Wo hatte sie sich so lange versteck? Julietta – die schöne Unbekannte? Jahrzehnte hatte sie keiner gesehen, und nun taucht sie überall auf – in Bremen, in Zürich, in Frankfurt (die deutsche Erstaufführung hatte 1959 im unweiten Wiesbaden stattgefunden), in Genf und Berlin. Die Frankfurter Aufführung liegt jetzt bei Oehms Classics, so etwas wie das Hauslabel der Oper Frankfurt, vor. Nicht die schlechteste Wahl, denn Sebastian Weigle erweist sich als kluger Deuter dieser Partitur, die hier so klar strukturiert und durchsichtig klingt als wolle er uns die „Lyrische Oper“ ganz besonders ans Herz legen. Was er ja wohl auch möchte.
Die Initialzündung hatte vielleicht die Richard Jones-Inszenierung 2002 in Paris geliefert, die zeigte, welch Bühnenpotenzial in dieser 1936 und 1937 in Paris in französischer Sprache als Juliette komponierten und 1938 in
Prag in tschechischer Sprache uraufgeführten Oper steckt. Übrigens wurde die Pariser Aufführung von Marc Albrecht dirigiert, den man, wie Weigle, eher mit dem deutschen Repertoire in Verbindung bringt.
Wirkt Julietta ohne Szene nicht unvollständig, amputiert, braucht man für dieses phantastische Traumspiel, in dem nichts ist wie es scheint, nicht eine helfende Inszenierung, die durch das surreale Geschehen navigiert? Überhaupt nicht. Die in deutscher Sprache gesungene Aufführung (2 CDs OC 966) ist bis in die kleinsten und knappsten Einwürfe so textdeutlich, wie es man es sich kaum noch zu erwarten traut, hat eine so starke klanglich-szenische Präsenz, dass man sich wie in einem 2 ½ stündigen Hörspiel-Thriller wähnt (und das deutsche Libretto im umfangreichen Beiheft gar nicht zu Hilfe nehmen muss). Die Geschichte hat sich inzwischen herumgesprochen. Auf der Suche nach der schönen Juliette, deren Lied ihn hier einst bezauberte, kehrt der Buchhändler Michel in eine Hafenstadt zurück. Doch hat der vom Wald umgebene Ort überhaupt einen Hafen? Alles ist höchst seltsam, Realität und Traum, Phantasie und Wirklichkeit vermischen sich, Raum und Ort, Gegenwart und Vergangenheit. Die Menschen vergessen sofort alles, haben keine Erinnerungen, weshalb es einen Verkäufer von Erinnerungen und ein „Zentralbüro der Träume“ gibt.
In die Musik kommt man sofort hinein. Denkt man, denn sobald man sie zu fassen meint, schlüpft sie davon. Virtuos mischte Bohuslav Martinů Stile und Besetzungen und wob daraus einen Klangteppich von eigener Farbigkeit; er kennt Debussy und Poulenc, lässt – wir sind in Südfrankreich – ein Akkordeon erklingen, hüpft von der kleinen frechen Music Hall-Episode zum großen Ensemble, vom Jazz zur spätromantischen Sinfonie. Das ist alles von einer quecksilbrigen Bewegtheit, augenzwinkernden Raffinesse, dabei flirrend vage und schwebend unscharf, so dass sich der Hörer wie auf schwankendem Brettern bewegt und sich ähnlich verunsichert fühlt wie Michel, was das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter Sebastian Weigle kraftvoll und minutiös einfängt. Ausgezeichnet die Besetzung. Im elfköpfigen Julietta-Ensemble gibt es eigentlich nur zwei Hauptrollen: Kurt Streit, der als Mozart-Helden und Belcanto-Tenorino begann und über Hoffmann und Énée bis zu den heldischen Charakterpartien vieles gesungen hat, hat für die ungemein umfangreiche und in den drei Akten fast allgegenwärtige Partie des Michel einen biegsamen, klar profilierten, lyrisch zarten wie zähen Tenor parat, der zu wirklicher Leidenschaft und dramatischer Aussage fähig ist. Juanita Lascarro hat die rechten dunklen Farben für die Julietta, die sie im dritten Akt faszinierend ausspielt. Nicht weniger überzeugend die restlichen Sänger, die gleich in zwei oder drei Rollen schlüpfen, wie beispielsweise der Tenor Beau Gibson, dessen Kommissar zum Briefträger wird, der Bariton Boris Grappe als Verkäufer von Erinnerungen und Marta Hermann und Maria Pantiukhova als Vogel- bzw. Fischerverkäuferin. Rolf Fath