Wer gern und genau Schubert hört, kennt das Wort flispern. Im Lied „Der Jüngling an der Quelle“ wallen und flispern die Pappeln am Quell. Der Text stammt von Johann Gaudenz von Salis-Seewis, nicht Gaumens, wie es irrtümlich im Booklet der CD Drang in die Ferne mit dem Tenor Benedikt Kristjánsson heißt, die bei Genuin erschienen ist (GEN 19645). Dichter war Gaudenz nur im zweiten Beruf. Bis zur französischen Revolution diente er als Offizier der Schweizer Garde in Paris, bereiste danach die Niederlande und Deutschland, wo er in Weimar auch auf Goethe und Schiller traf. 1793 kehrte er in seine Heimat, die Schweiz, zurück, hatte dort bis 1817 in verschiedenen Funktionen und Ämtern Anteil an den teils dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen und lebte bis zu seinem Tod 1834 zurückgezogen. Noch heute ist er in der Schweiz als Dichtergeneral bekannt. Schubert hat sich für etliche Lieder bei ihm bedient und auf diese Weise dafür gesorgt, dass das schöne Wort flispern nicht gänzlich dem Vergessen anheimfällt. Suchmaschinen im Netz führen zu flippern – was sonst? Und auch dann noch, wenn das Wort endlich in der Liste erscheint, wird die Frage wiederholt ob nicht doch flippern gemeint sei. In der Standardausgabe des Dudens ist flispern nicht zu finden. Es müssen schon einschlägige wissenschaftliche Nachschlagewerke, die sich inzwischen auch im Internet etabliert haben, herangezogen werden. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) führt flispern als eine im 19. Jahrhundert verortete Anlautsvariante zu „älteren lautmalenden Bildungen“ wie wispeln oder wispern. Aus seiner Zeit heraus hat der Dichter das Wort mit Bedacht gewählt, denn es bezeichnet sehr genau Empfinden und Wahrnehmung des Jünglings, der am Quell Linderung sucht, um die Spröde zu vergessen und nun durch das Schlummergeräusch der „flispernden Pappeln“ die ihn quälende Liebe aufgeweckt findet.
Kunstlieder bewahren Schönheiten und historische Eigenwilligkeiten von Sprache, regen dazu an, sich eigenen etymologischen Studien hinzugeben. Dabei kann der Vortragende zum Mittler werden. Kristjánsson ist so einer. Bei ihm darf man sicher sein, dass er weiß, was er singt. Er hat bei Meisterkursen den Rat bedeutender Liedersängern wie Peter Schreier, Christa Ludwig, Elly Ameling oder Robert Holl eingeholt und ist im Umgang mit der Sprache Luthers in den großen Bach-Passionen geübt. Eine seiner Stärken ist die Deutlichkeit nach Buchstaben und Inhalt. Beim Singen spürt er dem Sinn der Wörter nach – und vermittelt ihn auch. Flispern ist da ein treffliches Beispiel. Die erste CD des aus Island stammenden Tenors folgt einem Programm. Sein Titel ist schon gefallen: Drang in die Ferne. Lieder von Franz Schubert werden in der Abfolge mit Volksliedern aus der isländischen Heimat des jungen Sängers verknüpft – mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass Gemeinsamkeiten deutlich werden. Schubert klingt nach Volkslied, Volkslied nach Schubert. Dazu Kristjánsson im Booklet: „Dafür habe ich Lieder gesucht, die sowohl inhaltlich als auch melodisch zusammenpassen, und ich habe die Tonart des Volkslieds dem jeweils darauffolgenden Schubert-Lied angepasst.“ Das Programm sei „wie ein Liederzyklus angelegt: zwei Sprachen, zwei unterschiedliche Gesangsstile, aber immer dieselben Geschichten von Sehnsucht, Liebe, Leid und Naturreichtum“. Am Anfang steht denn auch ein isländisches Lied über die schönen und die lebensbedrohlichen Seiten der Fjorde. Es wird bis auf einen Titel ohne Begleitung gesungen. Bei Schubert sitzt Alexander Schmalcz am Klavier, im Lied „Auf dem Strom“ und in einem weiteren Volkslied kommt der Hornist Tillmann Höfs hinzu und mit ihm ein Instrument, das wie kein zweites für das Thema der CD steht.
Eine der Stärken von Kristjánsson ist es, aus dem Stand den Ton zu treffen. Er muss nicht erst hinein finden in ein Stück, er ist immer gleich mittendrin. Es scheint als würde er mit seinem vibratoarmen Tenor Linien wie mit einem feinen Stift auf weißen Untergrund zeichnen. Das ist nicht jedermanns Sache. Wer aber solche Stimme schätzt, wird als Zuhörer reich belohnt. Seine Atemtechnik ist perfekt und gestattet ihm große Spielräume beim Legato. Es macht großen Eindruck, wie er musikalisch miteinander verbindet, was auch inhaltlich zusammengehört. Legato wird so immer auch zum Ausdrucksmittel. Die Stimme klingt jungenhaft. Manchmal zart und verträumt wie in „Dass sie hier gewesen“ dann wieder entschlossen und nahezu draufgängerisch wie im „Schiffer“. Es hat viel für sich, wenn Lieder aus der Perspektive eines Betroffenen vorgetragen werden. Der Drang in die Ferne nimmt mit dem Alter ab. Gespannt auf das Ganze machen zwei Lieder aus der Schönen Müllerin: „Der Neugierige“ und „Die böse Farbe“, während „Die Erstarrung“ aus der Winterreise wie eine Warnung erscheint, sich ja nicht zu früh auf die Herkulesaufgabe einzulassen, die sich mit diesem Zyklus stellt. Dafür sollte sich Benedikt Kristjánsson noch Zeit lassen. Rüdiger Winter