Schuberts „Winterreise“ und „Schwanengesang“ mit Aksel Schiøtz? Wahnsinn! Die Freude währt nicht lange, denn spätestens beim Öffnen der Box wird klar: Mit Schiøtz gibt es doch „nur“ die „Müllerin“, die „Winterreise“ wird von Dietrich Fischer-Dieskau gesungen, „Schwanengesang“ von Hans Hotter. Auf der Rückseite der Box hatte sich ein Druckfehler eingeschlichen. In allen drei Fällen sitzt Gerald Moore am Klavier. Ihm allein, dem König der Klavierbegleiter, ist diese Edition von Membran (LC 12281) gewidmet. Das ist eine überfällige Würdigung. Der Engländer Moore (1899-1987) hat seine Berühmtheit ausschließlich auf diesem Platz gemacht. Sein Wirken ist für immer mit den Karrieren von Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Janet Baker, Victoria de los Angeles, Dietrich Fischer-Dieskau, Hans Hotter und eben Schiøtz verbunden. Das war die große Zeit der Langspielplatte. Er waltete aber bereits am Flügel, als Kirsten Flagstad, Maggie Teyte, Kathleen Ferrier und Julius Patzak noch ins Studio gingen. Sein Name prangte schon in den dreißiger Jahren auf den Liederausgaben der von Walter Legge initiierten Hugo-Wolf-Society – als Pianist von Alexander Kipnis, Herbert Janssen und Karl Erb. Wie selbstverständlich ist Moore an einer der berühmtesten Liedproduktionen der Schallplattengeschichte begleitend beteiligt – nämlich Wolfs „Feuerreiter“ mit Helge Roswaenge von 1937.
Moore war der Pianist dreier Sängergenerationen. Allein darin erlangte er Einmaligkeit. Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ schrieb anlässlich seines Todes sehr treffend: “Er adelte den Job des Klavierbegleiters, unter Verzicht auf eine Solistenkarriere, zu einer eigenständigen Kunst und erspielte dem Mann am Klavier ein bis dahin unbekanntes Maß an künstlerischer Mitbestimmung: Von ihm begleitet zu werden bedeutete den interpretatorischen Ritterschlag.“ Die Edition fängt große Momente im Schaffen von Moore ein. Dazu gehören Brahms-Lieder mit der Ludwig, üppig, dunkel und geheimnisvoll ausgebreitet. Schöner geht es nicht. Oder der Mozart mit Irmgard Seefried von 1950, als deren Stimme noch völlig intakt gewesen ist. Sind diese Lieder je leichter, schlichter und inniger gesungen worden?
Sollte ich mich für eine Aufnahme entscheiden müssen, meine Wahl fiele auf den „Liederkreis“ op. 39 mit Fischer-Dieskau, der 1954 eingespielt wurde. Es ist, als würden sich der junge Sänger und sein erfahrener Pianist auf die Suche nach dem tieferen Sinn dieser Gedichte von Eichendorff begeben, denen Schumann musikalischen Ausdruck verlieh. Was sie finden ist deutsche Romantik in ihrer schönsten Ausprägung. Mit Enrique Granados, Jusús Guridi und Amadeo Vives gelangen durch die Angeles spanische Komponisten aufs Konzertprogramm. Moore legt seinen Part so souverän hin, als hätte er nie etwas anderes gespielt. Es gibt keine sensationellen Ausgraben in dieser Sammlungen, alle Titel sind auch in anderen Kompilationen verbreitet worden. Das Besondere ist, dass diesmal der Mann im Hintergrund nach vorn rückt.
Rüdiger Winter