophie Harmsen als Jemina und der Bassist Tobias Berndt als Simon zum geschlossenen Eindruck der Rarität bei, die Frieder Bernius ohne falsche dramatische Akzente vorstellt; der ausgezeichnete Bernius-Chor wird in diesem Oratorium, wie angedeutet, nicht über Gebühr beansprucht (Carus 83.293/00).
Gewöhnungsbedürftig zumindest ist die „abgespeckte“ Version von Mahlers Das Lied von der Erde, die das Linos Ensemble im Dezember 2008 im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in Köln unter dem Etikett „Verein für musikalische Privataufführungen“ aufnahm (Capriccio C 5136). Die Geschichte von Arnold Schönbergs 1918 gegründetem Verein, der während seines dreijährigen Bestehens in 117 Konzerten die damalige Moderne vorstellte, referiert Christian Heindl im Beiheft der Aufnahme. Zu den Programmen gehörten auch Kammermusikfassungen von Orchesterwerken, beispielsweise Schönbergs Fassungen von einigen Sinfonien Mahlers sowie der Lieder eines fahrenden Gesellen. Schönbergs 1921 begonnene, aber abgebrochene Bearbeitung von Das Lied von der Erde für 14 Instrumentalisten beendete erst in den 1980er Jahren der Komponist und Musikwissenschaftler Rainer Riehn. Gewiss, man muss sich einhören, um in dem klanglich schmalen Rest Mahlers Farbigkeit und orchestrale Kuppel zu ahnen, was durchaus reizvoll und faszinierend sein kann und sich zunehmend plausibel erschließt, denn viele Details kommen nun ganz anders zum Vorschein, die Tempi sind verblüffend, allerdings fördern die Solisten nicht unbedingt unsere Entdeckungslust.
Die Zeittafel auf der ersten Seite ihres neuen Recitals zeigt es auf einen Blick: alle 23 Titel, die Marie-Nicole Lemieux als Chansons perpétuelles in Anlehnung an Chaussons Chanson perpétuelle aufgenommen hat (naïve V 5355), stammen aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts: Rachmaninoffs Sechs Romanzen, Wolfs Italienisches Liederbuch (Lemieux hat immer nur einige Beispiele
eingespielt), Faurés Cinq Mélodies de Venise, die Trois Poèmes von Guillaume Lekeu (1870-94) – der sicherlich der Unbekannteste ist – aus den Cinq Mélodies op. 5 und Sept Rondels op. 8 von Koechlin und schließlich Chausson. „Je suis une récitaliste“ bzw. „I am a recitalist“ bekennt die kanadische Altistin im franz.-engl. Beieft und erklärt ihre kluge Programmgestaltung. Allerdings wirkt die Abfolge auch etwas ermüdend, und der weichgepolsterte Samtklang der Lemieux trägt ebenfalls dazu bei, dass man in diesen leisen und weitgespannten Klängen wie in einem ausgeleierten Sofa hinter Samtvorhängen versinkt. Da kommen dann die zupackender, kräftig und vollstimmigen gesungen Rachmaninoff-Lieder und die spritzigen Koechlin-Lieder („La pêche“) gerade rechtzeitig, um uns wieder aufzurütteln. Die Wolf-Beispiele klingen eigenwillig, wenn nicht unschön. Die Lekeu- und Chausson-Lieder werden vom einem Klavierquintett begleitet, wobei der ganz und gar vorsichtige Roger Vignoles Unterstützung durch das Quatuor Psophos erhält.
„Most people know of the owl as a symbol of wishdom. To me, the owl calls up philosophical ideas as well: philisophical recognitation of nature, of where we come from“, sagt die niederländische Mezzosopranistin Christianne Stotijn, die ihrem originellen und hochanspruchsvollen If the owl calls again–Album den Titel eines Gedichts des 2011 gestorbenen amerikanischen Dichters John Haines unterlegte und uns auf ihrer von Joseph Marx über Mussorgsky, Frank Martin, André Caplet, Ravel, Maurice Delage und Frank Bridge bis zu dem Zeitgenossen Fant De Kanter reichenden Sammlung bei Warner Classics (5054196393755) mit geschlossenen Augen und einer Eule entgegentritt als sei sie gerade aus ihrem Hexenhäuschen gekommen (Joseph Breindl, Oliver Boekhoorn, Rick Stotijen, Toon Fret, Antoine Tamestit sind die Begleiter). Als Zauberin, Magierin und hexenhafte Verkleidungskünstlerin, stimmliche Extreme und peinigende Töne nicht scheuend, deren Flut gleichwohl ermattet, durchschreitet Stotijn das gewaltige und anspruchsvolle Pensum, bei dem sie von wechselnden Besetzungen begleitet wird, mit leuchtenden Sopran- und grundigen Mezzotönen. Da sind viele Entdeckungen dabei, darunter die Quatre Poèmes Hindous von Delage, das von der armenischen Duduk begleitete Kaddisj von Ravel, oder die Trois Chants de Noël von Martin. Rolf Fath