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„Während Dietschs Oper (Le Vaisseau fantôme) ihre Karriere im Januar 1843 bereits beendete, startete jene von Wagner die ihrige just am 2. Januar 1843 im Königlichen Sächsischen Hoftheater in Dresden. Unter den Sängern der Premiere behält man bis heute den Namen Wilhelmine Schröder-Devrients in Erinnerung, die als Senta triumphierte. Scheinbar durch seinen Pariser Misserfolg angestachelt, vollendete Richard Wagner seine Komposition in sehr kurzer Zeit, nämlich bereits am 5. November 1841. Das in drei Akte geteilte (und heute auch so gespielte) Werk war ursprünglich an einem Stück gedacht. Dies erklärt auch, weshalb die Motive, die heute den ersten und zweiten Akt abschließen, sich so stark in den Prelüden des zweiten und dritten Akts wiederfinden. Oft heißt es, die Uraufführung des Werks sei aufgrund ihrer stark begrenzten Mittel ein Misserfolg gewesen. An allen vier Abenden hörte das Publikum jedoch, wenn nicht unbedingt aufmerksam, so doch verständnisvoll zu. Außerdem hat Richard Wagner dieser Oper seine Nominierung zum zweiten Kapellmeister der Stadt zu verdanken. Nach einigen Aufführungen in Riga und Kassel, anschließend in Berlin, wurde Der fliegende Holländer erst 1852 wieder in Zürich gespielt. Zu dieser Gelegenheit wurde die Partitur stellenweise überarbeitet. Unter den nachfolgenden Abänderungen ist die von 1860 wohl die einschneidendste: In etwa zwanzig Takten wird am Schluss das mit Senta verbundene Erlösungsthema erneut aufgegriffen. Diese Korrektur veranlasste Wagner dazu, auch seine Ouvertüre teilweise umzuschreiben. 1864 überarbeitete er schließlich Sentas Ballade, und auch später dachte er unentwegt über Verbesserungen nach; viele wurden jedoch nicht umgesetzt. In Frankreich kam das Werk 1893 erstmals in Lille auf die Bühne, 1896 dann in Rouen und 1897 – endlich – in Paris (allerdings nicht in der Großen Oper sondern in der Opéra-Comique). Damit entdeckte Frankreich erst mit großer Verspätung jenes Werk, das bereits auf zahlreichen europäischen Bühnen (und sogar in New York) aufgeführt worden war, 1856 zum Beispiel in Prag, 1860 in Wien, 1864 in München, dann in den 1870er Jahren in London, Stockholm Brüssel, Bologna…“
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Diese Ausführungen von Marc Minkowski stelle ich mal als den Beleg für die kümmerliche Information im (auch mehr als diskutabel ins Deutsche übersetzten) Booklet des neuen Fliegenden Holländers in der Erstfassung 1841 bei naive voran, der unter Minkowski in Grenoble zu Beginn seiner Tournee in Sachen Wagner/Dietsch im Rahmen des Projektes vom Palazetto Bru Zane durch Europas Großstädte 2013 eingespielt wurde. Die obigen Textpassagen stammen vom Dirigenten selbst, und das ist so gut wie alles, was man über die so oft reklamierte Erstfassung findet, denn auch in Alexandre Dratwickis sehr allgemeinem Aufsatz zum Werk und zum Komponisten wird wenig Informatives ausgebreitet – viel über Dresden 1843 und später, kaum was über Paris 1841. Wie gut, dass wir die Herren Pachl und Ziemen gebeten hatten, uns etwas zu dieser Fassung zu schreiben, zumal Pachl sich werk-ausgiebig an der Runnicles-Aufführung im Winter 2013 in Berlin orientierte und Ziemen eben diese Fassung in ebenfalls diesem Jahr in Gießen dirigierte – beides ist in Operalounge.de nachzulesen, eben die Details, die man sucht, wenn es sich um eine angeblich unbekannte Fassung handelt: Ouvertüre, Senta-Balladen-Tonart, Einakt-/Dreiaktfassung, Zwischenspiele/Übergänge (Prelüden in der Übersetzung genannt…), Finale. Auch nicht, dass eigentlich Berlin der Uraufführungsort sein sollte, was sich zerschlug, aber für die Akteinteilung wichtig war. Also beschränke ich mich auf eine Bewertung der Holländer-Aufnahme (und getrennt davon der beigefügten Oper von Dietsch, Le Vaisseau fantôme) selbst.
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Es ist wirklich keine gute Idee, die beiden Opern als ein Projekt in einem Kasten zu verpacken. Der Sammler wird nicht wissen, wo er sie abstellen soll, und die Koppelung tut keinem der beiden Werke Gerechtigkeit. Beide sind gültig für sich: Wagners Holländer wegen der Neuheit (wenngleich es natürlich die Erstfassung, wie auch immer modifiziert, bereits bei dhm unter Bruno Weill 2004 gab/BMG/DHM 82876 64071 2 77536 2); und Dietsch leidet unter der Verbindung zum berühmteren Wagner, weil auch er ein eigenständiges Werk geschrieben hat, das außer dem Sujet (der für ein paar beträchtliche Silberlinge vom Intendanten Pillet eingekauften Story) nicht viel gemeinsam hat. Pikant ist nur, dass Dietsch das Fiasko des Tannhäuser dirigierte, wofür er aber nichts konnte.
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Nun also der Fliegende Holländer in der Fassung von 1841 unter Marc Minkowski. Ganz ehrlich – nicht überzeugend, nicht sonderlich aufregend gesungen und auch vom Orchester, den eher im früheren Repertoire behafteten Musiciens du Louvre, nicht wirklich packend gespielt. Ein Vergleich mit anderen, „regulären“ Aufnahmen muss gestattet sein, und da sind von Keilberth bis Janowski doch manche spannender, onomatopoetischer, unmittelbarer. Ich finde die Original-Ouvertüre hier nicht wirklich elementar, die lettischen Chöre zahm und klanglich das Ganze auch nicht so weiträumig, wie ich das bei einer Neuaufnahme erwarten würde. Und im Vergleich mit dem Berliner Konzert Runnicles` (1841 Version, modifiziert) halte ich den Klangkörper der DOB für überzeugender.
Zumal auch nicht wirklich so toll gesungen wird. Evgeny Nikitin bleibt doch recht robust, weniger menschlich-differenziert mit seinem Holländer, und ich hätte erwartet, mit einem so an Details gewöhnten Dirigenten auch eine Hinwendung zur Gestaltung eben aus der Sicht von Weber oder Marschner zu erleben, wo ist sonst der Sinn, ein solches an Barockes gewöhntes Orchester zu verwenden? Ingela Brimberg war mir als Sängerin neu (ehemals Göteborg Oper), ich finde sie jugendlich-frisch, aber stimmlich/ausdrucksmäßig nicht wirklich besonders. Sie macht ihre Sache gut, aber man fände sie auch an einem Stadttheater (pardon), immerhin nähert sie sich einem Sopranideal einer französischen Koloratursängerin jener Zeit (etwa Julie Dorus-Gras), wie sie Dietsch verwendete. Eric Cuttler gibt einen hellstimmigen Donald mit einiger Präsenz. Mika Kares macht Papa Donald zu einem Mittelpunkt an Zuverlässigkeit, aber eigentlich sind es Bernard Richter und die immer noch wunderbare Helene Schneiderman (lange eingedeutscht in Stuttgart), die die idiomatische Ehre hochhalten und glänzen, die Schneiderman vor allem mit diesem schönen pastosen Ton, den ich immer an ihr geliebt habe.
Das ist alles sicher nicht der Jubel, den man bei einem so verdienstvollen Projekt der Gegenüberstellung zweier gleich-thematischer Opern erwarten würde, was mich auch grämt. Ich hatte mir mehr erhofft, zumal eben die Ausstattung des Beiheftes nicht wirklich ein Gewinn ist. Aber wir haben eine deutsche Libretto-Übersetzung der Dietsch-Oper, das ist schon mal was. Die Würdigung eben dieser Welt-Ersteinspielung erfolgt gesondert in Operalounge.de. Aber ich muss auch – widerwillig! – einräumen, dass die mit hohen Erwartungen avisierten Aufnahmen im Rahmen des Projektes des Palazetto Bru Zane zum Teil nur dünn gestrickt sind (je weiter es auf die Neuzeit zugeht), es fehlt einigen doch sehr an Glanz. Geerd Heinsen
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Richard Wagner: Der fliegende Holländer, Erstfassung 1841, mit Evgeny Nikitin/Holländer, Ingela Brimberg/Senta, Eric Cutter/Georg, Mika Kares/Steuermann, Helene Schneiderman/Mary; Eesti Filharmoonia Kammerkoor/Hell Jürgenson; Les Musiciens du Louvre; Dirigent Marc Minkowski; naive V5349 (gekoppelt mit Dietsch: Le vaisseau fantome, 4 CD)
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