Alfred Cellier zum Zweiten: Bereits vor kurzem erschien bei Dutton die komische Oper The Mountbanks unter der der Leitung von John Andrews, die Kollege Matthias Käther für uns besprach Nun lässt Naxos Altmeister Richard Bonynge mit dem Victorian Orchestra eine weitere „pastoral comedy“ von Alfred Cellier, Dorothy, auferstehen, ebenfalls eine veritable Ersteinspielung wie die Mountbanks. Dorothy hatte, wie der Klappentext bei Naxos anmerkt, die längste Bühnenlaufbahn, die eine viktorianische Oper je aufweisen konnte und stellte Dauerbrenner wie The Mikado oder Ruddigore von G & S in den Schatten – sogar in dem Maße, dass aus den Erlösen das Lyric Theatre in der Londoner Shaftsbury Avenue finanziert werden konnte. Und es muss auch gesagt werden, dass bis zu Noel Cowards Zeiten, noch bis in die Sechziger sich die Bezeichnung „Friends of Dorothy“ als gewisperter Begriff für Homosexuelle gehalten hat. Das nennt man Nachwirkungen.
Für eine britische operetta von 1886 haben wir uns einen britischen Fachmann geholt, John Groves, der bei den Kollegen vom Operetta Research Center Amsterdam seine Kritik an der neuen Aufnahme, die wir mit Dank übernehmen. Daniel Hauser besorgte wieder einmal die Übersetzung. Über John Groves heißt es im Netz (neben einem lustigen Foto in Polizistenuniform): Experienced Musical Director with a demonstrated history of working in the entertainment industry. Skilled in Musical Theatre, Choral, Dance, Jazz, and Music Composition. Strong arts and design professional with a Associate’s degree focused in Singing, theory from London College of Music. Das klingt doch gut. Danke an ORCA und John Groves. G. H.
Nun also John Groves über Celiers Dorothy bei Naxos (8.660447 mit Libretto digital): im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts die Eisenbahnstrecken zwischen London und dem Südosten Englands gebaut wurden und daraufhin am frühen Abend häufiger, zuverlässiger (!) Zugverkehr aus den Vororten in die Hauptstadt (mit Rückfahrt einige Stunden später) gewährleistet war, kannte man lange Serien der Produktionen der Theater im Londoner West End mitnichten. Mikado von Gilbert & Sullivan erzielte den längsten Durchlauf all dieser Produktionen und kam auf 672 Vorstellungen, doch wurde dies wenige Jahre später locker überboten durch den phänomenalen Erfolg von Dorothy, welche in drei verschiedenen Theatern gar auf 931 Vorstellungen kam. Das letzte dieser Häuser, das Lyric Theatre, wurde aus den Gewinnen von Dorothy bezahlt. Gleichzeitig tourten fünf Kompanien damit durch das Vereinigte Königreich wie auch nach Australien; aber als Dorothy Anfang des 20. Jahrhunderts in London wiederaufgenommen wurde, floppte dies zweimal. Seither wurde das Werk selbst von Amateuren selten aufgeführt, zumal die Partitur und die Orchesterstimmen in den frühen 1960er Jahren bei einem Brand beim Verleger Chappell verlorengingen.
Alfred Cellier war über viele Jahre hinweg musikalischer Leiter der D’Oyly Carte Opera Company am Savoy Theatre und komponierte für die Company Stücke für vor und nach dem jeweils gespielten Hauptwerk des Abends sowie Stücke in voller Länge. Seine letzte Bühnenarbeit, The Mountebanks, zusammen mit W. S. Gilbert geschrieben, wurde kürzlich ebenfalls erfolgreich eingespielt.
1876 schrieb Cellier Nell Gwynne, was allerdings als Misserfolg galt. Da er niemals Ideen verschwendete, bat er ein paar Jahre später B. C. Stephenson (den Autor von Sullivans The Zoo), ein neues Libretto zu schreiben, dessen Texte zur bereits komponierten Musik passten, wie es Lorenz Hart 50 Jahre später für Richard Rodgers tun sollte.
Dies mag erklären, wieso manche der Texte von Dorothy nicht sonderlich inspiriert wirken. Das CD-Booklet vermittelt uns, dass das Stück tatsächlich sehr amüsant ist. Stilmäßig erinnert es stark an Germans Merrie England, das etwas später veröffentlicht wurde. Cellier nannte es „eine pastorale komische Oper“, und das zurecht. Seinerzeit wurde die Musik als „hübsch, anmutig und charmant“ empfunden, was eine gute Sache ist; um ehrlich zu sein, ist sie dies alles, aber nicht sehr einprägsam.
Die Ouvertüre ist das sinfonischste Stück, dauert beinahe acht Minuten, aber selbst sie verwandelt sich ziemlich rasch in ein Potpourri verschiedener Melodien. Die bekannteste Nummer ist möglicherweise „Queen of my Heart“, tatsächlich nach der Premierenvorstellung aus dem früheren Werk Old Dreams eingefügt, und zwar für Hayden Coffin, einen der drei Stars der Uraufführung (die beiden anderen waren Ben Davies und Marie Tempest).
Die Handlung dreht sich um Dorothy, die sich in ländliche Kleidung hüllt, ihren Namen in Dorcas ändert und dadurch ihren ungezogenen Vetter bezaubert, der sich weigert, sie zu heiraten.
Die Operngesellschaft Victorian Opera, die für diese CD verantwortlich zeichnet, hat in den letzten fünfzehn Jahren mehrere britische Opern eingespielt: Dorothy ist bei weitem die erfolgreichste. Man bedient sich für den superben Chor bei Studenten des Royal Northern College of Music: nicht zu groß und mit nahezu perfekter Diktion, sind besonders die Tenöre beeindruckend. Für die Hauptrollen nahm man hauptsächlich graduierte Sänger des RNCM sowie ein kleines Theaterorchester, welches sich ebenfalls aus Musikern des Colleges zusammensetzt.
Soweit ich verstehe, wurden Teile des Werkes in Australien gefunden, wo ein reduziertes Orchester verwendet wurde, um Geld zu sparen, basierend auf Celliers Original.
Der unermüdliche Richard Bonynge hat die Gesamtleitung inne und sorgt mit seinem Dirigat für Leichtigkeit und einen Stil, der völlig im Einklang mit dem ist, was Cellier beabsichtigte.
Die Sopranistin Majella Cullagh brilliert in der Titelrolle der Dorothy. Lucy Vallis singt ihre Cousine Lydia und Stephanie Maitland übernimmt Phyllis, die Tochter des Gastwirtes, mit einem erstaunlich ausgedehnten und attraktiven Vibrato.
Die männlichen Rollen sind tadellos charakterisiert, wiederum mit exzellenter Aussprache. Michael Vincent Jones, der Lurcher, den Offizier des Sheriffs, mimt, versteht seine Partie ganz klar und sein Lied „I am the Sheriff’s faithful man“ darf als eines der Highlights angesehen werden.
Ebenso erfolgreich präsentiert sich der Tenor Matt Mears als Geoffrey („Though born a man“), den Dorothy schließlich heiratet, ebenso wie John Leuan Jones als Sherwood, einst die Rolle des Hayden Coffin. Edward Robinson als Dorothys Vater, Squire Bantam, überzeugt mit seinem sehr angenehmen Bariton in seinem einzigen Auftritt mit „Contentment I give you“, auch wenn er für diese Rolle womöglich etwas jung klingt. (Originaltext von John Groves/ Übersetzung Daniel Hauser)
More historical detail can be found in Kurt Gänzl’s Encyclopaedia of Musical Theatre, Victorian Opera publish an illustrated guide to the opera, available from their website. John Groves/ Operetta Research Center/ 20 January, 2019