Wahnsinn mit Marchesi-Kadenz

Die konzertante Aufführung von Donizettis Lucia di Lammermoor aus dem Münchner Gasteig im Juli 2013 mit Diana Damrau in der Titelrolle übertrug der BR auch im TV und es ist schade, dass  Erato nicht diese Video-Aufzeichnung als DVD herausgebracht hat, sondern nur den akustischen Mitschnitt des Abends auf zwei CD. Denn die Sopranistin ist stets ein Gesamtereignis, in ihrem mimischen und gestischen Ausdruck so beredt, dass sie mühelos den Rahmen einer Aufführung auf dem Konzertpodium vergessen machen, die Szene evozieren und suggerieren kann. Sie hat die Rolle in Bilbao, an der New Yorker Met, bei deren Gastspiel in Japan und auch an der Deutschen Oper Berlin gesungen, diese war eine wichtige Vorstufe für ihre Violetta, der inzwischen internationalen Erfolgspartie der Sängerin. Für die Lucia wiederum war die Linda di Chamounix am Gran Teatre del Liceu Barcelona mit Juan Diego Flórez im Dezember 2011 die perfekte Vorbereitung – ein Beispiel für die kluge Rollenwahl und Karriereplanung der Sopranistin, die in diesem Repertoire inzwischen international als die Vorzeigekünstlerin unter den deutschen Fachvertreterinnen gilt. Wer die Fernsehübertragung gesehen hat, wird diese Interpretation schwerlich vergessen und manch gestresste Spitzentöne vielleicht gar nicht wahrgenommen haben. Und wenn – dann empfand man sie als Aufschreie einer Seele in Not. Natürlich vermittelt auch die CD noch einen starken Eindruck von diesem singulären Ereignis, zumal der Damrau exquisite Partner zur Seite standen. Joseph Calleja ist ein schmachtender Edgardo, der sich mit einer sehr intensiven Auftrittsszene einführt, die den tragischen Ausgang der Geschichte schon ahnen lässt.

Auch Damrau ist in Lucias bangen, träumerisch-introvertierten Entgegnungen schon ganz in ihrer Rolle. Beider Stimmen mischen sich ideal, und man bedauert, dass Donizetti ihnen nicht noch ein zweites Duett geschrieben hat. Aber sie singen im Sextett des 2. Aufzuges mit überwältigender Emphase und existentieller Passion, dass sie diese Nummer ganz dominieren. Von ähnlicher Verve und erhitzter Stimmung ist das Duett Edgardo mit Lucias Bruder, Lord Enrico Ashton, im Turm von Wolferag erfüllt, in dem sich beide zum Duell am nächsten Morgen verabreden. Mit dem Bariton Ludovic Tézier ist dieser Gegenspieler glänzend besetzt. Er hat sich nach vielen Partien im angestammten französischen Repertoire seit einiger Zeit erfolgreich mit den dramatischen Rollen Verdis beschäftigt und dürfte darin derzeit konkurrenzlos sein. Auch diese Figur Donizettis profitiert von seiner energisch-virilen Tongebung, wie man sie schon im Auftritt  („Cruda, funesta smania“) vernehmen kann und auch im Duett mit Lucia im 2. Akt  („Soffriva nel pianto“) hört. Damrau gestaltet diese Szene bereits als Vorwegnahme des späteren Wahnsinns mit verhangen-somnambulen Tönen. Lucias Erzieher, Raimondo, hat mit Nicolas Testé einen soliden Interpreten, der Bass mit maskulin-körnigem Timbre singt auch das oft gestrichene Duett mit Lucia im 2. Akt  („Ah! cedi, cedi“), in welchem er sie zum Wohle de Familie Ashton zur Heirat mit dem ungeliebten Lord Arturo überredet. Diesen singt David Lee mit frischem Tenor, der besonders im Sextett des 2. Aktes zur Wirkung kommt. Testé überzeugt vor allem auch in seinem Auftritt vor der Wahnsinnsszene  („Dalle stanze“), in welchem er Lucias Sinneswandlung mit beschwörenden Tönen bekannt gibt. Als Alisa, Lucias Kammerdame, gibt es ein Wiederhören mit der einst im lyrischen Sopranfach international reüssierenden Marie McLaughlin, die nun Mezzopartien singt und hier mit reifem Ton eine mütterliche Vertraute der Lucia gibt.

Jesús López-Cobos, der 1975 die Edition des Urtextes der Partitur Donizettis besorgt und sie ein Jahr später in einer Einspielung mit Montserrat Caballé erstmals in neuer Zeit vorgestellt hat, findet mit dem Münchener Opernorchester die richtigen Farben für dieses romantische Schauerdrama, leitet Lucias Wahnsinnsszene gemeinsam mit Sascha Reckert an der Glasharmonika mit gespenstisch-fahlen Tönen ein und die Sopranistin nimmt exakt diese Stimmung auf, formuliert  „Il dolce suono“ mit bang-verhangenem Klang, findet für „Ardon gli incensi“ eine Vielzahl von Nuancen und Stimmungen – beklommen, weltentrückt, verzückt, ängstlich-verschreckt, ekstatisch. Und sie singt jene Kadenz, welche Mathilde Marchesi ihrer Schülerin Nellie Melba für eine Aufführung an der Covent Garden Opera 1888 geschrieben hatte. Bei aller staunenswerten Vituosität – es gibt durchaus Extremtöne, welche die Sängerin bis an ihre Grenze führen und dies auch deutlich hören lassen. Aber als fesselndes Gesamtporträt dürfte diese bedeutende Interpretation in die Geschichte eingehen. Das letzte Wort gehört Edgardo mit der Szene an den Gräbern seiner Ahnen, wo er mit der Nachricht von Lucias Tod konfrontiert wird und sich das Leben nimmt. Calleja singt das mit bewegenden, Schmerz erfüllten Tönen und meistert auch die heikle Tessitura dieser Nummer mit ihrem entrückt-verklärten Schluss beachtlich. Das Booklet verzichtet leider auf das Libretto, bringt aber einen informativen Einführungstext von Stephen Jay-Taylor und zwei Fotos vom Konzert, in dem Diana Damrau ein Atem beraubendes schwarzes Kleid trug. Ich habe sie nie in einer spektakuläreren Robe gesehen. (Gaetano Donizetti: Lucia di Lammermoor (Damrau, Calleja, Tézier, Testé, McLaughlin, Lee; Münchener Opernchor, Münchener Opernorchester, Jesús López-Cobos) Erato 0825646219018).

Bernd Hoppe

 

Und dazu auch die Sängerin selbst:  As a soprano describing the legacy and huge debt owed to Maria Callas, it is near-impossible to avoid those often-stated clichés; impossible to avoid because every one of them is true. I first heard Callas as Rosina in a recording of Il Barbiere di Siviglia and was entranced by her employment of vocal coloration to portray the lightning-quick changes of mood and temperament that characterise Rosina. Her coquettish yet defiant ‚ma‘ in the aria Una voce poco fa is one of many examples of this. She was able to invest so much meaning into such a tiny, little word.

Like countless others, I too marveled at the video recording of Tosca with Tito Gobbi as her Scarpia; a masterclass in how minimal gesture and movement could be used to such a thrillingly powerful effect. Rather than the semaphoric, baroque acting so ubiquitous at the time, her physicalisation was so very internal and really drew the audience’s eye to her portrayal of Floria Tosca’s plight. The fact this performance still stands as a benchmark in our time demonstrates just how ahead of her own time Callas was.

One catches a glimpse of her magisterial, magnetic presence in those few performances captured forever on film. It is impossible to take your eyes off her from the moment the camera is on her as she radiates that ‚diva‘ aura, a fascinating, untouchable, unattainable personification of the divine, all united in her deeply felt incarnation of the energy of the interpreted situation and music.

Having recently performed the title role in Verdi’s La Traviata a great deal, indeed on many of the same stages Callas herself performed the piece, I have become particularly attached to her Violetta. One can hear the subtext she invests into the piece in her phrasing, pauses and rhythmic choices. Such instincts even enable her to portray an emotional weakness in the first act; this is particularly hard to do given the overt bravura of a great deal of the vocal writing. Nevertheless, it is all there. The vulnerability, the need to be loved and protected so intrinsic to Violetta.

As fans and performers, we are so, so lucky to have her recordings, but for me there will always be question marks and ‚what-ifs‘ as well. I long to hear how she would have played the fury and fire of both Tudor Elizabeths; Donizetti’s Roberto Devereux would have no doubt been seminal in its intensity and virtuosity, and one can only wish that the planned debut of the title role in Britten’sGloriana at La Scala would have gone ahead. Her naturally commanding vocal authority and stage presence would have suited both of these parts magnificently.

As both a Brünhilde and Amina, Maria Callas was indeed one-of-a-kind and will continue to be a shining beacon to everyone from the casual opera fan to prima donna for her authenticity, stage-craft and musicianship.(Warner)

 

 

  1. Philipp Schwarz

    Allein die Tatsache, dass man diesen „LIVE-Mitschnitt“ aus 4 verschiedenen Aufführungen zwischen dem 1. und 10. Juli 2013 zusammenstückeln musste, macht mich extrem stutzig – umso mehr, weil das Ergebnis trotz dieser Flickschusterei alles andere als einwandfrei ist. Positiv muss angemerkt werden, dass der Dirigent, der Münchener Opernchor und das Münchener Opernorchester einen tadellosen Job machen. López-Cobos lässt eine weitestgehend strichlose Fassung spielen, was dem Werk immer zuträglich ist. Es sind sogar ein paar Takte enthalten, die Donizetti gar nicht für diese Oper komponiert hat, sondern für ein ganz anderes, inzwischen völlig vergessenes Werk (Schlusstakte aus Lucias Arie, 1. Akt). Zu den besseren Leistungen dieser Aufführungsserie gehören der Edgardo von Joseph Calleja (mit unendlich viel Schmelz gesungen, aber auch nicht frei von kleinen Mogeleien) und der Raimondo von Nicolas Testé (ein bisschen hölzern, aber eigentlich grundsolide). Auch die kleineren männlichen Partien Arturo und Normanno sind rollendeckend besetzt. Alisa klingt sehr bemüht, mit wechselndem Erfolg, im 1. Akt noch ok, im 2. Akt mehr gewollt als gelungen. Mit der stimmlichen Interpretation des Ludovic Tézier als Enrico bin ich schon nicht mehr einverstanden. Dieser Stimme fehlt jeglicher Schmelz, Italianitá, Agilität, Modulationsfähigkeit. Der Klang ist knochentrocken und spröde. Verzierungen versucht der Sänger mithilfe von Aspirierungen zu bewältigen – vergeblich… Das Ergebnis klingt sperrig und ungelenk. Das Duett zwischen Edgardo und Enrico zu Beginn des 3. Aktes wirkt wie eine Lehrstunde des Tenors in Sachen Belcanto und Stimmtechnik. Leider ist der Schüler ziemlich resistent… Über die Leistung von Diana Damrau in der Titelrolle möchte ich mich nicht äußern, weil es darüber nichts Lobendes zu sagen gibt. Insgesamt halte ich diese Aufnahme für völlig überflüssig und für den Tonträgermarkt denkbar ungeeignet, weil sie keinen einzigen neuen Aspekt enthält im Vergleich zu den zahllosen bereits erhältlichen Aufnahmen, von denen fast jede empfehlenswerter ist als diese aus München.

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