Ruhm, der nicht vergeht. Achtzehn Jahre ist Sergiu Celibidache nun schon tot, und immer mehr Aufnahmen drängen auf den Markt, so, als würde er noch leben. Würde er, gäbe es jedoch nichts, denn der Maestro verabscheute bekanntlich Konserven. Musik musste im Moment entstehen mit allen Unwägbarkeiten. Und da er diese nach Möglichkeit ausschließen wollte, probte er intensiv und zeitaufwändig. Seine Aufführungen hatten den Status des Endgültigen. Nach den wenigen Konzerten, die ich mit ihm erlebte, war ich felsenfest überzeugt: So und nicht anders! Ich werde diese Abende nie vergessen, sie sind mir maßstabsetzend ins Gedächtnis eingebrannt. In seiner Magie war er beschwörend wie ein alttestamentarischer Prophet. Obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, dass man ihn auch sehen musste beim Dirigieren, das auch ein Zelebrieren war, bleibt bei den reinen Tondokumenten nicht die Wahl. Sie sind auch ohne bewegtes Bild bezwingend genug.
Das Label audite nimmt sich des Andenkens von Celibidache nun bereits mit der zweiten Edition an: The Berliner Recordings 1945-1957 auf zwölf CDs und einer Bonus-DVD (21.423).
Zusammengenommen mit der vor drei Jahren erfolgten Veröffentlichung aller RIAS-Einspielungen aus dem gleichen Zeitraum ist das ein gewaltiger Brocken. Allein deshalb ein Brocken, weil Celibidache nicht nur Brahms, Haydn und Mozart dirigiert, sondern Komponisten auf seine Programme setzt, die während des Nationalsozialismus verpönt oder gleich verboten waren. Einer von ihnen ist Günter Raphael, der einst die Nachfolge des Thomaskantors Karl Straube antreten sollte, als Halbjude jedoch mit totalem Berufsverbot belegt wurde. Nach Kriegsende konnte er dieses Amt aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr antreten. Er starb 1960 in Köln, ist aber in Meiningen begraben, wo seiner gedacht wird. Raphaels expressive 4. Sinfonie ist erst 1947 entstanden. Darin überwindet er seinen an Brahms orientierten spätromantischen Stil. Der langsame Satz erinnert stark an den Beginn von Bartóks Blaubart, im Finale gibt es gar folkloristische Anklänge.
Seinen Lehrer Heinz Thiessen, der mit den Nationalsozialisten auf Kriegsfuß stand und ebenfalls nicht aufgeführt wurde, ehrt Celibidache mit der Einspielung dessen bedrückend-wuchtigem Vorspiel zu einem Revolutionsdrama, in dem die Tell-Ouvertüre von Rossini wie eine Kampfansage zitiert wird.
Schließlich galt es in den Trümmern des zerstörten Berlin auch Felix Mendelssohn Bartholdy neu zu entdecken. Seine 4. Sinfonie, die „Italienische“, eröffnet, gefolgt von der Melusinen-Ouvertüre, zu Recht die gesamte Edition.
Beim Studium der Titelliste fällt eine Art Vier-Mächte-Status auf. Es scheint, als hätten die Sieger über Hitlerdeutschland, nämlich Sowjetunion, USA, England und Frankreich, im Hintergrund an der Programmgestaltung mitgewirkt. Nahe liegt es. Schließlich hatten sie bei der Wiederbelebung des kulturellen Lebens die Fäden in der Hand und das letzte Wort. Celibidache dürfte damit kein Problem gehabt haben. Er war politisch unbelastet und wurde nicht von ungefähr gleich 1945 Nachfolger des in den Nationalsozialismus verstrickten Wilhelm Furtwängler am Pult der Berliner Philharmoniker. Dmitri Shostakovich ist mit seiner 9. Sinfonie vertreten, Sergei Prokofiev mit der Ersten und der Orchestersuite Nummer 2 aus dem Ballett Romeo und Julia. Unbekannte für das Berliner Publikum waren César Gui, der gebürtige Franzose, den es nach Russland verschlagen hatte, mit seiner 3. Suite „In mondo populari“, und der Russe Rheinhold Glière mit seinem Konzert für Koloratursopran, in dem sich die tüchtige Erna Berger der halsbrecherischen Vokalisen annahm.
Die USA repräsentieren Aaron Copland mit der Konzertversion seines Ballet for Martha Graham, Edward MacDowell mit der Romanze für Violincello und Orchester, Walter Piston mit seiner 2. Sinfonie sowie Samuel Barber mit Capricorn Concerto for flute, oboe, trumpet and string orchestra. Aus England stammen die Sinfonia da Requiem von Benjamin Britten nebst einer Suite aus Henry Purcells Oper King Arthur, die für unsere heutigen barockmusikerprobten Ohren viel zu dick aufgetragen wirkt.
Frankreich, der einstige Erzfeind, ist auffallend oft vertreten, als sei für Celibidache die Aussöhnung mit diesem Land eine Voraussetzung für das Fortbestehen Deutschlands nach dem verlorenen Krieg gewesen. Das war weitsichtig und weise.
Es ist auch kein Zufall, dass er, der umtriebige Weltbürger, in Frankreich schließlich seine letzte Heimat und Ruhe fand. Zu hören ist Berlioz mit der Fantasy-Ouvertüre Romeo et Juliette und dem Römischen Carneval, Bizet mit seiner 1. Sinfonie, Debussy mit La mer und Milhaud mit seiner Suite francaise. Sogar die Arie „Sieh, mein Herz erschließet sich“ aus Saint-Saens` Samson und Dalilah mit Margarete Klose wurde eingespielt – sehr pastos, wie von dieser Altistin gewöhnt, und in deutscher Sprache.
Das ist nicht der einzige Auftritt der Klose. Sie ist auch in der „deutschen Abteilung“ mit Liedern von Hugo Wolf tätig, die der Komponist selbst orchestriert hatte. Wolf konterkariert sich damit selbst. Seine in der Anlage feinziselierten Lieder drohen mitunter in der Fülle des Orchesters unterzugehen und sich damit selbst zu zerstören. Die Klose ist zu üppig für Wolf, vermag den Liedern – darunter „Anakreons Grab“, „Über Nacht“, „Denk‘ es, o Seele“ und“ Gesang Weylas“ – aber dennoch sehr viel Ausdruck abzugewinnen. Sie weiß auf ihre Art zu fesseln. Ich habe ihr gern und mit großer Anteilnahme zugehört und halte diese Lieder für den spektakulärsten Fund dieser Ausgrabungen durch audite. Es fehlen auch guten alten Bekannten nicht in dieser Edition, in diesem Falle Brahms (4. Sinfonie), Strauss (Till Eulenspiegel), Beethoven (7. Sinfonie und Leonoren-Ouvertüre 3) Haydn (94. und 104. Sinfonie) und Mozart (5. Violinkonzert).
Celibidache blieb in Berlin nicht viel Zeit. Die Philharmoniker entschieden sich 1952 für Herbert von Karajan und damit gegen Celibidache. Bezeichnenderweise ist das letzte Berliner Konzert der Edition ein Fragment. Vom Konzert mit dem Deutschen Sinfonie-Orchester 1957 im Titania-Palast haben sich nur Teile der 7. Sinfonie von Beethoven erhalten. Erst 1992 kehrte er für ein Benefizkonzert zurück. Da war Karajan längst gestorben. Was, wenn er damals doch hätte bleiben können? Die Geschichte des berühmten Orchesters wäre fortan gewiss anders verlaufen. Die ersten Jahre nach der Stunde Null in Deutschland waren kulturell wirklich ein Neuanfang. So radikal wie furios. Davon kommt einem vieles aus der Edition entgegen.
Nicht ausschließlich die Philharmoniker kommen in dieser Sammlung zum Zug. Celibidache hat auch mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und dem RIAS-Symphonieorchester, aus dem 1956 das Radio-Symphonie-Orchester Berlin hervorging, gearbeitet. Bei der Tonqualität darf man angesichts des Alters und der Umstände der Aufnahmen keine Wunder erwarten. Es gibt auch hier und da kleine Fehlstellen. Solche Einschränkungen habe ich gern in Kauf genommen, sie können dem künstlerischen rang des Unternehmens nichts anhaben. Hervorzuheben ist auch die hohe Qualität des ausführlichen Textheftes mit dem zentralen Beitrag von Christoph Schlüren. (Das große Foto oben wurde uns freundlicherweise von audite zur Verfügung gestellt.)
Rüdiger Winter