Die Konkurrenz schläft nicht. Der Lied-Sektor ist umkämpft. Christian Immler singt Schumanns neunteiligen Liederkreis op. 24, James Gilchrist neben op. 24 auch den Liederkreis op. 39 und Dichterliebe op. 48, Sebastian Noack ebenfalls den Liederkreis op. 24 und die Dichterliebe op. 48 nach Abschnitten aus Heines Buch der Lieder, dazu Belsazar op. 57 und je zwei Lieder aus den Fünf Liedern und Gesängen op. 127 und Vier Gesänge op. 142. Der deutsche Bariton Immler (*1971) hat sich unter dem Titel Im schönen Strome ein beziehungsreiches Heine-Programm erarbeitet, wie man es gerne in einem Liederabend erleben würde: Im September 2014 kombinierte er Schumanns ersten Zyklus aus dem Lieder-Jahr 1840/41 mit Liedern von Robert Franz, die er aus diversen Sammlungen zu 15 Liedern Verfehlte Liebe und acht Liedern Mit schwarzen Segeln bündelte und durch fünf Lieder von Franz Liszt ergänzte (Bis 2143 SACD, frz., dt., engl. Beiheft plus engl. und dt. Liedtexte). Geschickt umschnürt wird diese Auswahl durch den Rhein, der als Sehnsuchtsmotiv der deutschen Romantik, in allen Lied-Gruppen bis hin zum Aufnahmeort in der Basler Musik-Akademie aufscheint. Immler, Gesangsprofessor in Lausanne/ Fribourg, ist ein kundiger Lied- und Konzertsänger, der sich Gedanken bei der Musikauswahl gemacht hat und uns seine Entdeckungen und die wechselseitigen Beziehungen vermittelt, er singt textdeutlich, klar, fast ein wenig zurückhaltend, doch sein spröder, etwas grobkörniger Bariton entfaltet unaufdringlichen Charme, fein reagiert er zwischen sprechsingender Schlichtheit und ariosen Aufschwüngen auf die Texte, deren Vorrang bei Schumanns fünf Jahre jüngerem Kollegen Franz unangetastet bleibt. Pianist Georges Starobinski ist ihm ein Begleiter, der sich bei Franz bescheiden muss, aber bei Schumann (etwa „Mit Myrten und Rosen“) durch pianistische Bravour aufhorchen lässt.
Der u.a. von Dietrich Fischer-Dieskau ausgebildete Noack (*1969), ebenfalls vornehmlich Lied- und Konzertsänger und Professor an der Hanns-Eisler-Schule, führt gemeinsam mit Manuel Lange mit einem informativen Text Über die Transponierung von Robert Schumann Liedzyklen in beider Schumann-Heine Programm ein, das sie im Herbst 2012 in Berlin, wo beide die Reihe Meisterlied gründeten, für Oehms Classics festhielten (OC 1816, dt., engl. Beiheft, dt. Liedtexte). Klug und überlegt, in einer gelungenen Mischung aus Intellektualität und empfindsamer Gedicht-Vergegenwärtigung nimmt Noack in op. 24 rasch gefangen („Ich wandelte unter Bäumen“); sein lyrischer Bariton verfügt über
einen eleganten Glanz, kommt im schwärmerischen Piano verführerisch zu Geltung („Im wunderschönen Monat Mai“… „die Liebe aufgegangen“), während sich der schöne Klang in leidenschaftlichen, stärker akzentuieren Passagen und im Forte ein wenig verhärtet, aber (in der Dichterliebe „Ich grolle nicht“, „Das ist ein Flöten und Geigen“) mitreißende Kraft besitzt; Textklarheit und lyrische Geschmeidigkeit werden durch Manuel Langes fabelhafte Begleitung getragen.
Der englische Tenor Gilchrist (*1966) ist sicherlich ein erfahrener Liedinterpret, doch sein 2014 eingespieltes Schumann-Programm (Linn CKD 474, dt. und engl. Beiheft und Liedtexte) verwöhnt nicht eben durch Schönklang. Zwar reizt er die dynamischen Möglichkeiten aus, doch Gilchrists Tenor wird im Forte flackernd und grell, gerät bei Druck ins Schlingern („Ich grolle nicht“), verschwimmt im Piano in ein spitz bebendes und unstetes Singen („Mondnacht“). Trotz der behutsamen Begleitung durch Anna Tilbrook, die das Grau in Grau nicht aufhellen kann, scheint mir hier die Konkurrenz doch übergroß.
Diese braucht die in Berlin ausgebildete Erfurterin Bettina Pahn bei ihrem Programm mit Liedern der zweiten „Berliner Liedschule“ aus den letzten beiden Jahrzehnten des 18. und dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht fürchten. Unter dem Titel Es war ein König von Thule hat sie sich im September 2014 für Naxos (8.551311, dt. Beiheft, Liedtexte unter www.bettinapahn.com) mit ihrer sie auf dem Hammerklavier begleitenden Partnerin Tini Mathot, die zudem Werke für Hammerflügel solo von Carl Philipp Emanuel Bach spielt, auf einen musikhistorisch interessanten Berliner Spaziergang begeben und Lieder von Carl Friedrich Zelter, Friedrich Reichardt und dessen Tochter Luise, Johann Abraham Peter Schulz und Friedrich Wilhelm Rust eingesammelt. Die von der Berliner Liederschule angestoßene Entwicklung des deutschen Kunstliedes wird durch so volkstümliche schlichte Lieder wie „Der Mond ist aufgegangen“ von Schulz, dem „König von Thule“ und den Mignon-Lieder („Kennst du das Land“, „Heiß mich nicht reden“, „Nur wer die Sehnsucht kennt“) des um größtmögliche Textausdeutung bemühten Goethe-Freundes Zelter, „Der Abend“ des Dessauer Hofmusikdirektors und ebenfalls von Goethe favorisierten Rust oder „Das Veilchen“ des schier unerschöpflich schaffensfreudigen Lied-Komponisten Reichardt trefflich illustriert. Die zumeist durch Vertonungen Schuberts bekannten Goethe-Gedichte erklingen hier in kompositorisch zurückhaltenden Adaptionen, denen die Sopranistin, deren Stimme nicht immer vorteilhaft eingefangen scheint, durch eine schlichte, dezente, ruhige Aneignung und geschmackvolle Wiedergabe Farbe verleiht. Rolf Fath