Quasi als Epilog zu seiner Manon schrieb Jules Massenet etwa zehn Jahre später Le Portrait de Manon auf ein Libretto von Georges Boyer für die Pariser Opéra-Comique, wo das knapp einstündige Werk 1894 uraufgeführt wurde. Opera Rara hat in Verbindung mit dem Jette Parker Young Artists Programme eine szenische Aufführung im Linbury Studio Theatre am Royal Opera House Covent Garden 2011 live mitgeschnitten und veröffentlicht – damit ihrem stattlichen Katalog seltener oder unbekannter Titel eine weitere Trouvaille hinzugefügt.
Im Stück erinnert sich Des Grieux anhand eines Porträts an die glücklichen Tage mit Manon und das tragische Ende seiner Geliebten. Sein 18jähriger Neffe und Schüler Jean gesteht ihm, dass er verliebt sei. Es ist die 16jährige Aurore, die Des Grieux an seine Manon erinnert, die er aber für seinen Neffen als nicht standesgemäß erachtet. Auch sein exzentrischer Freund Tiberge kann ihn nicht überzeugen. Der allerdings weiß, dass Aurore die Tochter von Manons Bruder Lescaut ist, was die verblüffende Ähnlichkeit mit Des Grieux’ ehemaliger großer Liebe erklärt. Und er gibt dem jungen Paar schließlich seinen Segen. Massenets Musik spielt raffiniert mit Zitaten aus seiner berühmteren Oper, ist ein lyrisch-flirrendes Gespinst von sublimer Textur und der Dirigent Geoffrey Paterson bringt die feinen Valeurs mit der Southbank Sinfonia zu großer Wirkung.
Des Grieux ist hier ein lyrischer Bariton, den ZhengZhong Zhou mit kultivierter Stimme von sinnlich-resonantem Ton singt. In seinem Solo „Souvenirs de Des Grieux“ übernimmt er Manons berühmtes Motiv ihres ersten Auftritts und lässt zudem deren spätere Themen anklingen. So auch in seinem „Cantabile“ gegen Ende des Stückes, das Zhou zärtlich-sanft, aber auch schmerzlich-nostalgisch gestaltet. Jean ist eine Travestierolle für einen Mezzo, wie sie das späte 19. Jahrhundert liebte, wenn es galt, jugendliche Liebhaber darzustellen. Man braucht hier nur an Octavian oder den Prinzen Charmant in Cendrillon denken. Hanna Hipp singt sie mit dunklem, recht reifem, ja strengem Timbre. In der Höhe spreizt sich die Stimme etwas und vermag insgesamt keinen jugendlichen Charakter zu evozieren, verleiht allerdings dem Verliebten mit leidenschaftlichem Vortrag (besonders im ausgedehnten Duett mit Jean) glaubhaftes Profil. Tiberge ist für einen Tenor komponiert (Pablo Bemsch mit viriler, erotischer Stimme), Aurore ist Susana Gaspar mit teils hübschem, teils herbem Sopran. Am besten gelingt ihr der Auftritt in Manons Kostüm, wo sie verführerisch „L’amour, ineffable mystere“ aus dem Off anstimmt.
Die Aufführung dieser Kammeroper mit den jungen Künstlern wurde ergänzt durch eine szenische Version von Berlioz’ Liederzyklus Les Nuits d’été in der vom Komponisten ursprünglich vorgesehenen Aufteilung der sechs Lieder für mehrere Stimmen. So hört man drei der vier Solisten noch einmal mit jeweils zwei Titeln. Der Tenor singt „Villanelle“ beherzt und zupackend, insgesamt vielleicht etwas übereilt, „Au cimetière“ dagegen ist in der wehmütigen Stimmung perfekt getroffen. Die Mezzosopranistin ist mit einem stimmungsvoll ausgebreiteten „Spectre de la rose“ und dem dunkel-geheimnisvoll intonierten „Sur les Lagunes“ zu hören. Der Sopranistin schließlich fallen „Absence“ und „L’Île inconnue“ zu, wobei sie ersteres schwebend und mit feinen piani vorträgt. Hier leitet Volker Krafft das Orchester mit Sinn für Farben und Kontraste. Wie stets ist die Präsentation der Ausgabe bei Opera Rara vorbildlich mit einem Booklet, das neben dem Libretto in Französisch und Englisch auch Szenenfotos der Aufführung in London sowie Porträts der beiden Komponisten enthält. Das Cover des Schubers schmückt ein Foto der Schriftstellerin Anaïs Nin, das in seiner Stimmung den Zeitgeist der Epoche stimmig wiedergibt.
Bernd Hoppe
Jules Massenet: Le Portrait de Manon (Zhou, Bemsch, Hipp, Gaspar; Southbank Sinfonia, Geoffrey Paterson)
Hector Berlioz: Les Nuits d’été (Bemsch, Hipp, Gaspar; Southbank Sinfonia, Volker Krafft) Opera Rara ORC47