Imaginärer Diven-Krieg

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Regelmäßig arbeitet das französische Label ALPHA CLASSICS mit den Sopranistinnen Véronique Gens und Sandrine Piau zusammen. Jüngstes Zeugnis ist ein Album mit beiden Sängerinnen, das im Juni des vergangenen Jahres in der Abbaye de Saint-Michel-en-Thiérache aufgenommen wurde (824). Das Programm ist mit Rivales betitelt und offeriert Airs et Duos d’Opéras et d’Opéras-comiques français. Es stellt eine Hommage an zwei legendäre französische Gesangskünstlerinnen dar, die beide Mitte des 18. Jahrhunderts geboren wurden und Triumphe in Paris und am Hofe Ludwig XIV. feierten. Madame Saint.Huberty und Madame Dugazon sind sich auf der Bühne wahrscheinlich nicht begegnet. Erstere besaß eine dramatische, zum Mezzo tendierende Stimme, die sie für Partien von Gluck, Piccinni und Cherubini prädestinierte. Sie liebte das Pathos und die majestätische Gebärde. Ganz gegensätzlich präsentierte sich die andere Diva, war lyrisch leicht und zart, war Schäferin und naive Jugendliche. Unschwer zu erraten, dass auf der CD Véronique Gens das Fach der Saint.Huberty übernimmt, während Sandrine Piau die Dugazon vertritt. Begleitet werden beide von Le Concert de la Loge unter Julien Chauvin, der gemeinsam mit Benoît Dratwicki vom Centre de Musique Baroque de Versailles das Konzept des Albums erstellt hatte. Darin finden sich nicht weniger als acht Weltersteinspielungen, was zum hohen Wert der Veröffentlichung beiträgt.

Sandrine Piau eröffnet das Programm mit dem Air „Où suis-je?“ aus La Belle Arsène von Pierre-Alexandre Monsigny. 1773 feierte die Dugazon in diesem Werk große Erfolge. Mit aufgewühltem Toben wird die Nummer eingeleitet und Piau nimmt diese Stimmung mit erregter Stimmgebung auf. Schon in diesem ersten Titel ist die Wandlung ihrer Stimme hin zum Dramatischen deutlich hörbar. Ihr folgt Véronique Gens mit der Scène „Mais, Thésée est absent“ der Titelheldin in Ariane dans l’île de Naxos von Jean-Frédéric Edelmann, in der die Saint-Huberty 1782 triumphierte. Das ist der  leidenschaftliche Ausbruch einer verlassenen Frau, von der Solistin beeindruckend gestaltet und vom Orchester aufregend untermalt. Danach gibt es das erste Duett mit beiden Sopranen zu hören – „Me infelice! Che intendo?“ aus Johann Christian Bachs La clemenza di Scipione. Es beweist, wie harmonisch sich die beiden Soprane, die ohnehin eine gewisse Ähnlichkeit im Klang aufweisen, mischen.

Im Folgenden wechseln die Sängerinnen mit ihren Airs einander ab. Piau singt mit leuchtender Höhe und bohrender Intensität das Air des Sesto, „Se mai senti“, aus Glucks La clemenza di Tito, das im Melos der Iphigénie ähnelt und in der die Dugazon reüssierte, wie auch als Pauline in Fanny Morna von Louis-Luc Loiseau de Persuis. Piau ist mit deren Air „Ô divinité tutélaire“ zu hören. Nach einem ausgedehnten dramatischen Vorspiel beginnt dieses mit gesprochenem Text ganz in der Tradition der opéra comique, bis sich das Air kantabel aufschwingt. Einen ihrer ersten Erfolge feierte Dugazon in der weiblichen Titelrolle von André-Ernest-Modeste Grétrys Oper Aucassin et Nicolette, aus der Piau das Air „Cher objet de ma pensée“ hören lässt und dabei mit ihrem Ausdruck zu berühren vermag.

Gens präsentiert das bekannteste Stück der Anthologie – Alcestes „Divinités du Styx“ aus Glucks Oper, in der Saint-Huberty brillierte. Die Interpretation der vielen illustren Vorgängerinnen kann Gens mit der ihren natürlich nicht vergessen machen, doch wartet sie gleichermaßen mit Schlichtheit wie grandeur auf und bietet einen soliden Vortrag. Saint-Huberty übernahm auch die Rolle der Rosette in der Uraufführung von Grétrys L’Embarras des richesses 1782. In  deren Air „Dés notre enfance“ kann Gens mit ihrer reizvollen Mittellage betören. Aufsehen erregend war der Triumph der Saint-Huberty als Armide in Antonio Sacchinis Renaud 1782, weil sie die Partie einer Rivalin wegnahm, die  sich daraufhin von der Bühne zurückzog. Mit dem Air „Barbare Amour“ gelingt Gens das  leidenschaftliche Porträt einer liebenden Frau.

Schließlich sind beide Sängerinnen noch in zwei weiteren Duetten zu hören. Aus Luigi Cherubinis Démophon (1788 mit Saint-Huberty als Dircé) gibt es die Scène Dircé/Ircile „Un moment. À làutel“, eigentlich kein Duo, sondern eine Konversation zwischen den beiden Figuren, wobei Dircé der Hauptanteil zufällt. Mit dem dramatisch erregten Duo Camille/Adolphe „Ciel protecteur des malheureux“ aus Nicolas Dalayracs Camille ou le souterrain (1791 mit der Dugazon als Camille) endet diese originelle und preisverdächtige Anthologie (12.04.22). Bernd Hoppe