Ein großes Experiment nannte Bo Holten seine Luther-Oper Schlagt sie tot!, die im Mai 2019 an der Malmö Opera ihre Uraufführung erlebte. Nicht nur habe er das Kirchenlied „Eine feste Burg ist unser Gott“, das durch seine Bildhaftigkeit eine Epoche prägte und gleichsam als „Marseillaise der Reformation“ weiteste Verbreitung fand, sondern auch andere Verse und Melodien Martin Luthers für seiner Oper verwendet. „There ist hardly a single moment in the 160-minute opera“, so Hansen, “where a tune by Luther is not represented somewhere in ist musical sea, but not in the sense where you as a listener constantly register familiar material“. Eine schöne Idee. Bereits in seiner Gesualdo-Oper hatte der 1948 geborene Hansen 2016 neue und alte Musik zu einer modernen Barockoper kombiniert, um die Zeit des Renaissance-Komponisten zu vergegenwärtigen. In Schlagt sie tot!, seiner neunten Oper, wirkt dieses Verfahren etwas lehrerhaft, und da ihm Eva Sommestad Holten in ihrer großartigen Fleißarbeit Forschungsergebnisse, originale Quellen und Zitate in die beiden handlungsreichen und überaus textlastigen Akte gezwängt hat, mutet der zwischen 1518 und 1545 spielende Zweiakter denn rasch wie ein ganzes Volkshochschulsemester im Schnelldurchlauf an.
Die Handlung beginnt nach dem Anschlag der Thesen in Wittenberg und endet mit Luthers Tod, behandelt Texte und Wirken des Reformators, thematisiert im Gespräch Spalatins mit dem Landgrafen von Hessen den Ablasshandel, zeigt an der Wittenberger Fakultät die Einführung Melanchthons, der Luther bei der Übersetzung der Bibel unterstützen wird, sodann Luthers Besuch im Atelier Lucas Cranachs. Der in Köln zum Kaiser gewählte Karl V. bittet Erasmus von Rotterdam um eine Einschätzung Luthers. Dieser verbrennt in Wittenberg die Bannbulle des Papstes und begibt sich zum Reichstag nach Worms begibt, wo ihn der Kaiser zum Widerruf seiner Schriften auffordert. Luther weigert sich und riskiert den Tod. Spalatin bringt Luther auf die Wartburg. Bauernaufstand. Luther setzt sich mit Karlstadt und Erasmus auseinander und fordert nach der Zerstörung des Zisterzienserinnen-Klosters in Eisleben die Fürsten auf, den Bauernaufstand niederzuschlagen. Usw. Der alte Luther hat sowohl seine Frau wie Melanchthon gegen sich aufgebracht und sich von seinem Freund Cranach entfremdet. Verbittert stirbt er. Seine Ideen leben weiter. Die Oper endet mit einem schönen Gespräch zwischen Melanchton und Philipp von Hessen.
Da ist es äußerst hilfreich, dass im Beiheft zu der wie stets bei Dacapo geschmackvoll gestalteten Box (2 CD 8.226706-07) die neben dem Titelhelden wichtigen Personen vorgestellt werden: Melanchthon (Thomas Volle), Georg Spalatin (Jakob Högström), Lucas Cranach (Reinhard Hagen) und seine Frau Barbara (Inger Dam-Jensen), der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise (Bengt Krantz), der Landgraf von Hessen (Conny Thimander), Erasmus von Rotterdam (Stefan Dahlberg), Luthers Kollege Andreas Karlstadt (Magnus Loftsson), Katharina von Bora (Emma Lyren), die Schweizer Reformer Huldrych Zwingli (Stefan Dahlberg), Johannes Oecolampadius (Bengt Krantz) und John Calvin sowie Martin Bucer (Jakob Högström) in Straßburg. Es wird ungemein viel verhandelt, diskutiert, gestritten – ein wenig fühlte ich mich an die Konzilsszene im Palestrina erinnert – und man könnte in diesen deutsch gesungenen Wimmelbildern leicht die Übersicht verlieren, würde uns nicht der mit Autorität singdeklamierende Dietrich Henschel souverän durch die Werkstätten, Fürstensäle und Volksszenen geleiten. Hansens tonale Musik hält sich trotz der farbigen Instrumentation, des gewaltigen Orchestersatzes und markanter Bläserattacken dezent zurück, lässt die Choral-Motive eher erahnen als dass er sie ausstellt und gibt der recht schnörkellosen Deklamation den Vortritt. Der uraufführungserfahrene Patrik Ringborg – u.a. das schöne Notorious von Hans Gefors 2015 in Göteborg – steuert Chor und Orchester der Malmö Opera souverän durch das Experiment.
Mit Lukas Cranachs Zeitgenossen und Kollegen Mathis Gothart Nithart, besser bekannt als Mathias Grünewald, hatte sich Paul Hindemith seit 1932 beschäftigt. Mathis der Maler gelangte 1938 in Zürich zur Uraufführung, nachdem Versuche Furtwänglers in Berlin und Wetzelsbergers in Frankfurt, das Werk zur Aufführung zu bringen, an den Verboten der Nazis gescheitert waren. 1958 erfolgte unter Karl Böhm an der Wiener Staatsoper die österreichische Erstaufführung (mit Paul Schöffler, Lisa Della Casa, Wilma Lipp), der sich in Wien nach mehr als fünf Jahrzehnten im Dezember 2012 am Theater an der Wien eine neuerliche Beschäftigung mit der Oper in 7 Bildern anschloss. Vor dem Hintergrund der Schrecken der Zeit – die Oper spielt 1525 in Mainz – mit Bauernkrieg, Kampf der Aufständischen gegen die Päpstlichen, Bücherverbrennung, Brandschatzung und Mord thematisiert Hindemith in seinem selbst geschriebenen, gedankenbefrachteten Libretto die Aufgabe und Verantwortung des Künstlers in bedrängten Zeiten. Auf einprägsame Weise entwickelt Keith Warner unter der allgegenwärtigen Figur des Gekreuzigten aus dem Isenheimer Altar, der über allen Szenen schwebt, die Johan Engels in groben Strichen für die Drehbühne entworfen hat, einen markanten historischen Bilderbogen. Neben plakativen Massenszenen rückt Warner die Aufmerksamkeit immer auf die Dialoge, in der Politik und Kultur verhandelt werden, beispielsweise in der Begegnung des Malers mit dem kunstsinnigem Mainzer Erzbischof Kardinal Albrecht von Brandenburg, dem Kurt Streit mit seinem hell markanten Tenor gleisnerische Schärfe und spannende Diskussionsfreude verleiht.
Solche markanten Szenen werden getragen von der mustergültigen Besetzung, sei es der 75jährige Franz Grundheber als machtvoller Riedinger und Führer der Lutheraner, der heldentenoral auffahrende Schwalb des Raymond Very, Albrechts zwielichtiger Kanzler Capitano, dem Charles Reid hintergründige Farben verleiht, sei es die expressive Ursula, der hier manchmal sehr scharf klingenden Manuela Uhl, der Katerina Tretyakovas innig und berührend gesungene Schwalb-Tochter Regina gegenübersteht. Kraftvoll, bewegend und wortklar, geradezu übermächtig singt und gestaltet Wolfgang Koch den Mathis, der die Malstube verlässt, da „so viele Hände gebraucht werden, die Welt zu verbessern“ und in der Weltabkehr sein Künstlertum wiederentdeckt und sein Meisterwerk vollendet; „Indem du zum Volk gingst, entzogst du dich ihm . . . geh hin und bilde“, gibt ihm die Erscheinung des Albrecht ein. Hinzukommen in einprägsamen Auftritten Oliver Ringelhahns Sylvester von Schaumburg und Magdalena Anna Hofmanns Gräfin Helfenstein. Mustergültig in dieser mustergültigen Aufführung auch Bertrand de Billy, der den Slowakischen Chor aus Bratislava trennscharf durch die großen Chorszenen führt und mit den Wiener Symphonikern Hindemiths Kollage expressiv ausleuchtet, so dass die spröden und breiten Momente, die das Werk eben auch hat, kaum auffallen. Manche Szenen im Verlauf der mit über drei Stunden auch reichlich langen Aufführung (2 DVD Naxos 2.110691-92) fallen in dieser Inszenierung etwas altväterlich, plakativ und gefällig routiniert aus, doch Warners straffe Hand ist durchgehend zu spüren, sein Wissen um die Forderung des Theaters. Rolf Fath
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