Wer dem trüb-grauen Winterhimmel nördlicher Breiten entfliehen will, kann das zumindest akustisch dank einer neuen CD mit Juan Diego Flórez, auf der Lieder aus Mittel- und Südamerika zu hören sind, gesungen von einer strahlenden Tenorstimme, die das Herz erwärmt und die den Hörer schmunzeln lässt, wenn an die Stelle von lebensfrohem Übermut die pathetische Trauer verschmähter Männerliebe tritt. Einige Stücke sind auch in Europa populär, so das Eingangslied Bésame mucho, andere sind wahre Entdeckungen, bei allen aber fällt auf, wie sorgfältig die jeweilige Begleitung gewählt worden ist, oft nur eine Gitarre, aber auch andere Instrumente aus der Volksmusik, die den Charakter des Stücks und des Landes, aus dem es stammt, unterstreichen. Das ausgezeichnete Booklet gibt eine wertvolle Hilfestellung zum Verständnis des Volkscharakters, der sich in den aus Peru, natürlich, aus Brasilien, Chile, Argentinien spiegelt, und der Sänger zeigt ein ausgeprägtes Verständnis für den Rhythmus des jeweiligen Stücks, singt agogikreich, federnd, straff, gibt auch den Protestsongs die notwendige Härte oder strahlt eine mitreißende Heiterkeit aus wie in Sombras. Er spielt so souverän mit der Sprache wie mit den Verzierungen, zeigt sich so temperament- wie humorvoll in La pollera colorá. In Caballo viejo scheint die Stimme wie das alte Ross zu galoppieren, im Kontrast dazu ist sie voll nachdenklicher Zärtlichkeit mit einem schönen Decrescendo in Amenecì entre tus brazos. Der herbe Text von Sólo le pido a Dios passt gut zum begleitenden Bandoneon, einen tollen Spitzenton mit der Vollstimme gibt es für Contigo en la distancia. Wenn das Falsett eingesetzt wird, dann als Ausdrucksmittel im schmachtenden Malagena und nicht aus der Verlegenheit heraus, keine gestützte Höhe erreichen zu können. Viel dolor und einen schönen Schluchzer dafür hört man in Cuando, ein sanfter Klang bezaubert in Si vas para Chile, einen klugen Aufbau der Interpretation kann der Hörer in El yerberito moderno bewundern. Die unterschiedlichen Rhythmen wie Samba, Tango oder Walzer werden temperamentvoll aufgegriffen und mit Leben erfüllt. Selten gingen Volks- und volkstümliche Kunst und hohe Professionalität eines Klassikkünstlers eine so glückliche Verbindung ein, wie sie diese CD darstellt.
Das Booklet gibt eine wertvolle Hilfestellung bei der richtigen Einschätzung der einzelnen Tracks, ist kenntnisreich im Rückblick auf die Geschichte der südamerikanischen Musik und ihrer Schöpfer ebenso wie ihrer Interpreten, zu denen sich nun auch als besonders kompetenter Flórez zählen darf.
Ganz anders das Booklet zur CD mit dem Titel Amore, das, obwohl Venedig in den dargebotenen Liedern keine Rolle spielt, lediglich mit Fotos aus der Lagunenstadt aufwartet, in deren Calli sich der Interpret Assaf Kacholi, auch als Mitglied der Gruppe Adoro bekannt, ergeht. Der Sänger war wohl auch als lyrischer Tenor als Opernsänger tätig, was man kaum glauben mag, da die Stimme mit wenig corpo bis zum Passaggio angenehm baritonal klingt, in der höheren Lage aber sich im Falsett ergeht, was sich bereits beim zweiten Titel, La Forza, bemerkbar macht. Davor erklingt das Partisanenlied Ciao Bella, dem man allzu sehr anhört, dass Italienisch nicht die Muttersprache des Sängers ist. In beiden Liedern versucht Kacholi durch forcierte Dramatik und das betonen von Kontrasten, durch willkürliche Tempiwechsel zu beeindrucken, die mehr oder weniger kitschigen, auf fragwürdige Effekte zielenden Arrangements tun ein Übriges, um die zumeist italienischen Titel weniger angenehm klingen zu lassen, als sie es in ihrer Originalfassung waren. Con te partirò wird, je höher die Stimme steigt, immer dünner klingend, ehe eine große Kraftanstrengung den Schluss effektvoll zu gestalten versucht.
Crossover nicht nur bei Tenören, aber besonders beliebt bei diesen, kann ein geschmackvoller Ausflug auf ein fremdes Terrain zur eigenen und zur Freude der Zuhörer sein oder aus der Einsicht erwachsen, dass es für eine Karriere auf der Opernbühne doch nicht (mehr?) reicht. (Sony 19075822942 Florez/ Springstoff LC 13315-CD AKAM 0129 Kacholi). Ingrid Wanja