Singenden Groß- und Urgroßmüttern in eroticis zu begegnen, ist nicht jedermanns Sache. Es klingt befremdlich und rührend, dem matronenhaften Timbre und ‘Oh-Gott-wie-geschieht-mir‘ -Ton nimmt man die echte Leidenschaft nicht ab, hält sie für eine Verirrung bzw. leere Pose „aber so beruhigen Sie sich doch, gnädige Frau!“. Kurz, historische Stimmen zu hören verlangt, die Schwelle des Unverständnisses zu überwinden, welches die Generationen voneinander scheidet. Zwei, drei Generationen zurück trifft man nur noch Rätsel.
Wer alte Platten hört, verabschiedet sich auch bald von der Legende, dass früher viel besser gesungen wurde als heute. Das stimmt nicht. Der Durchschnitt war genauso traurig, nur fehlen uns die Leuchttürme, die hundert Jahre überstrahlen mit zunehmender Leuchtkraft, denn jetzt weiß man, dass ein Jussi Björling, eine Kathleen Ferrier nicht hereinschneien werden wie das nächste Christkind. Es sind Solitäre oberhalb der Zeiten und zu ihnen dürfte auch Lotte Lehmann rechnen, deren gesamte Schellackhinterlassenschaft das wundervolle Label Marston jetzt in Volume 2 (Lotte Lehmann, Vol. 2 Odeon Electrical Recordings: 1927-1933/ 56004-2; 6 CDs) bis zum Jahr 1933 digital restauriert hat. Die zwei schmucken Schachteln enthalten die akustisch, per Trichter aufgenommenen Titel von 1914 – 26 und die elektrisch, per Mikrofon hergestellten bis 1933. Von einer 22-jährig begonnenen Karriere ist die Spanne zwischen 26 und 45 dokumentiert, die vokale Blüte.
Die Stimme ist phonogen; zumindest das, was elektrisch von Odeon eingefangen wurde, gibt sie natürlich und plastisch wieder. Das Etikett ‘historische Aufnahme’ schwindelt, wenn damit eine eingeschränkte Klangqualität gemeint ist. Der Klangmatsch, in welchen heutige Studios den klassischen Gesang tunken, ist auch eingeschränkt. Man bekam mit den bescheidenen Mitteln von 1929 ein realistisches Vokalportrait hin, und bekommt mit dem digitalen Quirl von today ein Tofu ohne jeden Fleisches Erbteil. Nur kein Hochmut gegen Schellackscheiben! Den kann man sich ebenfalls an den Hut stecken, vergleicht man sie mit ihren modernen Umschnitten:
Gewöhnlich werden EMI/Warner, DGG, Naxos oder Marston hoch gepriesen, was sie alles aus den alten Rillen herausholen. Mehr als jemals drin war! Der böse Verdacht sei einmal geäußert, dass diese Juroren noch nie ein gut erhaltenes Exemplar von 1929 auf einer erstklassigen Maschine der Zeit abgespielt haben. Alles passt. Man setzt sich hin, auf Ehrenwort! Jeder seriöse Sammler weiß das.
Marstons Reproduktionen sind vergleichsweise vorzüglich, besser als die der major labels, aber nie so lebendig wie die Originale. Selbst mit einem billigen Lenco oder Dual abgetastet, ist die Körperlichkeit der Stimme, ihre Plazierung im Raum naturgetreuer als die digitalen Klone im wattigen Nirwana. Will sagen, in der Reproduktionsfrage bleibt noch was zu tun übrig. Wer seine Lotte liebt – raus auf den Flohmarkt! Wer von ihr eine enzyklopädische, nach kompletten Aufnahmesitzungen geordnete, penibel dokumentierte, proper aussehende Edition wünscht, die er nie und nimmer aus anderer Quelle zusammenträgt, der ist mit Marston erstklassig bedient.
Lehmanns Kunst trägt die Züge ihrer Zeit, mehr noch die ihres Naturells. Ihrer ist der permanente Überschwang. Selbst wo sie linear singt, ohne Huch und Hach, herrscht Fiebertemperatur, nie weiht sie nur der Schönheit ihr Leben, sondern dem Ausdruck der Befindlichkeiten. An dieser höchst fraulichen Mitteilsamkeit erkennt man sie nach dem vierten Ton. Er krallt sich in den Hörer hinein, da gibt’s kein Entrinnen.
Viel ist von den Gesangspäpsten über die steife Tonemission geschrieben worden, das Forte in hohen Lagen kommt zu schrill, im Brustregister wechselt abrupt die Farbe, Maria Cebotari gelingt das cremiger, aber es zählt nicht. Lehmanns Organ oder vielmehr sein Einsatz besitzt eine Physiognomie. Selbstverständlich gehört sie nicht zu den Elsen, Agathen, Elisabethen, Evchen, der Marschallin, Gräfin, Manon und Tosca.
Sie alle sind programmbedingte Erscheinungsformen von Lotte Lehmann. Als was sie sich auch kostümiert, ihr Espressivo schlägt durch den Stoff wie ein Blutfleck. In den Schubert-, Schumann-, Brahmsliedern fällt das Kostüm weg, das Ereignis ist das gleiche. Im ’Nussbaum’ wispert, in ’Ewiger Liebe’ schwört, in ’Frauenliebe und -leben’ ergießt sich ganz und gar diese stramme, kolossal einfühlsame, gern außer sich geratende, unbedingte, unbeirrbare, durchsetzungsfähige Person aus Perleberg. Man mag es oder mag es nicht, wird im übrigen gar nicht erst danach gefragt, sondern überwältigt, und irgendwann, ohne Widerrede, einfach umgehauen. Wie oft, lieber Herr Gesangverein, und mit wem widerfährt einem solcherlei heute?
Zum damaligen Bouquet gehören auch einige Herbstzeitlose des Repertoires, die niemand mehr sich ansteckt. Da wären die religiösen Lieder und Hymnen, die Lehmann in brandenburgischem Gottvertrauen schmettert. „Oh heil’ger Geist, kehr’ bei uns ein“ (1929). Leider kehrte dann ganz jemand anderer ein. Damit wiederum hängt zusammen, dass der Name Volkslieder jetzt beinahe sittenwidrig klingt. (Für Brahms nicht!)
Bekanntlich ist eins der Merkmale hoher Kunst, dass sie sich in Selbstverständlichkeit verbirgt. Wenn Lehmann oder R. Tauber die ‘Königskinder‘ und ‘In einem kühlen Grunde’ vortragen, klingt’s wie in der Küche, ist es aber nicht. Hier den goldrichtigen Ton zu treffen, die Wehmut, die nicht triefelig, der Übermut, der nicht aufgedreht, die Erzählfreude, die nicht infantil klingt, ist seltener als Edelstein.
Des Weiteren bietet Vol. 2 verblühte Angebinde, wie die Rosenlieder des armen Fürst Philipp von Eulenburg, die der bekennende Paul-Hindemith-Hörer als halbseidenen Kitsch verschmäht. Meinetwegen, aber schön sind sie trotzdem, und sie schmeicheln Lehmanns aufgeputztem Deklamationsstil. (Wer meint, Elisabeth Schwarzkopf habe den erfunden, irrt. Sie knüpft daran an und entwickelt ihn. Ohne dies interessante Sujet auszuwalzen, sei nur soviel gesagt, dass bei der älteren ein U ein U ist und ein A und O das A und O sind.)
Mag man das Sterben der Rosenlieder bedauernd verschmerzen, gemahnt das bestrickend mezza voce angestimmte Wiegenlied Carl Maria von Webers an eine Kulturschande. Wo ist das Liedschaffen dieses Meisters geblieben, den Stravinsky treffend den „Prinzen“ nannte?
Zurück zu den Prinzessinnen: Wenn man so will, bildet Lehmann mit Elisabeth Schumann und Elisabeth Rethberg ein Dreigestirn des deutschen Soprans in der Zwischenkriegszeit, alle zuschlechterletzt außer Landes. Sie beerben Emmy Destinn – Frieda Hempel – Claire Dux und werden abgelöst von Schwarzkopf – Seefried – della Casa. Mehr oder minder leicht politisch angekratzt bliebe noch die Staffel der Daheimgebliebenen, Tiana Lemnitz – Maria Reining – Erna Berger zu nennen. Cebotari ist Berliner Staatsoper, aber keine deutsche Stimme, Meta Seynemeier lebte zu kurz und Emmy Bettendorf sang vorwiegend im Radio. Den Wagnerspielplan hüteten Frida Leider, Maria Müller und Martha Fuchs, letztere etwas artvergessen, indem sie statt „Mein Führer“ den obersten Opernfex des Reiches mit „Herr Hitler“ anredete. So schnöde kann der Knicks der Unangepassten geraten, aber darauf wollen wir nicht hinaus.
Die Nennung all der holden Namen soll den Kahlschlag, den Verlust, die Leere anzeigen, nachdem denn auch Grümmer, Rothenberger und Janowitz verstummt sind, die letzten Lerchen. In der Palette des Sopranfachs fehlt seither eine Grundfarbe, die bezopfte Maid, einsam in trüben Tagen, leise leise fromme Weise betend, den Guten Abend, Meister entbietend, dem Abscheulichen, wohin er auch eilt, nicht weichend, ein anderer soll mein Gebieter sein, und ich ihm untertan. Worte, die eingekleidet sein wollen in jenes innig keusche, burgunderweiße Timbre, das keiner mehr hat und will, es sei denn als Regietheaterklamauk.
Diesem längst verwelkten Gefühlsgarten entspross auch Lotte Lehmann, mit einem Absatz in der Sünde, eine kundryhafte Existenz, halb Magd des Herrn, halb enthemmt vom Liebestranke. Die ekstatisch züngelnde Leidenschaft, ihre geradezu brünstige Sieglinde ist so ansteckend, weil dem unbefleckten Schoß des Gretchentypus entsprungen. Ohne Enthaltsamkeitsgebot ist ja das emotionale Außersichsein des Lehmanntons nicht darstellbar. Außerhalb von was?
Damit das Sprengpulver sprengt, benötigt es eine Kapsel. Sie ist bei der Unterdreißigjährigen die perlmuttene Mädchenhaftigkeit, danach das hausfraulich Gesetzte. Beides dient allein dazu, mit Aplomb in die Luft zu fliegen. Es bedarf nicht langer Erörterung, warum der gegenwärtigen Generation Lyrisch-Dramatischer diese Gefühlslage unzugänglich ist, weswegen sie sich willfährig als Gestörte und Dämliche inszenieren lassen.
Für Lehmann sind, wie gesagt, die Schicksale von Opernfiguren lauter Selbsterfahrungsmomente: das Los gefährdeter, nein, sich selbst preisgebender Unschuld. Bietet Elsa dem erträumten Streiter für ihre Erbfolgeangelegenheiten „alles, was ich bin“ zum Lohn (als ob ein Gralsritter damit anzuwerben wäre) so liest Lehmann dies umgekehrt: Das, was ich bin, ist dies mit anzüglichem Unterton verheißene „alles“. Und jetzt genug davon.
Was wäre diese ganze zudringliche Emphase ohne die nachgerade kreatürliche Musikalität. Wie nahte ihr denn der Schlummer? Mit einem leichthin parlierenden „Wie“, einem aahnungsvollen Nahen, einem unmerklich verzögerten, wie wartenden Sch-lll-ummer und (alles längst her) bevor, bevor, bevor in kindlicher Vorzeit ich – und jetzt fährt der Blitz bebender Brautzeit in die jungferliche Heia – „ich iiih-n geseeeh’n“. Das ist nur e i n e Zeile, die ohne laborierte Affigkeit in Wort, Klang und Melodie betörenden Duft verströmt. Eine extreme Ausformung sämtlicher Parameter, eine Bedeutungshaftigkeit jeder Vokalfarbe, eine Präzision der Ausdrucksgeste – da wird nichts Eingeübtes abgespult, kein Kunststückchen feilgeboten, da entblößt sich der pochende Herzmuskel.
Um ehrlich zu sein, danach braucht man Erholung bei der schnörkellosen Rethberg, der ergreifenden Schlichtheit Schumanns. Aber man soll sie nicht gegeneinander ausspielen. Lotte ist anstrengend wie das Leben. Jörg Friedrich