„Nature or nurture“ – also Erziehung oder erbliche Vorbestimmung? Diese Frage steht im Zentrum der charmanten Sozialexperimentoperette in drei Akten von André Messager, Les p’tites Michu, 1897 in Théâtre des Bouffes Parisiens uraufgeführt und nun in gewohnt luxuriöser Weise beim Palazetto Bru Zane im bekannten Buch-CD-Format festgehalten.
Das war nicht nur die ehemalige Bühne von Jacques Offenbach, wo seine durchgedrehten Farcen der neuen Form des musikalischen Unterhaltungstheaters ihren Stempel aufdrückten, sonders es war auch eine extrem elegante Bühne, wo man nur in Abendtoilette reinkam. Man darf also annehmen, dass die Geschichte um ein junges aristokratisches Mädchen, das in den Wirren der Revolution 1793 bei der Arbeiterfamilie Michu unterkommt und dort zusammen mit deren eigener Tochter absolut gleichberechtigt zum Teenager herangezogen wird, primär für das (geld)aristokratische Pariser Publikum gedacht war. Der Witz der Story: Vater Michu kann nach dem Baden der beiden Babys Marie-Blanche und Blanche-Marie nicht mehr auseinanderhalten, er weiß nicht, welches seine eigene leibliche Tochter ist, welches das Ziehkind, dessen Vater der berühmte Général des Ifs ist. Also tut Michu kurzerhand so, als seien beides seine Kinder, die er erst in den Markthallen von Paris herumtollen lässt, wo er einen Käseladen betreibt, dann in ein Internat schickt – was so lange gut geht, bis der General plötzlich vor der Tür steht und seine Tochter zurückhaben möchte. Weil er sie als „Belohnung“ seinem Kampfkameraden Gaston Rigaud – einem schmucken Offizier – zur Frau geben will. Das ist, mehr oder weniger, das einzige Interesse, das der hohe Herr an seinem Nachwuchs hat, nach 16 Jahren.
Die Handlung setzt ein im Mädchenpensionat von Mademoiselle Herpin, die mit strenger Hand versucht, den pubertierenden Nachwuchs Frankreichs zu heiratsfähigen Frauen und Müttern heranzuziehen. Es ist eine beliebte Situation, die man auch aus Franz von Suppés Operette Das Pensionat (1860) kennt. Sie erlaubt es den Autoren, Horden von hübschen jungen Dingern über die Bühne zu jagen, die davon träumen, die große Liebe in den Armen eines großen Helden zu finden. Gaston ist da genau der Richtige: „C’est un héros“ sagt Marie-Blanche voller Bewunderung als sie ihn das erste Mal sieht, als er bei seiner Tante Mademoiselle Herpin auftaucht, nicht ahnend, dass seine Zukünftige unter den Schülerinnen rumtollt. Die anderen Mädchen sind nicht minder kreischend entzückt von ihm. Die Hahn-im-Korb-Situation dürfte den „Theaterhabitués“ der Bouffes Parisiens gefallen haben, ist sie doch ein feuchter Altherrentraum.
Und dann? Da nicht auszumachen ist, welches der Mädchen eine Marquise ist, müssen die beiden Maries die Sache unter sich ausknobeln. In Akt 2 verzichtet Blanche-Marie mit nobler Geste auf den schönen Gaston und kehrt mit ihren Eltern in den Käseladen von Les Halles zurück, wo sie eine Zukunft als Ehefrau des einfältigen Ladenangestellten Aristide erwartet. Blanche-Marie wiederum muss sich im Schloss ihres Vaters „aristokratisch“ benehmen, was ihr schwer fällt.
Im dritten Akt stellen beide Mädchen kurz vor der Eheschließung fest, wie unglücklich sie mit ihren Lebensaussichten sind. Also tauschen sie, denn eigentlich ist Blanche-Marie die „wahre“ Aristokratin, deren ererbter Adel jetzt erst zum Vorschein kommt, während die vulgärere Marie-Blanche das „wahre“ Arbeiterkind ist und sich wohler zwischen Gemüse- und Käsehändlern fühlt. Sie mag auch den einfältigen Aristide viel lieber. Also: Ende gut, alles gut. Doppelhochzeit, Jubelchor, Vorhang. Man möchte sich lieber nicht fragen, was heutige Feministinnen wohl zu dieser Geschichte sagen würden. Oder doch?
Für die erste Operette in ihrer CD-Serie hat der Palazzetto Bru Zane mit der Theatergruppe Les Brigands zusammengearbeitet und das Stück live aufgenommen, während einer Aufführung im Théâtre Graslin in Nantes. Am Start sind durchweg junge Sänger, die in der Produktion aussehen wie ein Update von Les Demoiselles de Rochefort, was den Arbeiterklasse-vs.-Aristokratie-Stoff etwas kontrastarmer macht. Aber natürlich sehen Violette Polchi (Marie-Blanche) und Anne-Aurore Cochet (Blanche-Marie) charmant aus als Kopien von Catherine Deneuve und Françoise Dorléac, die im Film die Zwillingsschwestern Delphine und Solange spielen. Eine durchaus vergleichbare Konstellation, die einem cleveren Dramaturgen geradezu zwangsläufig aufgefallen sein muss.
Letztlich lebt das Stück von Charaktertypen, die möglichst extrem kontrastieren. Das tun sie in dieser Produktion nur bedingt, auch akustisch gesprochen. Die einzige echte Charakterstimme hat Caroline Mang als Mademoiselle Herpin, die ihre Szenen zu schrägen Highlights der Aufführung macht. Und Romain Dayez als Hilfskraft des Generals, der die Mädchen aufspüren und heimbringen soll, schafft es gegen seinen Jeune-Premier-Typ eine durchgeknallte Slapstick-Figur zu zeichnen, die vor allem im ersten Akt grandiose Momente hat. Momente, bei denen man den Witz auch hört!
Aber alle anderen sind nicht wirklich individuell genug. Das gilt besonders für Boris Grappe als Général des Ifs und die beiden Heiratskandidaten: Artavazd Sargsyan als Aristide ist nicht „einfältig“ genug für die Rolle, Philippe Estèphe als Gaston hat kaum tenoralen Glanz und definitiv nicht genug Selbstverliebtheit, um die Rolle witzig zu gestalten. Den beiden „jungen Michus“ wiederum fehlt der Soprancharme, die Stimmen haben nicht das silberne Funkeln, das Soubretten einst als Grundvoraussetzung mitbringen mussten.
Allerdings klingen alle Beteiligten eindeutig „Französisch“ und auf Grund der Live-Situation auch sehr lebendig in den Dialogen. Ein enormes und (!) doppeltes Plus. Es fällt auf, dass es allen schwer fällt, die Dialoge und Gesangsnummern ineinander übergehen zu lassen, oder anders formuliert: niemand versucht in den Gesangsstücken etwas anderes zu tun, als nur zu singen. Da hat besonders Dirigent Adam Benwzi mit Leuten wie Dagmar Manzel und Katharine Mehrling in Berlin an der Komischen Oper gezeigt, wie das überzeugend anders geht. Der junge Pierre Dumoussaud am Pult des Orchestre National des Pays de la Loire ist offensichtlich nicht jemand, der sich für einen solchen „neuen“ Umgang mit Operette interessiert. Was ich persönlich schade finde. Denn es hätte die Gesamtwirkung des Stücks und dieser Aufnahme enorm gesteigert, wenn da in der Musik mehr Kontrast und Gestaltung zu hören wäre. Schmiss hat sie allerdings genug, auch hier.
Es kursieren etliche Videoclips von der Aufführung, auf denen man sieht, wie viel Spaß die Beteiligten auf der bonbonbunten Bühne haben. Sie tourten nach der Aufführung in Nantes monatelang durch Frankreich, im Sommer 2019 kommen sie mit Les P’tites Michu auch nach Paris. Da die Stimmen nur begrenzt auf Tonträger überzeugen, wäre eine DVD-Ausgabe eigentlich besser und wünschenswerter. Und das sage ich nicht nur, weil ich Romain Dayez unbedingt auch sehen möchte. (Wieso spielt er eigentlich nicht Gaston?)
Angesichts der Tatsache, dass aktuell keine alternative (historische) Aufnahme verfügbar ist, erlaubt diese Einspielung auf alle Fälle das Kennenlernen eines leichtfüßigen Stücks mit einem Libretto von Albert Vanloo und Georges Duval und koketter Musik von Messager, die im Vergleich zu Vorläufer Offenbach allerdings in den Finali niemals „durchdreht“ und in Overdrive schaltet.
Die Sozialdarwinismus-Story an sich bietet Regisseuren auch jenseits von Demoiselles–de-Rochefort-Assoziationen interpretatorischen Spielraum, ohne dass das Ganze gleich in eine Pädophilie-Parabel à la „Thank Heaven for Little Girls“ kippen muss. Obwohl Maurice Chevalier sicherlich ein großartiger Général gewesen wäre.
Besonders lohnend ist die CD-Ausgabe wegen des einleitenden Essays meines Freundes Christophe Mirambeau, der wie kein Zweiter um die Besonderheiten der französischen Operette weiß und letztes Jahr eine Messager-Biografie herausgebracht hat, über die Operettenguru Kurt Gänzl in seiner Rezension auf der seite des Operaetta Research Center Amsterdam in Ekstase geriet. Was nicht allzu oft passiert. Außerdem kann man im Booklett Archivfotos von Uraufführungsproduktion sehen sowie Notendeckblätter, u.a. auch von einer deutschen Ausgabe, die Paul Lincke arrangiert hat.
Ich bin gespannt, wie die Operettenserie bei Palazzetto Bru Zane weitergeht, speziell in Bezug auf Hervé, dem die Firma Aufführungen aber keine Aufnahme gewidmet hat, jedenfalls keine, die bislang veröffentlicht wurde. Ein bisschen mehr Mut aus ausgetretenen Gesangspfaden herauszutreten würde ich Alexandre Dratwicki als künstlerischem Leiter bei Bru Zane schon wünschen. Denn wie cpo mehrfach bewiesen hat: Ausgrabungen alleine beleben vergessene Stücke noch nicht wieder, es braucht auch Originalität. Auf Catherine Deneuve zu rekurrieren ist allein noch nicht originell genug, besonders wenn solche Verweise keinerlei hörbare Konsequenzen haben. Da ist also noch Luft nach oben.
Was nichts daran ändert, dass ich diese CD-Ausgabe und die dazugehörige Bühnenproduktion einen gelungen Auftakt zum Operettenjahr 2019 finde, ein Jahr, das im weiteren Verlauf vermutlich eher von Jacques Offenbachs 200. Geburtstag dominiert sein wird. Von Offenbach gibt’s immerhin auch eine hinreißende Markthallenoperette, nämlich Mesdames de la Halle (1862). Auf der alten EMI-Aufnahme kann man noch all die einzigartigen französischen Charakterstimmen hören, von Mady Mesplé, Charles Burles, Michel Trempont et al, die heute schmerzlich fehlen. Ich glaube schon, dass es solche Stimmen nach wie vor gibt, aber sie werden entweder nicht in Operetten eingesetzt oder der Nachwuchs traut sich nicht, mit Individualität aus dem Rahmen zu fallen. Dabei geht es doch in Oper und Operette immer in Individualismus – ganz sicherlich in Les p’tites Michu. Kevin Clarke, Operetta Research Center Amsterdam
PS,.: Und für die Unkundigen – Kevin Clarkes Überschrift bezieht sich auf Maurice Chevalier und sein wunderbares gleichnamiges Lied, das er 1958 in dem Film Gigi sang. Wikipedia gibt erschöpfende Auskunft zum Film, zu den „Machern“ Alan Jay Lerner und Frederick Loewe und zur Geschichte des Liedes auf dem Broadway 1957 und danach. G. H.