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Mit einer Hector-Berlioz-Edition wartet SWR Music auf (SWR19531CD). Roger Norrington dirigiert Orchester- und Vokalwerke – und zwar die Symphonie fantastique, die Femerichter-Ouvertüre, die Trilogie sacrée L’enfance du Christ, Benvenuto Cellini und das Requiem, die Grand messe des morts. Neu sind die Aufnahmen, die allesamt bei öffentlichen Aufführungen in den Jahren 2002 und 2003 mitgeschnitten wurden, nicht. Neu ist die Zusammenführung in einer Box. Sie erschienen bereits einzeln bei Hänssler classic in Kooperation mit SWR Music. Diese Zusammenarbeit wurde offensichtlich nicht fortgesetzt. Mit seinen zwölf Seiten fiel das Booklet diesmal äußerst sparsam aus. Tracklisten, Besetzungen, ein paar dürre Worte über den Dirigenten und das Orchester, ein Foto in schwarz-weiß. Sonst nichts. Für Berlioz ist das zu wenig. So bekannt ist er breiteren Kreisen nun auch nicht. Wer sonst als sie, sollten mit so einer abgespeckten Zusammenstellung angesprochen werden?
Dazu hätte es weiterführender Informationen bedurft. Berlioz-Kenner habe eh schon vieles beisammen. Sie können ein Lied davon singen, dass man nach einschlägiger Literatur auf dem deutschen Büchermarkt und im Internet lange suchen muss. Nicht nur einmal habe ich zu CD-Ausgaben zusätzlich die originalen Plattenkassetten erworben, nur um an aussagekräftige Booklets mit wissenschaftlichen Texten zur den jeweiligen Produktionen und mehrsprachigen Librettos zu gelangen. Jahrzehntelange Ignoranz gegenüber Berlioz im Nachkriegsdeutschland wirkt nach. Dabei gab es durchaus hoffnungsvolle Ansätze, die leider nicht konequent weiterverfolgt wurden. Schauplatz war übrigens Stuttgart, wo der inzwischen 88-jährige Norrington von 1998 bis 2011 als Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters und des SWR wirkte. Heute ist er Ehrendirigent.
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Einer seiner Vorgänger ist Hans Müller-Kray (1908-1969) gewesen. Sammler kennen ihn von unzähligen Aufnahmen aller Genres. In seiner Zeit war der Süddeutsche Rundfunk noch eigenständig. Erst 1998 wurde er mit dem Südwestfunk zum Südwestrundfunk (SWR) zusammengeschlossen. Hauptstandorte sind nun Baden-Baden, Mainz und Stuttgart, wo die Verwaltung ihrer Sitz hat. Der Dirigent wurde als Hans Müller geboren. Den Namenszusatz Kray wählte er nach seinem Geburtsort, der inzwischen ein Stadtteil von Essen ist und ließ ihn sich sogar amtlich bestätigen. Er wuchs in einer kinderreichen Bergarbeiterfamilie auf. Nach seiner musikalischen Ausbildung trat er 1934 seine erste Stelle als Kapellmeister in Münster an und stieg 1942 zum Chefkapellmeister am Reichssender Frankfurt am Main auf. Nach Kriegsende arbeitete er bis 1948 als Erster Kapellmeister am Staatstheater Wiesbaden und wurde dann von der amerikanischen Militärregierung zum Leiter der Hauptabteilung Musik und in Personalunion zum Chefdirigenten des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart beim Süddeutschen Rundfunk ernannt, ist bei Wikipedia zu erfahren. In dieser Doppelfunktion war er bis zu seinem Tode tätig. Müller-Kray starb an seinem Arbeitsplatz im Stuttgarter Funkhaus an plötzlichem Herzversagen. Kurz zuvor hatte er noch Romeo und Julia von Berlioz eingespielt. Womit wir beim Thema wären. Müller-Kray hatte eine tiefe Neigung zum Werk von Hector Berlioz. Er erkannte dessen revolutionäre Bedeutung als andere hierzulande vielleicht nicht einmal seinen Namen richtig schreiben konnten. Qua Amt war es ihm möglich, die Rundfunkhörer mit Berlioz bekannt zu machen. Er spielte zahlreiche Werke für den Sender ein, die nun im Archiv des SWR lagern. Gelegentlich gelangte zumindest ausschnittweise ein altes Band ins aktuelle Programm. Sonst wüsste man nichts von diesen Pioniertaten. In gut vernetzten Sammlercommunitys glühten dann die Telefonleitungen. Du musst unbedingt das Radio einschalten und die Mitschnitttechnik anwerfen!
Zunächst machten die Trojaner die Runde. Müller-Kray ließ eine stark gekürzte Funkfassung in deutscher Sprache herstellen und nahm sie im Dezember 1961 auf. Otto Erich Schilling, in Stuttgart als Komponist, Musikkritiker und Publizist tätig (es gibt über ihn einen Wikipedia-Eintrag in Schwäbisch), steuerte Zwischentexte für einen Erzähler bei, der durch die komplexe Handlung führt, die mit der Reduktion des gewaltigen zweiteiligen Werkes nicht übersichtlicher wird. Aus vier Stunden Spieldauer wurden knapp zwei. Das Publikum an den Radioapparaten sollten aber unbedingt verstehen, was geschieht. Die deutsche Übersetzung stammt offenbar aus unterschiedlichen Quellen. Nach Angaben des Musikwissenschaftlers Reinhard Ermen in einer SWR2-Sendung anlässlich des 200. Geburtstages von Berlioz im Jahre 2003 wurde für den ersten Teil – Die Einnahme von Troja – die Übersetzung der Schriftstellerin Emma Klingenfeld (1848-1935) herangezogen. Sie hatte auch die Oper Beatrice et Benedict übersetzt und war in der Frauenbewegung aktiv. Für den zweiten Teil – Die Trojaner in Karthago – wurde die Übertragung des umtriebigen und sehr gut vernetzten Komponisten, Pianisten und Musikschriftstellers Otto Neitzel (1852-1920) benutzt. Die kritische Gesamtaufgabe der Werke von Berlioz in Noten, mit der 1965 beginnen wurde, stand Müller-Kray noch nicht zur Verfügung. Es sei „noch nicht um die Finessen der Philologie aus letzter Hand“ gegangen, die heute als selbstverständlich vorausgesetzt werden, so Ermen. Man habe einen interessanten Komponisten fürs Repertoire zurückgewinnen wollen. In der DDR blieb Berlioz bis zu deren Untergang 1989 ein weitgehend Unbekannter. Der Schallplattenmarkt gab nicht vielmehr her als die Symphonie fantastique. Eine gewisse Pflege betrieb auch im anderen Teil Deutschlands der Rundfunk. Es wurden aber fast ausschließlich Orchesterstücke und kleinere Chorwerke produziert. Die Opern blieben außen vor.
Nach den Erfahrungen mit der bahnbrechenden Produktion des Werkes von Colin Davis 1970 bei Philips und den frühen Einspielungen von Thomas Beecham (BBC 1947) und Hermann Scherchen (Westminster 1951) in der Originalsprache, die erst später auf den deutschen Markt gelangten, ist die Stuttgarter Besetzung gewöhnungsbedürftig. Man hatte keine andere. Wer sich auf die Einspielung, die in Reduktion auf die musikalischen Nummern beim Hamburger Archiv für Gesangskunst herausgegeben wurde, einlässt, wird den Enthusiasmus der Mitwirkenden für die ungewohnte Herausforderung erkennen. Den stärksten Eindruck hinterlässt für mich die Altistin Hilde Rössl-Majdan als Kassandra. Sie sieht das Ende Trojas heraufziehen und gibt ihrer finsteren Unruhe stimmlich den gebotenen Ausdruck. Für die Dido bringt die vornehmlich als Konzertsängerin beschäftigte Hanni Mack-Cosack eine auffällig helle Stimme mit. Um einen vertieften Eindruck von dieser Künstlerin zu gewinnen, kann zum Vergleich ihre Euridice in Monteverdis L’Orfeo von 1955 bei der Archivproduktion der Deutschen Grammophon unter August Wenzinger herangezogen werden. Sie singt sehr wortverständlich. In die Trunkenheit des großen Liebesduetts am Ende des vierten Aktes unter dem Sternenhimmel Karthagos mischt sich ein Hauch von Schmerz und Wehmut. Der tragisch endende Abschied von Aeneas liegt in der schwülen Luft. Josef Traxel, einer der beliebtesten und vielseitigsten Sänger im Nachkriegsdeutschland, bleibt als trojanischer Held manches schuldig. Den heldischen Tönen, zu denen er durchaus fähig ist, fehlt der natürliche Ursprung. Sie wirken aufgesetzt. Und in den lyrischen Passagen bleibt er mir zu sehr in der gefälligen Ästhetik deutschen Spielopern stecken.
Und Müller-Kray? Der agiert mitunter etwas unentschlossen. Als sei er noch auf der Suche nach der für ihn richtigen Ausdrucksform. Ich vermisse dann doch die Magie von Beecham, Davis oder Nelson. Das soll aber kein schnöder Undank sein. Die Bedeutung, dass unter seien erfahrenen Händen etwas zustande kam, was es bis dahin nicht gab, nämlich eine neue Berlioz-Tradition, ist allenthalben zu spüren. Neuland wurde bei dem Sender auch mit dem Liederzyklus Sommernächte (Les nuits d’été) beschritten. Die Verse von Théophile Gautier hatte Peter Cornelius ins Deutsche übertragen. Selbst Komponist und dazu noch Dichter, war er am ehesten in der Lage, die Übersetzung der musikalischen Struktur des Originals anzupassen. Cornelius und Berlioz kannten sich persönlich. Der Franzose hätte garantiert Einspruch erhoben, wären er mit der Arbeit des Kollegen nicht einverstanden gewesen. Es dürfte sich um die einzige Einspielung in deutscher Sprache handeln. Eine andere habe ich nicht gefunden. Sie entstand bereits 1955. Solist ist Helmut Krebs. Es würden einige Jahrzehnte vergehen, bis sich wieder Männer an den Zyklus, der als Frauendomäne unantastbar schien, wagten. Krebs hat, was man einen Charaktertenor nennt. Er erinnert mich stark an Patzak, von dem eine Aussage überlieft ist, die sich auch auf Krebs mit seiner feinsinnigen Diktion beziehen lässt: „Stimm‘ brauchst kane, singen musst können.“ Schade, dass die historisch wertvolle Einspielung schwer zugänglich ist. Sie gelangte nur selten auf Sendung und gehört endlich auf CD veröffentlicht.
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Mein liebster Berlioz unter Müller-Kray ist Des Heilands Kindheit (L’Enfance du Christ), am 3. Januar 1961 in Stuttgart aufgenommen. Wieder wurde die deutsche Übersetzung von Cornelius verwendet, die Breitkopf als Klavierauszug noch immer im Programm hat. Mit dabei ist abermals Hanni Mack-Cosack. Sie singt die Maria, der schweizerische Bassbariton und Kunstmaler Arthur Loosli den Joseph, Otto von Rohr den Herodes. Die große Aufgabe des Erzählers wurde Georg Jelden übertragen, der sie noch als Tenor interpretiert. Der Dirigent kann nicht mit der musikalischen Delikatesse französischer Produktion in der Originalfassung aufwarten. Dafür erzeugt er eine am deutschen Text orientierte ergreifende Stimmung, die das in seiner Form einzigartige Stück auch jenen nahebringt, die des Französischen nicht mächtig sind. Es gelingt dem Dirigenten, die in ihrer Form teils sehr unterschiedlichen musikalischen Einzelteile in einem gleichmäßigen Fluss zu halten und zu einem Großen und Ganzen zu formen. Dabei kam ihm zustatten, dass er für die Aufnahme nur einen Tag zur Verfügung hatte. In privaten Beständen von Sammlern, die selbst in die Jahre gekommen sind, finden sich noch eigene Tonbandmitschnitte vom Radio. Ich hatte Glück und konnte die Aufnahme für den ausschließlich persönlichen Gebrauch gegen Gebühr noch direkt bei SWR-Media erwerben. Das soll nicht mehr möglich sein. Umso dringender wäre es, dieses historische Dokument mit seinen wertvollen Alleinstellungsmerkmalen offiziell herauszugeben und bei dieser Gelegenheit akustisch etwas aufzufrischen. Die Techniker von SWR Music verfügen über große Erfahrungen beim Remastering. Die frühen Monoaufnahmen von Fritz Wunderlich – um nur dieses Beispiel zu nennen – klingen jetzt wie neu. Insofern wurde mit der Norrington-Box eine Chance vertan. Es hätte sich angeboten, noch mehr mit den eigenen Pfunden zu wuchern – der neuen die alte Aufnahme gegenüberzustellen.
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Für die Berlioz-Rezeption, die in jüngster Zeit wieder Fahrt aufgenommen hat, hätte sich auf diese Weise mit vorhandenem Material ein exklusiver Ansatz finden lassen, den es so noch nicht gab auf dem Musikmarkt. Norrington hat mit Christiane Oelze (Maria), Christopher Maltman (Joseph), Ralf Lukas (Herodes) und Marc Padmore (Erzähler) eine bemerkenswert spannende Interpretation zustande gebracht. Als Meister im Gebrauch des Ritardando, bringt er eine Dynamik in das Geschehen, dem man sich nicht entziehen kann. Norrington spricht sein Publikum ganz direkt an. Die Trilogie sacrée, die 1854 uraufgeführt wurde, wird unter seinen Händen zum packenden Gegenwartsdrama über Flucht, Vertreibung und Suche nach sicherer Herberge. Doch wie gesagt, es muss auch inhaltlich nachvollziehbar sein.
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Ein Deutsch gesungener Benvenuto Cellini findet sich nicht im SWR-Archiv. Hätte Müller-Kray länger gelebt, er wäre vielleicht noch zustande gekommen. Aber es gibt ihn vom Österreichischen Rundfunk mit dem Heldentenor Fritz Uhl in der Titelrolle, erschienen bei Walhall auf CD und noch immer zu haben. Kompliziert wie bei den Trojanern ist auch die Werkgeschichte dieses Werkes über den Florentiner Goldschmied und Bildhauer, das bei der Uraufführung 1838 an der Pariser Oper enttäuschte. Berlioz zog es daraufhin zurück. Franz Liszt glaubte an einen Erfolg. Er brachte den Cellini 1852 in Weimar in einer neuen, gestrafften Fassung in deutscher Sprache auf die Bühne. Die Oper wurde von ursprünglichen vier Bildern auf drei Akte gekürzt und so auch 1853 in London unter der Leitung von Berlioz aufgeführt. 1856 arbeitete Berlioz die Rezitative zu gesprochenen Dialogen um, die laut Wikipedia erst am 2004 im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen in einer deutsche Fassung von Peter Theiler zur ersten Aufführung gelangte. Benvenuto Cellini war lange in Vergessenheit geraten und kam erst 1966 im Royal Opera House Covent Garden wieder auf die Bühne. Die Folge war die bis heute unerreichte Platteneinspielung bei Philips mit Nicolai Gedda in der Titelrolle, die von Colin Davis für Philips geleitet wurde.
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Roger Norrington bedient sich der dreiaktigen Weimarer Fassung in französischer Sprache und folgte offenbar der Variante, die 1853 in London gegeben wurde. Insofern ist der Hinweis auf Weimar nur bedingt korrekt, denn dort war eine deutsche Übersetzung verwendet worden. Das in der Weimarer Hofdruckerei 1852 veröffentlichtes Libretto, das auch die Besetzung am Großherzoglichen Hoftheater der Stadt auflistet und in der Bayrischen Staatsbibliothek online abgerufen werden kann, nennt als Übersetzer August Ferdinand Riccius (1819-1886), der als Kapellmeister am Leipziger Stadttheater angestellt und mit Liszt bekannt war. Die Übersetzerdienste von Peter Cornelius wurden erst für den Druck des Klavierauszuges herangezogen. Es ist viel eigene Recherche nötig, will man die Hintergründe dieser speziellen Weimarer Fassung ergründen. Norrington war mit seinem SWR-Orchester für eine konzertante Aufführung am 19. September 2003 im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt angereist. Der MDR stellte dafür seinen Rundfunkchor zur Verfügung. Bekanntlich kommt die Akustik des Saals bei großen Besetzungen an Grenzen. So auch hier.
Cellini ist auch in gekürzter Form ein handfestes Theaterstück mit viel Action, Chören hinter und auf der Szene. Mitreißende Theatralik kann eine konzertante Darbietung nur bedingt liefern. Das Stück zerfällt zu sehr in einzelne Nummern. Norrington kann dieses Manko nicht immer ausgleichen. Seine Stärken als Berlioz-Interpret zeigen sich diesmal in Details und nicht so sehr im Ganzen. Die temperamentvolle Amerikanerin Laura Claycomb gefällt als Teresa, klingt in den Höhen aber leicht belegt. Ihr Landsmann Bruce Ford singt den Cellini mit einigem Schmelz wie eine italienische Partie. Am besten schneidet für mich die Finnin Monica Groop in der Hosenrolle als Ascanio ab. Franzosen sind nicht beteiligt. Dafür etliche deutsche Sänger wie Franz Hawlata als Balducci, weshalb es vielleicht doch einen Versuch wert gewesen wäre, die originale Weimarer Fassung (in Deutsch!) zu geben (Foto oben: der Dirigent Hans Müller-Kray/ Mon Intention). Rüdiger Winter