Immer, wenn ich mich von Strauss erholen muss, greife ich zu Strauss. Zu seinen Liedern. Die Opern kann ich nicht ständig hören, die Orchesterstücke auch nicht. Aber die Lieder schon. Sie sind mir unverzichtbar. Eine ewige Liebe, die nie erkaltet, die sich immer wieder erneuert. Noch fast ein Kind, habe ich die ersten Lieder gehört. Es muss etwas in ihnen sein, was auch junge Ohren aufnehmen können. Strauss ist in seinen Liedern viel zugänglicher, als es zunächst den Anschein hat. Sie sind auf eine unverwechselbare Weise melodiös. Für Brahms oder Schumann habe ich viel länger gebraucht.
Strauss hat mehr als zweihundert Lieder komponiert. Auch wenn jetzt die Opernfraktion protestiert, für mich bilden sie das Fundament des ganzen Werkes. Insofern passt es gut, dass zur Feier seines 150. Geburtstages alle seine Lieder mit Klavierbegleitung geschlossen eingespielt wurden, vom ersten bis zum letzten Opus. Die Strauss-Klavierlieder-Edition im Umfang von neun CDs ist beim Label Two Pianists Records erschienen (über Naxos, TP1039312). Es gibt auch andere sehr kompakte Editionen, zum Beispiel von Dietrich Fischer-Dieskau (EMI/Warner) oder Andreas Schmidt (RCA) – von den unzähligen Einzelaufnahmen, auch noch mit Strauss höchst selbst am Klavier, ganz zu schweigen. Irgendein Lied fehlt aber immer. Nun der Anlauf zur Vollständigkeit.
Das Liedschaffen lässt sich in mehrere Kategorien einteilen, die reinen Klavierlieder sind die umfänglichste. Davon hat Strauss selbst einige der bekanntesten orchestriert wie „Meinem Kinde“ oder „Morgen“. Wieder andere wie „Traum durch die Dämmerung“ oder „Heimliche Aufforderung“ sind von fremder Hand mit Orchesterbegleitung versehen worden. „Zueignung“ gibt es sogar in zwei Orchesterversionen, einmal von Strauss selbst und dann von Robert Heger, der dieses Handwerk genauso gut beherrschte wie die Dirigierkunst. Die kleinste Gruppe sind die originären Orchesterlieder mit den „Vier letzten Liedern“ im Zentrum. Deren Klavierfassung, die Waltraut Meier und Ljuba Welitsch offiziell eingespielt haben, stammt nicht vom Komponisten. Schließlich hat Strauss selbst fremde Lieder instrumentiert – nämlich Schuberts, „Ganymed“ sowie Beethovens „Ich liebe dich“ und „Wonne der Wehmut“. Sie werden im Werkverzeichnis als eigenständige Stücke aufgeführt. Leider habe ich davon keine Einspielungen ausfindig machen können.
Zurück zur Klavierlieder-Edition. Brigitte Fassbaender, die umtriebige Leiterin der Richard-Strauss-Festivals in Garmisch im Juni 2014, hat gehörig mitgemischt und dem Ganzen ihren künstlerischen Stempel aufgedrückt. Die Melodramen „Enoch Arden“ nach dem Text von Alfred Tennyson – hier in der üblichen deutschen Übersetzung von Adolf Strodtmann – und „Das Schloss am Meere“ auf ein Gedicht von Johann Ludwig Uhland hat sie für sich selbst reserviert. Die Fassbaender bringt mit ihrem gut gestützten Mezzo für die Sprechrollen gute Voraussetzungen mit. Eine gewisse Monotonie liegt in den Werken selbst begründet, nicht in der Interpretation. Sie stört aber nicht. Der monströse „Enoch Arden“ passt mal gerade auf eine CD. In Garmisch, wo Strauss viele Jahre seines Lebens zubrachte und starb, wurde aufgenommen. Akustisch ist nicht alles geglückt, weil von idealen Studiobedingungen nicht die Rede sein kann. Elan und Begeisterung zeichnen das Unternehmen aus, nicht akustische Akkuratesse. Nur einen Monat hat es gedauert, bis alles im Kasten war. Nicht selten wurden zwölf Stunden hintereinander gearbeitet. Diese Besessenheit ist auch zu spüren in einer gewissen musikalischen Hatz. Für die Arbeit an Details, die für Strauss-Lieder eigentlich unabdingbar ist, fehlte oft die Zeit. Routine aber klingt anders.
Alle Sänger werfen sich mit einer unglaublichen Hingabe auf ihre Aufgaben. Nicht, dass drauflos gesungen würde. Das nicht. Mich hat die Unbefangenheit und Frische beeindruckt, mit der manches Lied, das man tausendmal gehört hat, plötzlich herüber kommt. Das ist die große Stärke dieser Edition. Ich habe mir den Selbstversuch erspart, möchte aber darauf wetten, dass man locker alle 179 Lieder hintereinander hören könnte und anschließend Strauss immer noch lieben würde. Das würde in etwas neun Stunden dauern. Zur Wahrheit gehört, dass es von vielen Titeln eindeutig bessere Aufnahmen gibt – so es sie überhaupt gibt. Beim Hören musste ich aber nicht einen Moment lang an die Schwarzkopf, die Güden, die Della Casa, an Fischer-Dieskau, Fritz Wunderlich oder Peter Anders denken, die allesamt die vielleicht exemplarischsten Einspielungen hinterlassen haben. Diese Edition gewinnt durch ihre Jugend und ihren Charme. Meist sind die Gesangsleistungen noch mehr Versprechen als Meisterschaft. Und das sind die Mitwirkenden: Anja-Nina Bahrmann, Juliane Banse, Christiane Libor (Sopran) Michelle Breedt, Anke Vondung (Mezzo-Sopran), Jeongkon Choi, Christian Elsner, Brenden Gunnell, Lucian Krasznec, Martin Mitterrutzner (Tenor), Markus Eiche, Manuel Walser (Bariton) Andreas Mattersberger (Bass). In die Begleitung teilen sich Christoph Berner, Burkhard Kehring, Malcolm Martineau, Wolfram Rieger und Nina Schumann. Christoph Eß (Horn-Solo), Yamei Yu (Violin-Solo). Alle sind auch abgebildet, oft im Ambiete der mit Kunstgegenständen vollgestopften Garmischer Villa, bis auf Eduard Schönach, der das kurze Trompeten-Solo am Ende der „Heiligen drei Könige aus dem Morgenland“ bläst. Die Entscheidung für diese Fassung ist genau so lobenswert wie der Einsatz des Horns (Christoph Eß) im Lied „Alphorn“ und der Violine (Yamei Yu) in „Stiller Gesang“. So gehört sich das.
Am Beginn steht das „Weihnachtslied“, das Strauss mit sechs Jahren komponierte, am Schluss „Malven“, entstanden im Jahr vor seinem Tod, „mit unerwarteten harmonischen Wendungen und Härten sowie einem klanglich spärlichen Satz“, wie die Musikpublizistin Elisabeth Schmierer im Strauss-Handbuch, das hier bereits besprochen wurde, hervorhebt. Strauss schenkte das Lied der verehrten Maria Jeritza, die es unter Verschluss hielt. Erst nach ihrem Tod wurde es 1985 von Kiri Te Kanawa in New York uraufgeführt und inzwischen auch mehrfach eingespielt. Bei den diesjährigen Osterfestspielen in Salzburg sang Anja Harteros eine von Wolfgang Rihm hergestellt Orchesterfassung, eingefügt in die „Vier letzten Lieder“. Nun ja. Diese Bearbeitung betonte zwar den erstaunlich progressiven Ansatz des alten Strauss, bricht damit aber aus der himmlischen Geschlossenheit des berühmten Zyklus aus. Für ein Festival war das eine gute Idee. Für den Alltag wohl ehr nicht praktikabel. In der Edition singt Juliane Banse „Malven“ leider nicht sehr verständlich. Da fällt es nicht auf, dass der Text von der Schweizer Dichterin Betty Knobel stammt und nicht von Goethe, wie es irrtümlich in der Trackliste heißt. Ein kleiner Tippfehler, der die Qualität des umfangreichen Textapparates, der auch eine Tabelle der Werke nach dem Jahr ihres Entstehens, alle Liedtexte, ein Grußwort der Fassbaender und Biographien der Mitwirkenden enthält, nicht schmälert. Nicht gespart wurde bei eindrucksvollen Fotos von Strauss in unterschiedlichsten Lebenslagen.
„Richard Strauss: Ein Leben in Liedern“ nennt Jürgen May seinen aufschlussreichen Begleittext, der schon mehr ein Essay ist. Es zeichnet ihn wie die ganze Sammlung aus, dass kein Bogen um dunkle Seiten im Liedschaffen von Strauss gemacht wird. Hier gilt‘s der Vollständigkeit! Gemeint sind die Titel, mit denen sich der Komponist den braunen Machthabern empfahl. Dazu zählt bespielweise das Lied „Das Bächlein“. Damit stattete Strauss im November 1933 bei Propagandaminister Goebbels seinen Dank für die Ernennung zum Präsidenten der Reichsmusikkammer „verehrungsvoll“ ab. Rätselhaft ist, warum Strauss die Vorlage als Gedicht von Goethe ausgibt. Irrtum? Oder Kunstgriff, um das tatsächlich von Charlotte Oth stammende Gedicht in seiner Wirkung auf den Adressaten etwas aufzuwerten? Bei Strauss weiß man das nie so genau. Immerhin träumt das Bächlein in dem schlichten Text davon, dass jener, der es „gerufen aus dem Stein“, werde „mein Führer“ sein. Musikalisch sind Motive aus Schuberts „Schöner Müllerin“ verarbeitet, die auch Goebbels geschätzt haben soll. May vertritt die Auffassung, dass sich derlei Lieder – neben dem „Bächlein“ gehören noch „Sankt Michael“ und „Blick vom oberen Belvedere“ nach Gedichten des nationalsozialistischen Dichters Josef Weinheber dazu, dem Strauss in Wien begegnete, – „von der Gestaltung heutiger Konzertprogramme und Einspielungen disqualifizieren, sofern nicht ein „dokumentarischer Kontext“ gegeben sei.
Der Bariton Andreas Schmidt, der 153 Lieder von Strauss eingespielt hat mit Rudolf Jansen am Klavier, ließ die strittigen Titel nicht weg („The complete Lieder with Piano“). Sie sind in ihrer Problematik auch nicht explizit ausgewiesen. Jedenfalls gibt es in der nun wieder aufgelegten Sony/RCA-Box von 1999 mit seinen Aufnahmen keinen entsprechenden Kommentar. Sie werden als gegeben hingenommen, dem Werk zugehörig, wie das schon Elisabeth Schwarzkopf und George Szell bei der Einspielung der attraktiveren Orchesterfassung 1969 in London für die EMI handhabten. Der praktische Strauss hatte das 1933 als Klavierfassung komponierte „Bächlein“ zwei Jahre später orchestriert und nunmehr der Sängerin Viorica Ursuleac als Zeichen seiner „wärmsten Dankbarkeit für Marschallin, Kaiserin, Chrysothemis und Arabella“ zukommen lassen. Edita Gruberova singt es in der Sammlung aller Orchesterlieder beim Label Nightingale Classics (NC 000072-2), eingespielt zwischen 1998 und 1999. Im Booklet wird der „unangenehme Beigeschmack“ des Liedes diesmal sehr wohl vermerkt. Als ich es vor vielen Jahren zum ersten Mal hörte, kannte ich die Hintergründe nicht. Meine Unbildung gab mir die Unschuld, mit der ich das Lied fröhlich aufnahm. Mir scheint, dass sich Werke auch aus dem Kontext ihres Entstehens lösen können, wenn sie gut genug sind. Das „Bächlein“ halte ich trotz alledem für ein Meisterwerk.
Zurück zu Schmidt. Seine Aufnahmen entstanden zwischen 1993 und 1998 für Sony Music im Studio des Senders Freies Berlin. Eine gesammelte Neuauflage gibt es bei RCA (88843015182), erweitert um eine CD mit Frauen-Liedern, die ein Wiederhören mit Juliane Banse bringen. Nicht nur vom Umfang her ist diese Edition für mich maßstäblich. Sie ist auch künstlerisch höchst interessant. Ihr stärkster Eindruck ist die Geschlossenheit der Interpretation. In diesem Falle erweist es sich als Vorteil, dass ein und derselbe Sänger innerhalb weniger Jahren ein Dreiviertel aller Lieder des Komponisten eingespielt hat. Das hätte auch schief gehen können, weil in dieser Konzentration Potenzial an Einförmigkeit und Langerweile lauert. Nicht so bei Schmidt. Er holt aus jedem einzelnen Titel das Höchstmaß an Poesie heraus. Ein schwieriges Unterfangen ist das, denn nicht alle Vorlagen stammen von Goethe und Heine. Nicht immer war Strauss bei der Auswahl seiner Texte wählerisch. Er konnte auch drittklassiger Lyrik etwas abgewinnen – und genau das findet der Sänger heraus.
Schmidt klingt meist sanft. Obwohl er die Lieder hörbar sehr gut studiert hat, bleibt immer der Eindruck, als taste er sich gemeinsam mit seinem Publikum erst heran. Er nimmt die Zuhörer mit und setzt ihnen kein musikalisches Fertiggericht vor. Schmidt kommt von der evangelischen Kirchenmusik her und hat auch bei Dietrich Fischer-Dieskau studiert. Das hört man auch. Eine bessere Basis lässt sich kaum denken. Doch im Gegensatz zu seinem Meister, dessen Vortragsstil mit zunehmenden Alter etwas apodiktisch wurde, singt Schmidt – wenn der sprachliche Vergleich denn erlaubt ist – ergebnisoffen. Es könnte immer alles auch noch ganz anders sein. – Das Foto oben ist ein Ausschnitt des Titelbildes der CD-Box mit Andreas Schmidt bei RCA.
Rüdiger Winter