Teodor Currentzis oder Yannick Nézet-Séguin? Perm oder Baden-Baden? Sony oder Deutsche Grammophon? Welcher Mozart-Zyklus des Jahrzehnts wird sich als wirkungsvoller erweisen? Die Strategien könnten nicht unterschiedlicher sein, doch eines kann man bereits feststellen: Teodor Currentzis und sein Originalklang-Ensemble MusicAeterna stehlen mit den neuen Don Giovanni erst mal allen die Schau. Es ist das orchestrale Hörerlebnis, das aufhorchen lässt und Begeisterung oder Ablehnung hervorruft. Die Konkurrenz bei DG in Form des Mahler Chamber Orchestra spielt historisch informiert auf modernen Instrumenten, Yannick Nézet-Séguin dirigiert, ohne dass sich jemand darüber in irgendeiner Form aufregen wird. Currentzis setzt bei seinen Einspielungen im Opernhaus des russischen Perm auf ca. 65 Orchestermusiker und starke Kontraste, wie mit einer Lupe vergrößert er Details, es knallt und quietscht, er beschleunigt und bremst und treibt den Klang auf die Spitze, ob das genial spannend oder überzogen affektiert ist, ist Geschmackssache, neu ist
es nicht, in der historischen Aufführungspraxis gibt es ähnliche Ansätze seit ca. 25 Jahren.
Was für Currentzis spricht, sind seine Kompromisslosigkeit, Sorgfalt und Detailverliebtheit, er ging zweimal für diese Einspielung ins Studio, die erste Aufnahme 2014 überzeugte ihn nicht, Sony zog mit, Ende 2015 wurde sie nochmals eingespielt. Die Tontechnik spielt eine wichtige Rolle, ob Currentzis‘ Mozart bei einer Live-Aufführung dem Konservenklang gerecht werden kann, kann hier nicht beantwortet werden, eine konzertante Aufführung im Dortmund 2015 (kurz vor der 2. Aufnahme) scheint tatsächlich begeisternd gewesen zu sein. Currentzis wollte „einen Klang, der die Kühle der Salzburger Kirchenmusiktradition atmet, wie in den Messen und im Requiem. Es ist der Klang von Michael Haydn, der sich bis zu Biber zurückverfolgen lässt, eine geheimnisvolle Sonorität, in der die fromme Feierlichkeit der altehrwürdigen Salzburger Gotteshäuser heraufbeschworen wird… In den anderen, eher physischen Passagen wechseln wir zu einem sozusagen mediterranen, barocken Klang.” Das Ergebnis erfüllt die Erwartungen: Currentzis ist eigenwillig und individuell und nie langweilig. Der griechische Dirigent ist im Durchschnitt nicht überschnell, Nézet-Séguin wählt die langsameren Tempi, die historisch besetzte Aufnahme von Arnold Östman und dem Drottingholm Court Theatre Orchestra (Decca 1989) ist bspw. in höherem Grundtempo. Currentzis‘ Don Giovanni wirkt dennoch rasanter, weil er immer wieder einzelne orchestrale Stellen zusammenballt und schroff hervorklingen lässt, der Versuch des Dirigenten, sich selber zu übertreffen und den Erwartungen gerecht zu werten, geht schon mal mit einen leichten musikalischem Verlust an Deutlichkeit einher. Wenn Currentzis‘ Dirigat langsam wird, sogar langsamer als Nézet-Séguin, dann hat das einen Grund, bspw. „Non ti fidar, o misera“, das man selten so stockend hört oder „Lá ci darem la mano“, das ein Glücksversprechen sein soll, die Interpretation will laut Dirigent „Assoziationen an Leierkastenmusik, Trumscheit, Sackpfeife und Dudelsack“ wecken. Ein Höhepunkt der Aufnahme ist die Maskenballszene am Ende des ersten Akts: sie klingt verblüffend neu, die drei in unterschiedlichen Taktarten spielenden Orchester haben jeweils einen eigenen Verzierungsstil von Currentzis bekommen und erzielen so ein spannendes Gegeneinander. Don Giovannis Höllenfahrt zeigt sich ohne Überraschung auf hohem Niveau. Für die Rezitative und bei den Arien wird ein Hammerklavier verwendet, das auch auftrumpfen darf, wie in der Einleitung zu „Ah, ah, ah, questa è buona“, Currentzis will die Rezitative aufwerten und setzt auf Anschaulichkeit – das Bühnengeschehen wird akustisch aufgenommen und verstärkt, die Szenen zwischen Donna Anna und Don Ottavio gewinnen hier bspw. an Dramatik hinzu.
Die Deutsche Grammophon setzt bei ihrem Mozart-Zyklus auf Sängergrößen, der Don Giovanni, der 2011 in der badischen Kurstadt bei konzertanten Live-Aufführungen im Festspielhaus aufgenommen wurde, war prominent besetzt: Ildebrando d’Arcangelo, Luca Pisaroni und Rolando Villazón sowie Diana Damrau und Joyce DiDonato. Bei DG hört man reife und charaktervolle Stimmen, die Dramatik der Aufnahme liegt in der Qualität der Sänger begründet. Currentzis setzt überwiegend auf schlanke, junge Stimmen und verlegt die Dramatik in den Orchestergraben. Als Don Giovanni hört man den Bariton Dimitris Tikliakos, der mit hoher Stimmkultur alles richtig macht und doch gegen die sinnlich-dunkle Stimme von Ildebrando d’Arcangelo nicht ankommen kann. Ein Überraschung ist der Leporello des Bassisten Vito Priante, der ähnlich wie Luca Pisaroni bei DG einen hervorragenden Eindruck hinterlässt: eine bewegliche und ausdrucksstarke Stimme, die modellieren kann. Myrtò Papatanasiu ist eine sehr gute Donna Anna, doch auch hier hat DG mit Diana Damrau eine Stimme, die mehr zu leisten vermag. Ein Gewinn ist Kenneth Tarver, der als Don Ottavio keine Wünsche offen lässt, die Krisenszenen zwischen Papatanasiu und Tarver haben in dieser Aufnahme eine beeindruckende Intensität. (Currentzis wählt übrigens eine Prager/Wiener Mischfassung mit den Arien für Elvira und Don Ottavio). Karina Gauvin als opulent besetzte reife Donna Elvira fällt bei der Currentzis-Aufnahme fast aus der Reihe, sie singt in einer Liga mit Joyce DiDonato bei DG. Ohne Fehl und Tadel sind Christina Gansch als Zerlina sowie Guido Loconsolo als Masetto. Als Commendatore hört man den Finnen Mika Kares, einst Ensemblemitglied am Badischen Staatstheater in Karlsruhe, wo man ihm noch heute hinterher weint: einen Bass mit ähnlicher Stimmkultur findet man selten.
Zurück zur Anfangsfrage: Teodor Currentzis oder Yannik Nézet-Séguin? Der Verfasser dieser Zeilen glaubt (bisher) nicht an den einen, alles und alle überragenden Don Giovanni. Bei Östman hört man den vielleicht historisch authentischsten Mozart mit schlankem Klang, unaufgeregter Phrasierung und stetig raschen Tempi, Yannik Nézet-Séguin leitet eine opulente Aufnahme mit sängerischem Starensemble, Teodor Currentzis präsentiert die zeitgeistige Aufnahme par excellence: sie ist individuell und exzentrisch durch die Positionierung und Pose des Dirigenten als Star, akustisch spitzt sich etwas zu, die Oper ist aufregend, will unmittelbar wirken und ist doch unerbittlich im Gefühl der Krise und Bedrohung (Currentzis verwendet im Beiheft den Ausdruck „Terrorist“ für Don Giovanni). Es ist ein Mozart-Verständnis, das Folgen haben und sich in den Orchestergräben durch den Dirigentennachwuchs ausbreiten könnte. Seinem eigenen Anspruch wird Currentzis gerecht, er beschreibt diese Oper durch die „Dualität von verschleiertem Unbewussten und bewegter Realität“ – Attributen, die auf Oper und Aufnahme zutreffen. Als Kontrast und Innovation ist diese Aufnahme eine wichtige Bereicherung. (3 CDs, Sony 88983316032) Marcus Budwitius